OBERFLACHT: ZWISCHEN WALHALL UND PARADIES
 
Zwischen Walhall und Paradies
Als Columban und seine Schüler um 600 rechts des Rheins missionierten, trafen sie jedenfalls allenthalben auf ein, wenn auch verderbtes Christentum. Im 7. Jahrhundert sind archäologische Zeugnisse des Christentums ungleich häufiger als heidnische: An den Rändern von Reihengräberfeldern finden sich Spuren von Kapellen und Kirchen, beigabenführende Gräber werden innerhalb oder bei grundherrlichen Kirchenbauten angetroffen. Kreuze, Christusdarstellungen, Reiterheilige und Psalmenverse fanden Eingang in den Ornamentkanon von Schmuck und Zierbeschlägen. Heidnisch-germanisches ist im allgemeinen Totenbrauchtum und in den Rechtstraditionen spürbar, deren älteste Redaktion mit dem "pactus Alamannorum" in die Zeit um 620 datiert. Dabei ist aber das Totenbrauchtum in Abhängigkeit von den Rechtsnormen zu sehen Der heidnische Ursprung der Bestattungssitten war den Zeitgenossen wahrscheinlich nicht mehr bewusst, denn anders hätten die Reihengräberfriedhöfe nicht bis in die Zeit um 700 überdauert. Im Regelbefund haben sich von den Bestattungen des frühen Mittelalters nur die Knochen, Waffen, Trachtzubehör und sonstige Beigaben aus anorganischem Material erhalten, die nur dürftiges Spiegelbild ehemals vorhandener Sachkultur sind. Die Aufwendigkeit der Bestattungen und die Fürsorge, die den Verstorbenen entgegengebracht wurde, sind nur in seltenen Ausnahmefällen zu dokumentieren.
 
Die Alamannen und das Christentum
 


  Dies gilt insbesondere für den Friedhof von Oberflacht im Landkreis Tuttlingen (Baden-Württemberg). Geologische Besonderheiten - die Gräber waren in anmoorigen Boden eingetieft - hatten für einen ungewöhnlich guten Erhaltungszustand aller organischer Grabbestandteile, vor allem der Hölzer, gesorgt. Leider ist der Reihengräberfriedhof erstmals bereits 1809 angegraben worden und war von da an immer wieder Ziel mehr oder weniger fachmännischer Untersuchungen. Am bekanntesten sind die 1846 von H. von Dürrich und W. Menzel durchgeführten Ausgrabungen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen über das Totenbrauchtum wurden berühmt.
Der Friedhof von Oberflacht
 

 

  Am bekanntesten ist die Beschreibung von Grab 31, dem sogenannten "Sängergrab": Die lange rechteckige Grabkammer aus gezimmerten Eichenbohlen enthielt einen aufwendig verzierten Baumsarg und am Fußende einen Holzschrein; längs der südlichen Kammerwand war eine Lanze niedergelegt. Im Sarg, einem längs durchgesägten, trogartig ausgehöhlten Eichenstamm mit einem aus dem Deckel plastisch herausgeschnitzten, doppelköpfigen Schlangentier und längsprofilierten Außenwänden, über einem eingenuteten Bodenbrett lag, auf einer Bettung von Laub- und Blütenresten, das Skelett eines jüngeren Mannes. In der rechten Armbeuge hielt er das zweischneidige Langschwert in hölzerner, bastverstärkter Scheide und eine sechssaitige Leier. Im Becken fanden sich Gürtelteile und das einschneidige Hiebschwert mit komplizierter Tragevorrichtung. Der Holzschrein mit gedrechselten und verzapften Verstrebungen enthielt in drei Fächern das Kopfgestell eines Pferdezaums mit Knebeltrense und silber- tauschierten Eisenbeschlägen, ein bronzenes Waschbecken und im dritten Fach einen gedrechselten hölzernen Kerzenleuchter, einen Holzteller, einen Schuhleisten sowie ein Spiel- oder Rechenbrett. Unter normalen Erhaltungsbedingungen wären vom Grab das Skelett, die Lanzenspitze, Schwert und Sax, Gürtelschnalle, Bronzebecken und Zaumzeugbeschläge übrig geblieben. Auf die aufwendige Grabarchitektur, das Mobiliar und die Leier hätte nichts schließen lassen.
Das Sängergrab
 

