Wilhelm mußte - wenn auch mit einigen Ausnahmen21 - die Regeln des Wettbewerbs anerkennen, mit Gleichaltrigen die Schulbank drücken und dieselben Leistungsnachweise erbringen. Dem Vorsatz der Gleichbehandlung wurde allseits Beachtung geschenkt. Der deutsche Sekretär Queen Victorias, Hermann Sahl, meldete im Mai 1876 an den Tutor der Söhne des Prince of Wales Erstaunliches: "Er [Wilhelm] bereitet sich auf genau die gleiche Weise auf die Universität vor wie jeder junge Mann in Deutschland; er besucht in allen Fächern den Unterricht am Königlichen Gymnasium in Kassel."22 Sahls Verwunderung ist verständlich, soll es doch noch 120 Jahre dauern, bis der heutige Prince William nach seinem Vater erst als zweiter künftiger König Großbritanniens an einer "offenen" Lehranstalt ausgebildet wird. Die allgemeine Zugänglichkeit zum renommierten Eton College wird allerdings dadurch eingeschränkt, daß sie zu den teuersten Public Schools des Landes zählt. Darmstadt: Öffnung nach außenEin Blick nach Hessen-Darmstadt zeigt, daß sich hier einige Facetten des englischen Einflusses wiederfinden, andere indes über das bereits bekannte Maß hinausgehen. Prinzessin Alice kümmerte sich intensiv um die Erziehung ihrer sieben Kinder, und der einzige Sohn Ernst Ludwig - 1873 war sein Bruder Fritz unter tragischen Umständen gestorben - hatte ein besonders enges Verhältnis zu seiner Mutter. Er erwähnt in seiner Autobiographie Erinnertes zu Beginn der 30er Jahre, daß sie immer wieder neue Ideen gehabt habe, um ihre Kinder "zu kultivieren".23 Doch Ernst Ludwigs gesamte Entwicklung war bestimmt durch Queen Victorias Forderung nach Bescheidenheit. Hierin sah auch Alice ihre Hauptaufgabe. Im Juni 1871 berichtete sie nach England: "Ich erziehe meine Kinder einfach und mit so wenigen Bedürfnissen, als ich es irgendwie vermag."24 Alice hoffte nicht nur auf die Unabhängigkeit ihres Sohnes, zu der ebenso eine gute Menschenkenntnis gehörte, sondern auch auf Toleranz und Güte. Er sollte ein Vorbild für andere sein. Früher noch als sein Cousin Wilhelm mußte Ernst Ludwig lernen, Verzicht zu üben und mit anderen zu teilen; so zum Beispiel an Weihnachten 1872: Die kleine Prinzengesellschaft mußte einen Teil ihrer Geschenke an die Kinder der Diener abgeben.25 Überhaupt hinterließ Alices liberaler Umgang mit nichthoffähigen Leuten bei Ernst Ludwig einen starken Eindruck. Er schrieb rückblickend: Sie traf sich mit "Musiker[n], Künstler[n], Professoren, Ärzte[n] und Frauen von jeder Gattung und Stand, denn für sie gab es keine Grenzen, und ich durfte sehr oft dabei sein."26 Später sollte Ernst Ludwig versuchen, es seiner Mutter gleichzutun, allerdings blieben seine Kontakte zunächst noch auf die gutsituierte Gesellschaft einer Universitätsstadt begrenzt. Während seiner Studienzeit in Leipzig 1889/90 hatte der Prinz Umgang mit den unterschiedlichsten Kreisen, zum Beispiel Kaufleuten, Militärs, Professoren und Theaterkünstlern. Auf der Großherzoglich-Hessischen-Universität in Gießen blieb Ernst Ludwig dann erst recht der vom studentischen Leben distanzierte Erbgroßherzog.27