Entstehungsgeschichte

Josef Weiß: Kreig und Frieden, Entwurf für einen Altar, Abb.4

Das "Grab im Niemandsland" entstand aller Wahrscheinlichkeit nach als Mitteltafel für ein Triptychon. Seine Ikonographie im Kontext der beiden Seitentafeln, mit denen es 1937 zu einem Kriegstriptychon zusammengefügt worden war, erfuhr bisher keine genauere Analyse. Auch Ausstellungspraxis und Rezeption des Gemäldes in der zeitgenössischen Kunstkritik blieben weitgehend ausgeblendet.12
Um Bedeutung und Kontext des Bildes richtig zu verstehen, müssen wir uns sowohl mit der Rezeptionsgeschichte wie auch mit den beiden "Seitentafeln" beschäftigen, zwei Kriegsbildern, die der Künstler in den Jahren 1929 und 1930 malte und die zu den ersten Werken zählen, in denen er seine Weltkriegserfahrungen in der Nachkriegszeit künstlerisch verarbeitete.

Der Zeitraum von vier Jahren, der zwischen dem Entstehen dieser beiden Gemälde und dem "Grab im Niemandsland" liegt, läßt vermuten, daß Radziwill nicht von Anfang an plante, ein Kriegstriptychon zu schaffen. Dafür sprechen auch die unterschiedlichen Maße. Während die "Seitentafeln" Querformate sind, ist die Mitteltafel als Hochformat angelegt. Doch die Rezensionen der Kunstkritiker können ihn auf diese Idee gebracht haben.

Denn 1933 schrieb zum Beispiel Werner Meinhof in der Oldenburger Zeitschrift Beiträge zur Heimatgestaltung unter dem Titel "Ein Denkmal des Krieges": "Die Bilder könnten zu einem Denkmal des Krieges vereinigt werden, das seine Aufgabe besser, ernsthafter erfüllen würde als die meisten Denkmäler, die man kurz nach dem Krieg errichtet hat."14 Von Meinhof und von Radziwills engem Freund, dem Hamburger Kunsthistoriker und Dichter Wilhelm Niemeyer (1874-1960), kam auch der Vorschlag, die Bilder als Monument für eine Gefallenenkapelle zu verwenden.

Ausschnitt:Franz Radiwill: Der Stahlhelm im Niemandsland; 1933, Öl/Leinwand/Holz, (Oldenburg, Stadtmuseum), Abb.5

Es wurde vermutet,daß Radziwill durch Dix' berühmtes Kriegstriptychon, das in den Jahren 1929-1932 entstand, auf die Idee gebracht wurde. Radziwill hatte 1927 einen mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt in Dresden, der durch ein Stipendium Hamburger Kaufleute ermöglicht wurde. Dix, der als Professor an der Dresdner Kunstakademie lehrte, vermittelte ihm ein Atelier - als Gegenleistung saß Radziwill ihm Modell für ein Porträt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Dix aber noch nicht mit dem Kriegstriptychon begonnen. Im Jahr 1930 jedoch, als Radziwill ihn erneut in seinem Atelier besuchte,16 war die Arbeit daran im vollen Gang. Die Kenntnis von diesem Werk war aber nicht unbedingt notwendig, um den Gedanken eines "Gedächtnisaltars" für die Kriegsgefallenen zu entwickeln. Diese Bildform war bereits im Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren genutzt worden (Abb.4).

Genauso vorstellbar ist deshalb, daß Radziwill selbst durch ein eigenes Bild, das er 1933 malte, und den Vorschlag seiner Freunde den Entschluß faßte, die beiden Kriegsbilder mit einem dritten Gemälde zu einem großen Triptychon zu verbinden.
Dieses Gemälde trägt den Titel "Der Stahlhelm" (Abb. 5) und nimmt im Ausschnitt den Gegenstand von "Grab im Niemandsland" vorweg. Bereits in einem frühen Titel, den Radziwill für das "Grab im Niemandsland" verwendete, klang das Thema der Darstellung an: "Der Stahlhelm des Gefallenen".18
Die Mitteltafel erhob durch ihr Konzept des Gefallenengedenkens das Triptychon zu einem nationalen Erinnerungsbild. Radziwill erweiterte entsprechend die Bildtitel der Seitentafeln durch die Zusätze "Der Krieg im Westen" und " Der Krieg im Osten" und machte die beiden Kriegsbilder zu Landschaften, die den Geist der historischen Stätten zum Ausdruck bringen sollten.

