Hans Ottomeyer
Vorwort

Zeremonien und Rituale gehörten in der vormodernen Gesellschaft zu den wichtigsten Formen nichtverbaler Kommunikation, die ihren Höhepunkt in Europa während des Mittelalters und der frühen Neuzeit in den Kirchen und an den Höfen erlebten. Da wir gegenwärtig durch den vermehrten Einsatz visueller Medien erneut mit einer Vielzahl optischer Zeichen konfrontiert sind, richten die historischen und anthropologischen Wissenschaften ihre Aufmerksamkeit seit geraumer Zeit verstärkt auf die symbolischen Kommunikationsformen anderer Kulturen und Zeiten.

Während das gemeinsame Essen heute ein beliebter Anlass zu zwangloser Geselligkeit und individuellem Genuss ist, entwickelte sich das Speisen an den Höfen zu einem streng regle-mentierten Akt, in dem sich der Fürst regelmäßig dem Hofstaat und den Untertanen zur Schau stellte. Jedem Detail dieses Aktes kam dabei Aussagewert bezogen auf Rang und Bedeutung zu. Hohe Potentaten wie der Papst in Rom oder der Kaiser in Wien signalisierten ihre Sonderstellung dadurch, dass sie immer allein speisten. Saßen andere Herrscher mit Staatsgästen zu Tisch, spiegelten die Sitzordnung und die unterschiedlichen Materialien, aus denen die jeweils vorgesetzten Tafelgeräte bestanden, die politische Machtkonstellation. Ritualisierte Handlungen wie das Reichen von Waschbecken und Wasser sowie das Vorschneiden, die Giftprobe und das Vorlegen der Speisen waren wichtige Bestandteile des Tafelzeremoniells, für die prächtige Utensilien angefertigt wurden, die bis heute in Museen und historischen Sammlungen aufbewahrt werden.

Es wäre falsch anzunehmen, der Sinn der öffentlichen Tafel habe darin bestanden, dem Herrscher bei der Nahrungsaufnahme zuzuschauen und sich daran zu freuen, wie gut ihm das Essen schmeckt. Bei der offenen Tafel geht es nicht um das Essen, nicht um Nahrungsaufnahme oder eine andere Form von Kulinarik. Im Zentrum steht, was Simmel einmal das "soziologische Gebilde der Mahlzeit" nannte. An der Tafel finden sich Menschen zusammen, um ihre gesellschaftliche Gruppe - die Familie, aber auch geistige oder berufliche Ge-meinschaften - in nahezu ritueller Weise durch den Akt des Teilens neu zu bestätigen. Im-mer wieder, wenn Gesellschaften sich bestätigen, gefährdet sind, auseinander zu brechen drohen oder ein Wechsel sich vollzieht, versammelt man sich, um gemeinsam zu speisen. Das Speisen hat dabei die Funktion, den gemeinschaftlichen Akt des Teilens einzuüben und zugleich die verschiedenen Rollen innerhalb der Gesellschaft nach innen und außen darzu-stellen. Nur von diesem Ansatzpunkt aus lässt sich die offene Tafel, die so viel geschichtliche Wirklichkeit schuf, verstehen. Georg Simmel schrieb: "Gerade weil die gemeinsame Mahlzeit ein Ereignis von physiologischer Primitivität und unvermeidlicher Allgemeinheit in die Sphäre gesellschaftlicher Wechselwirkung und damit überpersönlicher Bedeutung hebt, hat sie in manchen früheren Epochen einen ungeheuren sozialen Wert erlangt ... Man möchte glauben, daß in der Unsicherheit und Fluktuierung des mittelalterlichen Daseins dies ein sozusagen anschaulich fester Punkt war, ein Symbol, an dem sich die Sicherheit des Zusammengehörens immer von neuem orientierte."

In Fortführung der Simmelschen Gedanken lässt sich sagen, dass die Mahlzeit, auf politische Ebene gehoben, eine der wenigen Friedenstechniken ist, über welche Menschen überhaupt verfügen. Deshalb wird auf einer Ebene außerhalb der sprachlichen Kommunikation jeder Vertrag, jede Friedensverhandlung, jeder Besuch, wozu auch Staatsbesuche zählen, durch ein gemeinsames Mahl beschlossen. Es ist eine Form des sich Vertragens. Erstaunlich ist nur, dass über jede Form der kriegerischen Auseinandersetzung und Aggression wissenschaftliche Abhandlungen verfasst wurden, die ganze Bibliotheken füllen, die Soziologie und die Gemeinschaft der Tafel aber merkwürdig im Verborgenen blühen und es fast als anrüchig gilt, über die Mahlzeit zu sprechen oder zu schreiben.

