Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Nicht nur Jugendklubs, Kulturbundgalerien und Kulturhäuser avancierten in jener Zeit zu Räumen subkultureller Selbstverständigung und Formation. Vor allem die bereits Ende der 60er Jahre über Mauer und Stacheldraht schwappende Hippie-Welle wird letztlich zum ausschlaggebenden Faktor zur Ausbildung bohemischer Phänomene. Eine Vielzahl von Cliquen, Gruppen und Freundeskreisen entsteht, die sich eigene Treffpunkte schaffen und ‘ihren’ Bands regelrecht hinterherreisen. Dabei haben die Rockgruppen vor allem Surrogat-Funktion – die Klaus-Renft-Combo oder auch die Bürkholz-Formation spielen live die Hits von Deep Purple, Colosseum und Uriah Heep und holen so die Welt in Kneipensäle und auf Kulturhausbühnen. Vor allem in kleineren Städten und Gemeinden der südlichen DDR-Bezirke entstehen so auch überregional ausstrahlende Zentren und Anlaufpunkte. Stellvertretend für eine Fülle sei hier nur auf den Amor-Saal in Mülsen St. Niclas bei Zwickau verwiesen. Überhaupt entwickeln sich außerhalb der Regionalzentren mitunter produktive Biotope und Rückzugsorte wie etwa der von der Malerin Erika Stürmer-Alex geführte Kunsthof Lietzen im Oderbruch, wo Workshops, Theateraufführungen oder auch Filmarbeiten für inoffizielle Projekte stattfinden.

Einen wichtigen Beitrag für die kulturelle Lockerung leistete auch die Jazzmusik, insbesondere der Free Jazz, für den der kleine Ort Peitz im Kreis Cottbus-Land ab 1973 zu einem wahren Pilgerort und zum Synonym für eine unangepaßte Lebenshaltung wurde. Es begann mit einem monatlichen Jazz-Workshop im Filmtheater des Ortes, privat organisiert vom vitalen Veranstalter-Duo Uli Blobel und Peter Metag, bei dem Formationen wie die Klaus Lenz Band, Praxis II oder die Gruppe SOK und Jazzmusiker wie Uli Gumpert, Manfred Schulze und Günther “Baby” Sommer auf ein zunehmend größer werdendes Publikum trafen. Auch im Ausland sprach sich Peitz herum, was sich im international hochkarätig besetzten Programm der späteren Jazz-Werkstätten bemerkbar machte. Die 350 Plätze im kleinen Kino reichten längst nicht aus, oft lagen vier- bis fünfmal so hohe Kartenbestellungen vor.

Als man Ende der 70er Jahre von der Kinobühne auf die freie Wiese wechselte, kamen zwischen 3.000 und 5.000 Leute zu den teils mehrtägigen Open Airs. Eine Atmosphäre von Woodstock lag in der Luft. Die angereisten Jazz-Fans stammten aus den unterschiedlichsten Milieus und kampierten in Zeltdörfern, bewacht von einem Sicherheitsdienst des örtlichen Hundezüchtervereins, um den argwöhnischen Kulturfunktionären durch eventuelle Aus- und Zwischenfälle des Publikums keine Handhabe gegen das Festival zu bieten. Die Vorsicht half nur eine Zeitlang – unter dem später entkräfteten Vorwand finanzieller Bereicherung wurde die Jazz- werkstatt Peitz schließlich 1982 verboten.

Die Entwicklung eines dezentralen alternativen Kulturangebotes an den Rändern des Landes war typisch und hätte ohne die kulturpolitische Parole “Weite und Vielfalt” keine Chance auf eine dauerhafte Verwurzelung gehabt. Hatte sich die realsozialistische Kulturpolitik noch in der zweiten Hälfte der 60er Jahre mit der Einweisung von “Gammlern” und Beatfans in Arbeitslager gegen die als bedrohlich empfundenen Ausmaße der dynamischen Jugendkultur gewehrt, so ließ sie die Bewegung nun gewähren – ein Kurswechsel, der zum einen durch die neue Kulturpolitik Honneckers möglich wurde, andererseits aber auch dem Druck des Aufbegehrens geschuldet war. “Der DDR-Beatboom der auslaufenden Sechziger speiste sich direkt aus den Trends der westlichen Welt”, diagnostiziert der Musikwissenschaftler Michael Rauhut die zäsursetzende Periode. “Immenser Einfluß strahlte von der Hippie-Kultur ab. Weniger die spezifischen künstlerisch-psychedelischen Artikulationsformen denn die Philosophie jener Bewegung fielen im Osten Deutschlands auf fruchtbaren Boden – die Ideale von Love and Peace, der Geist von Woodstock. (...) Mit dem Aufkommen des Hippie-Phänomens entwickelten sich ganz neue Dimensionen des Beatfantums, bildeten sich um derart konstituierende Momente wie Habitus, Gemeinschaft und Mobilität neue Bedeutungshöfe.”(19)

Selbst wenn bei vielen Boheme-Kreisen schon aus Altersgründen oder künstlerischer Distanz kein unmittelbarer Bezug zur sinnlichen Revolte von Woodstock mehr gegeben war, profitierten sie doch von der erreichten Erweiterung eines bislang streng auf die “sozialistische Moral und Ethik” ausgerichteten Kanons tolerierter Lebensformen. Daneben kam es frühzeitig zur Ausprägung lokaler Besonderheiten – in Dresden-Loschwitz machte sich eine spaßorientierte Subkultur bereits ab Mitte der 60er Jahre durch eine Revitalisierung und Erweiterung alter Festtraditionen bemerkbar.

Auch der Drang in die erreichbare Natur konstituierte ein Lebensgefühl, das sich endgültig aus der provinziellen Enge verabschieden wollte. Das kollektive ‘Boofen’ im Elbsandsteingebirge, die gemeinsamen Zelturlaube an der Ostsee oder die zahlreichen Wanderbruderschaften sind aus diesem Impuls heraus zu erklären. So gingen etwa der Hallenser Maler Wasja Götze und der Dresdner Kabarett-Texter, Fürstengeschichtler und Hilfsarbeiter Matthias “Matz” Griebel, beide prägende Boheme-Gestalten, über zwei Jahrzehnte jeden Sommer auf die gemeinsame Walz. Später folgten auf ihren Spuren die Berliner Künstler Reinhard Zabka und Martin Hoffmann, die – wie ihre Vorläufer – künstlerische Wandertagebücher führten.


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