Tatsächlich wurde Queen Victoria für Ernst Ludwig eine wichtige Ansprechpartnerin. Er weihte seine Großmutter in seine Pläne ein, weil sie ihn ernst nahm und er ihren Rat schätzte.35 Doch die englische Königin war natürlich zu weit entfernt, als daß sie eine wirkliche Mutter hätte ersetzen können, und ihre Autorität wirkte wohl meistens nur für kurze Zeit. Daher pflegte sie mit Ernies ältester Schwester Victoria (1863-1950), die, weil der Vater kaum die nötige Zeit für seine Kinder fand, die tägliche Erziehungsarbeit leistete, intensiven Briefkontakt. In ihm spielt die Sorge um die zögerliche Entwicklung des Prinzen eine große Rolle. Queen Victoria erhoffte sich von ihrer Enkelin eine Unterstützung vor Ort, die korrigierend auf den Bruder einwirken konnte. Als Ernst Ludwig knapp 13 Jahre alt war, sprach seine Großmutter mit ihrem Hinweis auf die vielfältigen Ablenkungen des Hoflebens ein wesentliches Problem der Prinzenerziehung an: "Ich muß sagen, Ernies g[roße] Geistesabwesenheit, Unaufmerksamkeit & Zurückgebliebensein werden kritisch im Hinblick auf seine Position & sein Alter." Queen Victoria hatte bereits eine Lösung parat. Ernst Ludwig solle für ein Vierteljahr mit seinem Erzieher an einen ruhigeren Ort gehen, wo er konzentriert arbeiten könne. Und dann ging sie nach der üblichen Methode vor und wandte sich an ihre Enkelin. Diese sollte mit Muther und dem Großherzog sprechen und beide zu einer schnellen Entscheidung bewegen. Victoria versäumte auch nicht, ihrem Bruder den Brief aus England zu zeigen, und berichtete über dessen Wirksamkeit: Ernie "hat versprochen, sich zu bemühen & aufmerksamer & sorgfältiger zu sein".36 Dennoch kritisierte Queen Victoria auch weiterhin unnachgiebig seine mangelnde Zielstrebigkeit. Die Worte, die sie Ernst Ludwig jedes Jahr zum Geburtstag schrieb, sind fast stereotyp: Sei gehorsam und aufrichtig gegenüber deinem Vater und deiner Großmutter, folge deinem Erzieher und denke an deine Mutter. Glaube an Gott und widerstehe dem Teufel.37Andererseits konnte Queen Victoria einen gewissen Stolz über ihren heranwachsenden Enkel nicht verhehlen, wie im September 1885 über den inzwischen beinahe 17jährigen Sekondeleutnant: Ernie sei ein so lieber Junge, und auch wenn er äußerst sensibel sei, könne er sich seinem Vater als große Hilfe erweisen.38 Das Hauptaugenmerk der deutsch-englischen Prinzenerziehung richtete sich auf den Versuch der beiden englischen Prinzessinnen Victoria und Alice, ihren Söhnen eine neue Sichtweise der Welt zu verschaffen. Wilhelm von Preußen und Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein sollten über die Standes- und Landesgrenzen hinwegsehen und bisher ungeahnte geistige Ressourcen freisetzen. Hierfür besuchte Wilhelm ein neuhumanistisches Gymnasium im fernen Kassel. Ernst Ludwigs Lehrplan richtete sich nach dem Realgymnasium, und seine Lehrer kamen von einer öffentlichen Schule.39 Beide sollten ihre neuen Möglichkeiten nutzen und sich zu progressiv denkenden Regenten entwickeln.