Was die öffentliche Tafel auszeichnet, ist ihre weitgehende Angleichung an zwei grundle-gende Handlungen, die das Leben früherer Zeiten konstituierten. Das eine ist die Messfeier der mittelalterlichen Kirche, bei der der Priester, assistiert von Ministranten, die Messe vor den Augen der Gläubigen zelebriert, während er die Einsetzungsworte spricht. Der Schmuck des Tischs des Herren mit Altartuch, Leuchtern, Kelch und Patene war nicht grundsätzlich anders als die Gestaltung der öffentlichen Tafel. Indem die Gläubigen die Handlungen andächtig verfolgten, hatten sie an der Messfeier teil und wurden in die Ge-meinschaft mit einbezogen. Die offene Tafel fand unmittelbar nach der Messe statt und war auf diese Weise zeitlich und semantisch eng mit der geistlichen Handlung verbunden.
Eine andere mögliche Erklärung für die offene Tafel bietet sich durch die weitgehende Angleichung ihres Zeremoniells an die Erbhuldigung oder Krönungsfeier, mit der Fürsten in ihr Herrscheramt eingesetzt wurden. Das Herrschermahl war integraler Bestandteil aller Krönungsfeierlichkeiten. Die Tafel des Herrschers war dazu auf einer Estrade gedeckt. Es war die erste Aufgabe der Inhaber der Hofämter, den an die Macht gekommenen Fürsten zu bedienen. Das Publikum nahm hier - wie bei der offenen Tafel durch eine Barriere von dem Geschehen getrennt - an der Feier teil und verfolgte schweigend das Geschehen. Insofern war die offene Tafel eine Wiederholung der Erbhuldigung und eine Art Reinszenierung der Einsetzungsfeier, welche die Legitimation des Herrschers darstellend unterstreichen sollte. Damit sind die beiden wesentlichen Bedeutungsfelder benannt, in deren Spannungsbereich sich die offene Tafel vollzieht. Zugleich ist damit aber auch angedeutet, aus welchen Gründen diese Handlungen uns heute weitgehend unverständlich geworden und daher in Vergessenheit geraten sind: Ihr Ziel war die Demonstration von Kontinuität und Legitimität der Herrschaft.

Die öffentliche Tafel ist eng mit den Residenzen und Schlössern verbunden, welche der Sitz der höchsten legislativen und exekutiven Gewalt im Staate waren. Sie beherbergten die Hofämter und hielten den fürstlichen Familien Raumfolgen zum Wohnen bereit. Hauptresi-denzen waren Winterschlösser, die vom Oktober bis in den Mai hinein bewohnt wurden. In ihnen fanden Staats- und Hofzeremoniell zugleich ihre strikteste Observanz. Während der langen Aufenthalte von Mai bis Oktober in den Sommerschlössern fanden dort auch offene Tafeln statt jedoch mit einer reduzierten Entfaltung des Zeremoniells. Da alle Residenzen eine ähnlich geartete Abfolge von Räumen, die sogenannten Appartements, aufwiesen, konnte jeder Besucher in Europa sich einigermaßen leicht in den Schlössern der Herrscher zurechtfinden. Der Zugang dorthin war dem Publikum nicht versperrt. In diesen Räumen fand die öffentliche Tafel statt, die tatsächlich im Sinne des Wortes "öffentlich" war. Im Prinzip konnte jeder an dem Ereignis teilnehmen: Männer und Frauen soweit sie sich nicht in Umhänge hüllten oder von schweren Krankheiten gezeichnet waren. Erst zwischen Rit-tersaal und erstem Vorzimmer lag eine Grenze, die nicht von jedermann überschritten wer-den konnte. Entweder hier oder dort fand die öffentliche Tafel statt.

Am Hof von Versailles sah es anders aus, dort hatte ein jeder Franzose oder auswärtige Gast, der den König öffentlich speisen sehen wollte, sich mit einem Hut und einem Degen zu versehen, sonst wurde er zur Tafel nicht zugelassen. Diese Requisiten waren auch leih-weise in Versailles zu bekommen. Zudem war es eine Aufgabe der zahlreichen Publikatio-nen und graphischen Darstellungen, die um diesen Akt des Hofzeremoniells herum entstan-den, Öffentlichkeit herzustellen und nach außen zu tragen. Sie waren Veröffentlichungen im wahrsten Sinne des Wortes.

