Radziwill und der Erste Weltkrieg

"Ich bin ein langsamer Mensch. Die Bilder des Krieges prägten sich mir ein, doch ich konnte sie nicht umsetzen. Erst wenn die Bildgestalt aus meiner Erinnerung aufsteigt, kann ich zu malen anfangen. "40

Alle Aussagen von Radziwill über seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg stammen aus Interviews, die der hochbetagte Maler in den siebziger Jahren gab. 1979 erinnerte sich der 84jährige zurück: "Ich bin in den Krieg, am 15. März 1915 wurde ich eingezogen zum 9. Jägerbataillon nach Ratzeburg. Ich hätte eigentlich schon 1914 eingezogen werden sollen, ich hatte auch meinen Gestellungsbefehl schon in der Tasche, aber der Andrang von Kriegsfreiwilligen war so groß, daß wir zurückgesetzt wurden, die eigentlich eintreten mußten."34

Als Sanitäter wurde er in den folgenden vier Jahren an der West- und Ostfront eingesetzt. Er war in Frankreich, Flandern und Rußland. "Ich bin bei der Truppe auf dem Vormarsch bis an den Peipus-See gekommen. Und da war der Ort Krasnaja Gora und in Krasnaja Gora, das sollte sich später herausstellen, war Karl Schmidt-Rottluff Entlausungssoldat. Ich bin zweimal im Osten und zweimal im Westen. Im Westen bin ich kurze Zeit gewesen, das war in den Vogesen, dann wurden wir von dort wieder versetzt in den Osten, da begann der Bewegungskrieg, da blieben wir am Peipus-See liegen." Über den Einsatz in Flandern erzählte er: "… das waren vielleicht die fürchterlichsten Kämpfe, die es überhaupt gab, weil dieser Grabenkrieg ja fast im Wasser stattfand, denn das Grundwasser war ja sehr niedrig, es lag bald an der Oberfläche."35 "Ich habe im Westen an den großen Materialschlachten teilgenommen, wo es um jedes Stückchen Erde ging, und möchte dazu sagen, daß ich das große Glück hatte, von meinen Kameraden sind wir nur mit vieren wiedergekommen."36 "Im Westen bin ich dann noch einmal gewesen durch den Zusammenbruch, ja, wann war die Tankschlacht von Cambrai, jedenfalls war die Tankschlacht von Cambrai im Ersten Weltkrieg, da gab's ja noch diese Raupenpanzer, die ist 1917 gewesen."37

Im Oktober 1918 geriet Radziwill bei Cambrai in britische Kriegsgefangenschaft. Dort malte er im Auftrag der Briten eine Kapelle aus. 1919 kehrte er nach Deutschland zurück. Vor dem Krieg hatte Radziwill in Bremen eine Maurerlehre mit Auszeichnung abgeschlossen und mit Hilfe eines Stipendiums Architektur an der Bremer Kunstgewerbeschule studiert. In diese Zeit datieren seine ersten malerischen Versuche, die er nach dem Krieg ernsthaft fortsetzte.

Während der Kriegszeit entstanden "gut 500 Zeichnungen, auch getönte …, und die sind mir dann bei meiner Gefangennahme von den Engländern alle abgenommen worden".38 Anders als Otto Dix setzte sich der künstlerische Autodidakt Radziwill während seiner Zeit als Soldat nicht direkt mit dem Kriegsgeschehen auseinander. Ihn interessierten "die heile Welt, vom Krieg unberührte Dörfer und … über den Stacheldraht hinweg, Dörfer im Frieden".39 Sein Erstes Kriegsbild "Cambrai " entstand 1929.