(Um-)Deutung des Werkes nach 1945

Im Jahr 1979 sagte Radziwill in einem Radio-Feature über sein "Grab im Niemandsland": "Da liegt ein Stahlhelm auf einem Grab, das im Niemandsland ist, und vor diesem Grab läuft eine Ratte dahin. Das ist sicher der Realismus des Krieges, aber nicht das, was die Nazis gebrauchen konnten (hervorgehoben von K. A.). Da wird ja nicht heldenhaft gestürmt und der Riemen kürzer gebunden, sondern hier war dieses letzte und grausamste Schweigen, das es gibt im Krieg, wenn mal nicht geschossen wurde, aber die Ratten liefen."109

Auf das Unwissen der Nachgeborenen oder ganz allgemein auf das Vergessen setzend, gab Radziwill der Ratte nun eine kritische Bedeutung. Sie wird zum Symbol der inhumanen Zustände an der Westfront in den Jahren 1914-1918. Er führte sie als Beleg dafür an, daß das Gemälde als ein kritisches, mit der nationalsozialistischen Ideologie nicht konformes Kriegsbild angelegt gewesen war.

Die Beschreibung, es sei das "letzte und grausamste Schweigen" dargestellt, stammt von seinem Freund Niemeyer, der 1955 anläßlich des 60. Geburtstages des Malers schrieb: "Das ›Soldatengrab‹ schweigt als dunkelste Menschenverlorenheit."110 Mit diesen Worten verschleierte der Dichter die ursprüngliche künstlerische und politische Absicht des Bildes. Es wurde nun zu einer allgemeinen Klage um die deutschen Gefallenen beider Weltkriege und das "Schicksal" der deutschen Nation umgebogen.

Radziwill hat nach dem Krieg Übermalungen im Bereich des Himmels vorgenommen und jene merkwürdigen, nicht eindeutigen Gebilde eingefügt. Durch den Vergleich des heutigen Zustandes des Bildes mit dem auf alten Glasnegativen festgehaltenen konnten die Veränderungen bestätigt werden.111 Solche Reuezüge sind in Radziwills Werk nichts Einmaliges: Dutzende solcher Überarbeitungen konnten nachgewiesen werden. In einigen Fällen, etwa in dem für Radziwills Verhältnis zum Nationalsozialismus zentralen Werk "Revolution / Im Lichte der Staatsideen, oder der Eine bringt den Anderen um, heute: Dämonen" (1932), ging es dem Künstler zweifellos um eine Kaschierung seiner künstlerischen und politischen Intention durch die tiefgreifende inhaltliche Veränderung. Aus dem Bild "Revolution", das als Heldengedenkbild für die ums Leben gekommenen nationalsozialistischen "SA-Kämpfer" angelegt war und einen auf der Straße liegenden toten SA-Mann darstellte, wurde durch die weitreichenden Übermalungen ein Bild mit völlig entgegengesetzter Tendenz. Durch Einfügung von Worten und ganzen Sätzen und von einem weiteren Toten scheint das Bild heute ein Plädoyer zu sein gegen jede Form extremistischer Politik von links und rechts, wie sie am Ende der Weimarer Republik an der Tagesordnung war.112 Diese Veränderungen sind so geschickt durchgeführt, daß sie der Betrachter mit bloßem Auge nicht erkennt. Das hatte zur Folge, daß Ausstellungsmacher der Gedenkstätte Konzentrationslager "Oranienburg" das Gemälde noch 1994 als Beispiel für den künstlerischen Widerstand im "Dritten Reich" präsentieren wollten. Veranlaßt durch den Hinweis des Leiters des Radziwill-Hauses in Dangast, Claus Peukert, auf die Forschungsergebnisse von Van Dyke und auf den Umstand, daß das Bild keineswegs so gedeutet werden könne, sondern ursprünglich in einem pronationalsozialistischen Kontext gestanden habe, veränderten die Ausstellungsmacher ihr Konzept.

Nicht in allen Fällen kommt den Übermalungen in Radziwills Œuvre eine so große Bedeutung zu, doch müssen sie bei der Interpretation insbesondere seiner zwischen 1933 und 1945 entstandenen Bilder immer mitbedacht werden.

Die Übermalungen im "Grab im Niemandsland" andererseits haben das Bild in seiner künstlerischen und politischen Absicht nicht wesentlich verändert. Sie können aber als Zeichen einer erstarkenden Religiösität des Künstlers nach dem Weltkrieg gedeutet werden. Radziwill versuchte, die Welt und ihre Erscheinungen als metaphysisch, als Ausdruck göttlichen Waltens zu verstehen. Die unbegreifliche Dimension der Zerstörung und Vernichtung konnte er, wie schon im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, auch dieses Mal nur durch christliche Sinngebung bewältigen. Das Christentum bot eine Fluchtburg vor der eigenen Schuld, indem der Krieg, die Apokalypse, als göttliche Prüfung einer sündig gewordenen Menschheit erklärt wurde. Die von Radziwill nach 1945 zunehmend thematisierte Dualität zwischen Technik und Zivilisation, die als Entfremdungserscheinung, als Krisensymptom einer "kranken" Gesellschaft angesehen wird, verlagert die Ursachenforschung für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen hin zu einer allgemeinen Diagnose der rationalen, ungläubigen, entmystifizierten Welt, die gerade an ihrem Mangel an Mystik krankt und zu einem Opfer ihres "Vernunftwahns", ihrer Ratio geworden ist. Radziwill ließ daher in seinen Nachkriegsbildern, wie zum Beispiel in dem 1947 gemalten "Aus dem Lande der Deutschen" 113 zunehmend spirituelle Elemente einfließen, die in einer Welt der Hoffnungslosigkeit, der gescheiterten westlichen Zivilisation, wieder einen Lichtstreif am Horizont spenden. Die nicht eindeutigen Himmelserscheinungen im "Grab im Niemandsland" können somit als Zeichen einer unerklärlichen Welt angesehen werden. Krieg wird letztlich als ein unausdeutbares metaphysisches Phänomen gewertet.