Im zunehmenden Prozess des Verlustes der eigenen Geschichte sind uns heute Verhaltensweisen und Handlungen des Mittelalters wie der frühen Neuzeit unendlich ferngerückt. Sie gelten als kaum mehr vermittelbar. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts kann eher Wissen über den sibirischen Schamanismus oder Einsichten in Stammesbräuche des mittleren Amazonasgebietes vorausgesetzt werden, als dass man Kenntnisse über entlegenere Gebiete der eigenen Geschichte erwarten könnte.

Das Bild der höfischen Gesellschaft bleibt eigentümlich verzeichnet. Während wir von der Annahme ausgehen, dass die Länder rechts des Rheins in einem ihnen eigentümlichen Naturzustand verharrten, glauben wir zugleich, dass Etikette und Hofzeremoniell sich am Hofe der französischen Könige zu voller Blüte entfaltet hätten, bis sie dann zur Zeit Ludwigs des XIV. als Kulturimport eifrig von den anderen europäischen Völkern übernommen worden seien. Dieses Bild des Imports französischer Sitten und Formen im späten 17. Jahrhundert wird bis in die Geschichtsbücher hinein gepflegt.

Vieles, was an Urteilen in den Köpfen herumspukt und sich auf die Zeit der absolutistischen Fürstenstaaten bezieht, geht auf die Schilderungen Eduard Vehses über die deutsche Hofgeschichte zurück. Vehses "Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation" erschien in 48 Bänden zwischen 1851 und 1861 und fand ihren Niederschlag in der Geschichtsschreibung des wilhelminischen Deutschland. Dieser war es ein Hauptanliegen, die deutschen Fürstenstaaten vor der Einigung des Reiches und vor dem Wiener Kongress aus der Sicht des Bürgertum und des Nationalstaates der Lächerlichkeit preiszugeben. Das damals gezeichnete Bild gehört zum Grundinventar bürgerlicher Aufklärung. Einsichten und Begriffe über diese Themen sind stark von Norbert Elias geprägt, dessen Darstellung über den Prozess der Zivilisation ein weit verbreiteter Klassiker der Zivilisationsgeschichte ist. Seine Beschreibung der höfischen Gesellschaft, die 1969 in zwei Bänden erschien, agiert vor allem mit französischen Exempeln und beschäftigt sich mit der Entwicklung der Tischsitten und dem Sexualverhalten der Fürstenhöfe Europas. Elias verfolgte das Thema des Tabus, die Tendenzen zunehmender Selbstbeherrschung und nach außen gekehrter Höflichkeit bis hinein in europäische Verhaltensweisen der Courtoisie.

Norbert Elias' idealtypische Bilder bleiben in der Ausstellung und in den dazugehörigen Essays zur Zivilisationsgeschichte weitgehend unberücksichtigt. Dies kann als Indiz dafür gelten, wie fern die Erklärungsmuster inzwischen der historischen Wirklichkeit und den Bedeutungssystemen der Epochen selbst gerückt sind. Der Klassiker hat in der neueren Forschung sein Bedeutungsmonopol weitgehend verloren. Die Sprache der Dinge und Dokumente fordert andere Erklärungen. Das Thema der öffentlichen Tafel ist nicht mit Formen der "Höflichkeit" oder des "guten Benehmens" zu erklären. Weit jenseits aller Prinzipien der Individualität und der Persönlichkeit ist es ein System, dem es auf die nicht verbale Darstellung von Macht mit friedlichen Mitteln ankam.

Bei der Ausbildung der öffentlichen Tafel haben die italienischen Fürstenhöfe und der Hof der Habsburger in Wien eine entscheidende Rolle gespielt. Über das Mittelreich Burgund wurden die Sitten auch am Hof der französischen Könige aus dem Hause Valois und Bourbon übernommen, was in der Zeit um 1580 unter Heinrich dem III. in besonderer Weise geschah. Die gemeinsamen Vorläufer dazu liegen im Mittelalter. Eine fest kodifizierte Form hatte sich im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert bereits in ganz Europa herausgebildet. Im geographischen Raum zwischen Italien und Schweden, Russland und Portugal galten in Grundzügen die gleichen Bräuche, wobei entstehende Unterschiede in besonderer Weise beobachtet und kolportiert wurden, um aus den abweichenden Nuancen neue Formen und damit verbundene Ansprüche abzuleiten. Die stumme Sprache der Dinge der öffentlichen Tafel ist eine Kommunikationsform, die das durch nationale Sprachen getrennte Europa gemeinsam entwickelte, um sich in seinem Staatenleben untereinander darzustellen und zu verständigen. So nimmt es nicht Wunder, dass beispielsweise Augsburger Silber die fürstliche Tafel in Moskau zierte oder kostbares Gerät aus Paris gleichermaßen in Dänemark und Portugal zur Verwendung kam. Die Sprache der Dinge wie auch die Formen der Stile waren stets eine gesamteuropäische Angelegenheit und standen in ihrer Ausprägung und Entwicklung im europäischen Kontext.

