"Heutzutage kann ein Prinz seine Position nur durch seinen Charakter behaupten. Hochmut ist höchst gefährlich. Und außerdem bin ich fest davon überzeugt, daß wir vor Gott alle gleich sind und daß - ehe man es sich versieht - der Höchste sich zu Füßen der Ärmsten und Niedrigsten wiederfindet."17 Wilhelm sollte selbst erkennen, daß Anstand nicht an Besitz geknüpft sei. Dazu mußte er eine innere Reife gewinnen, die es ihm erlaubte, über Standesgrenzen hinwegzusehen: auf eine neue Qualität von Verantwortung, die sich durch Bescheidenheit und Wohltätigkeit auszeichnen sollte. Queen Victorias Befürchtung sollte sich jedoch bewahrheiten. Kurz vor der Reichsgründung äußerte der Kronprinz gegenüber seiner Frau den Verdacht, daß ihr knapp zwölfjähriger Sohn in dem Bewußtsein, Thronerbe zu sein, den nötigen Ehrgeiz vermissen lasse: "Ich fürchte immer, der 'Prinz' steckt tiefer in ihm als wir es glauben, u[nd] möchte ich wohl wissen, ob die Kaisersache ihm nicht auch schon im Kopf spukt."18 Um Wilhelms Hang zur Selbstüberschätzung entgegenzuwirken, entschieden sich Hinzpeter und Victoria für zwei Vorhaben, die nur außerhalb des Hofes gelingen konnten. So konfrontierte Hinzpeter seinen Zögling wiederholt mit der Bedürftigkeit anderer. Im osthessischen Städtchen Schlitz im August 1876 spürte er in Wilhelm eine Veränderung, nachdem dieser mit eigenen Augen gesehen hatte, wie sehr sich seine Wahrnehmung von der Welt vom gewöhnlichen Leben unterschied. Hinzpeter schilderte den gemeinsamen Besuch bei den Armen in der Stadt: "Der Zweck ... für den Prinzen war ein Prozeß wie der der Stahlfabrikation, ein plötzlicher Uebergang aus der Glühhitze in Eiskälte. ... An dem Sonntag Nachmittag war der junge Mensch am Ende zu einem Gefühl der Behaglichkeit gekommen, wie er es wohl nie zuvor gefühlt. ... Aus dieser Atmosphäre äußersten Wohlbehagens und wirklichen Genusses konnte ich ihn unmittelbar in das Loch der Weißheit [sic] versetzen mit dem schwarzen lumpendekorirten Maurer, der klagenden Frau und dem unehelichen Enkel. Der Prinz ist schwerlich je so ergriffen gewesen wie in Schlitz."19 Obwohl Hinzpeters Maßnahme auf Selbsterkenntnis zielte, während Queen Victoria soziales Engagement forderte, schien der Wunsch der Großmutter, Gerechtigkeitsempfinden bei Wilhelm zu wecken, befriedigt zu sein: "Im Ausland hält man zu wenig ... auf Freundschaft und Güte den einfachen Menschen gegenüber, doch ich war erfreut zu sehen, daß Willy sich anders verhalten hat."20 Um diesen Erfolg auszubauen, machte Hinzpeter einen Vorschlag, den er ohne Kronprinzessin Victorias tatkräftige Unterstützung nicht hätte realisieren können. Wilhelm besuchte als erster preußischer Prinz von Oktober 1874 bis Januar 1877 eine öffentliche Schule, die zudem - fern von Berlin - in Kassel lag. Dieselbe Ausbildung zu erhalten wie nichtadelige Altersgenossen stellte eine echte Chance dar, in dem 15jährigen Prinzen Sinn für die Realität zu wecken.
![]()