  Man muss davon ausgehen, dass alle besser ausgestatteten Reihengräber - und darauf weisen Befunde an verschiedenen anderen Orten hin - eine ähnlich komplexe Grabarchitektur hatten wie das durch die Altersbestimmung der Baumringe (Dendrochronologie) von originalen Holzteilen auf die Jahre um 610 datierte Sängergrab von Oberflacht. Die Beigabe und damit Wertschätzung des Musikinstrumentes, das Pferdegeschirr, die Waffen, Mobiliar und Gebrauchsgegenstände lassen eine frühe "ritterlich-reiterliche" Lebensweise erahnen und verdichten sich zu Bildern, wie sie - mehrmals literarisch gebrochen - in den germanischen Heldenepen überliefert sind. Zugleich dokumentieren sich in den Befunden von Oberflacht als Ausdruck eines komplexen Jenseitsdenkens ein aufwendiges, auf das Individuum bezogenes Totenbrauchtum sowie die Symbiose von heidnischen und christlichen Traditionen. Das doppelköpfige Schlangentier über dem Sarg des Toten hat in der germanischen Mythologie eine schützende, unheilabwehrende Bedeutung, wobei im Grabinventar auch nichts augenscheinlich Christliches zu finden ist. Daraus darf man aber nicht ableiten, dass der jung verstorbene Sänger noch Heide gewesen sei. Das zeigt der Befund in einem anderen Baumsarg, ebenfalls aus Oberflacht.
Totenbrauchtum der Alamannen
 



  Das Germanische Nationalmuseum, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ideelles Zentrum deutscher Kultur- und Kunstbewahrung, erhielt vor 1860 zwei Baumsärge (FG 680 und FG 679-80) aus Oberflacht - aus welchen Grabzusammenhängen ist unbekannt - zum Geschenk. Beide Särge sind aus jeweils einem Eichenstamm hergerichtet. Die mit dem Unterteil verzapften Deckel werden auf der ganzen Länge von einer aus dem Vollen grob herausgehauenen doppelköpfigen Schlange gekrönt. Die Särge waren über 100 Jahre im Nürnberger Museum frei aufgestellt, bis der zuständige Konservator die Sargtröge von vermeintlichem Unrat säubern wollte. Glücklicherweise ließ er die Erdbröckchen und Obstkerne - Silberpapier und Zellophan konnten bedenkenlos sofort eliminiert werden - in den Spezialwerkstätten des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass die Obstkerne von Apfel- und Kirschsorten stammen, die seit Jahrhunderten nicht mehr gezogen werden, und es sich um Reste der originalen Speisebeigaben aus der Zeit um 600 handelt. Die größte Überraschung war aber ein kleines gleichschenkliges Textilkreuz, das aus einem steinharten Erdklumpen herauspräpariert werden konnte. Es besteht aus zwei Streifen einstmals mehrfarbig ornamentierter Seide, deren Schnittkanten nach hinten umgenäht sind.
Das Seidenkreuz aus dem Baumsarg von Oberflacht ist das bisher einzige erhaltene Textilkreuz aus einem alamannischen Grab. Es wird dieselbe Funktion gehabt haben wie die sogenannten Goldblattkreuze, die häufig in den langobardischen Gräbern Italiens zu finden sind und im 7. Jahrhundert auch Eingang in das Totenbrauchtum der Alamannen und Bajuwaren gefunden haben. Als eindeutiges Zeichen des Christentums waren sie Schweißtüchern aufgenäht, die den Mund der Toten verschlossen. Die aus papierdünnem Goldblech herausgeschnittenen, häufig mit Tiergeflechten und vegetabilischen Ornamenten verzierten oder einfach aus zwei Goldblechstreifen zusammengesetzten Funeralkreuze sind in den Gräbern erhalten geblieben. Der Fund von Oberflacht verdeutlicht, mit welcher Dunkelziffer die Archäologie in der Bewertung religionsgeschichtlicher Zeugnisse zu rechnen hat, da von Textilien in der Regel nichts im Boden übrig bleibt. Symptomatisch ist, dass das eindeutig christliche Seidenkreuz in einem von einer doppelköpfigen Schlange gleichsam geschützten Sarg gefunden wurde, so als ob das Heil des Toten nach zwei Seiten abgesichert werden sollte. Der Synkretismus scheint typisch für die germanische Welt am Übergang von der Antike zum Mittelelter und ist durch Jenseitsvorstellungen "Zwischen Walhall und Paradies" geprägt.
Zwei Baumsärge aus Oberflacht
 

 


Baumsarg mit
geschnitzter doppel-
köpfiger Schlange




Baumsarg mit
geschnitzter doppel-
köpfiger Schlange
und Resten eines
Seidenkreuzes


   
 
Wilfried Menghin
 
Literaturangaben
                         
 
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