Das erste Kriegsbild,das Radziwill 1929 malte, war "Der Unterstand am Naroczsee". Im später zusammengestellten Triptychon stand es für den "Krieg im Osten". "Blockhaft liegt im zerschossenen Wald ein bewehrter Unterstand. Kahl und zerrissen recken sich die Stämme in den finstren Himmel, kraß beleuchtet von einer eigenartigen Helle, wie von Scheinwerfern oder dem grellen Licht der Leuchtkugeln getroffen. Was Wald, was Landschaft war, es ist zerfetzt vom rasenden Toben dieses Krieges. Und immer noch umkreisen seelenlose Kampfmaschinen die gespenstische Szenerie."19
Im Gegensatz zur umgepflügten und verbrannten Erde im "Grab im Niemandsland" ist der Unterstand intakt und unzerstört. Die Soldaten sind unsichtbar, vielleicht haben sie Schutz gesucht vor den bedrohlich am Himmel kreisenden Kampfflugzeugen oder sie sind tot.

Als ein in Größe und Auffassung identisches Pendant malte Radziwill 1930 das zweite Kriegsbild: "Das Schlachtfeld von Cambrai, 1917" - später mit dem Titelzusatz "Krieg im Westen". Es ist heute verschollen. Nur eine Schwarzweiß-Photographie gibt noch einen ungefähren Eindruck von seinem Aussehen. Auf einer weiten flachen Landschaft mit tiefliegendem Horizont sind die Ruinen von etwas, das einstmals ein Gehöft oder ein Dorf gewesen ist, zu erkennen. Die Vegetation ist völlig vernichtet. Eine Anzahl von Kampfflugzeugen nähert sich im Tiefflug. Niemeyer erinnerte sich an das Bild in den fünfziger Jahren mit der Beschreibung: "… diese Einöde erglüht in einem so eigenen fremdartigen Schimmer, in dem Feuer, Blut und Sonnenglut sich als Farbhauch bewahren, so daß eine geistige Weltschau entsteht, ein kosmisches Geschehnis, fremd und schön in sich, das in das All gleichsam eingeht."20

Auch Radziwill versuchte den "Geist" des Ereignisses, der auf den ehemaligen Schlachtplätzen lag, in seinen Bildern zu erfassen. Seine beiden Kriegslandschaften wollten über den persönlichen Eindruck des Erlebten hinausgehen. Sie wollten den hinter den Erscheinungen vermuteten tieferen Sinn der Geschehnisse zum Ausdruck bringen.

Nach der Vorstellung der Zeitgenossen offenbarte sich in der Dimension der Zerstörungen des "Weltenbrandes", wie der Erste Weltkrieg auch genannt wurde, die "übermenschliche" Größe des Konflikts.
Er erschien mehr als naturhafte Eruption, der die Menschen machtlos gegenüberstanden, denn als eine von ihnen ausgeübte Gewalt. Aufgrund seiner die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Dimension bekam er etwas Erhabenes und erhielt einen metaphysischen Sinn. Die Menschen staunten voller Schrecken eine fremde, scheinbar von ihnen losgelöste, eigenmächtige Macht an, die naturhafte Züge zu besitzen schien, und suchten nach deren Bedeutung, dabei vergessend, daß sie diese Macht selbst entfesselt hatten und Subjekt der Gewalt waren.

Hier äußerte sich auf dramatische und katastrophale Weise die Entfremdung des modernen westlichen Menschen von der von ihm hervorgebrachten und verantworteten Technik. Indem Radziwill die Menschenferne, das Zerstörungsmaß und die irreale Atmosphäre ins Bild setzte und letztlich dem Krieg ein unbegreifliches Antlitz gab, stillte er dieses weitverbreitete Bedürfnis nach einer tieferen Sinngebung des Krieges.