Investitionen in Tafelgerät, das in einigen Fällen gerade aus den Randbereichen Europas auf uns überkommen ist, waren gewaltig. Der Aufwand an Material und Arbeit, der für diese Staatsservice betrieben wurde, übersteigt heute jede Vorstellung. Das meiste davon ist zugrunde gegangen. Nur in wenigen Schatzkammern, Silberkammern oder Nationalmuseen haben sich bis heute Teile davon bewahrt. Es ist zahlreich bezeugt, dass wenn Kriege das Land überzogen, Kriegskontributionen zu erbringen waren oder der Sold stehender Heere auszuzahlen war, es an das Tafelsilber ging. Das Silber, welches zuvor gemeinsamen Mahlzeiten gedient hatte, wurde in Stücke gehackt und in der Münze zu Geldstücken geschlagen. Geld und Silber sind in vielen europäischen Staaten daher heute noch gleichbedeutend.

Tafelgeräte aus Silber, vergoldetem Silber oder Gold erfuhren in der Kulturgeschichte eine besonders traditionsbezogene und daher kontinuierliche Entwicklung. Sie bildeten stets den kostbarsten Besitz eines Hauses. Über sie wurde in besonderer Weise verfügt. Silber war fast nie dem individuellen Gebrauch oder einem Ich-bezogenen Luxusgebaren unterworfen. Es spielte, bezogen auf menschliche Gemeinschaften, eine ganz besondere Rolle. Es unterlag nicht den Capricen der Tagesmoden, sondern blieb Investition für die Zukunft. Silbergeräte wurden von Gemeinschaften in Auftrag gegeben und in diesen von Generation zu Generation weitervererbt. Gemeinschaftlich besessenes Silbergerät stiftete Identität in gesellschaftlichen Verbindungen wie Familien, fürstlichen Häusern, Zünften, Gilden, Kirchengemeinden, Klöstern, Universitäten, bis hin zu Vereinen oder Clubs. Im Mittelalter wo die benediktinischen Lebensregeln bis weit in die private Lebensführung reichten, galt das Ge-setz: omniaque omnia sint communia ut scriptum est - alles sei allen gemeinsam, so wie es geschrieben ist.

Staatssilber war ebenso gebräuchlich wie Ratssilber und wurde bei den großen Essen verwendet, zu denen sich die Mitglieder zusammenfanden, um ihre Gemeinschaft zu bestätigen oder neue Verbindungen und Verträge einzugehen, die durch gemeinsames Essen zelebriert wurden. Dies geschah stets angesichts des Silbergeräts, das mit der Geschichte der Gruppe verbunden war und in die Zukunft weitergegeben wurde. Bisweilen wird bis heute Silberge-rät als singuläres Einzelstück mit Erinnerungsqualität gefertigt, um an eine Begebenheit o-der ein personenbezogenes Geschehen zu erinnern. Silber und damit auch Tafelsilber, lässt sich ohne Übertreibung sagen, war stets ein Material der Geschichte, und Silber ist ein historisches Element. Es sollte an den Stifter erinnern und ist in der Regel mit seinen Initialen, dem Anschaffungsjahr oder dem Wappen geziert, um es über die Zufälle des Tagesgeschehens hinauszuheben.

In seiner Geschichte wurde Silbergerät nur an ganz bestimmten Orten und in besonderen Aufstellungen gebraucht, denen die Ordnungsprinzipien zugrunde lagen, welche auch sonst bei den zeit- und stilgebundenen Arrangements der Dinge zur Anwendung kam. In einigen seltenen Fällen haben sich festeingebaute Buffetsituationen bewahrt. Zu nennen sind die Buffets von 1590 im Antiquarium der Münchener Residenz, die Buffetnischen in Ansbach und das große Silberbuffet, das aus dem Berliner Schloss stammt und heute zwischen Schloss Köpenick, Charlottenburg und dem Kunstgewerbemuseum hin und her geschoben wird.

Am wichtigsten bleibt jedoch der Gebrauch des Silbers beim Speisen. Tafel und Buffet verfolgen in ihrer Aufstellung gleichermaßen das dort entwickelte Prinzip der achsensymmetrischen, hierarchisch zur Mitte hin geordneten Anordnung, ein System, welches mit dem absolutistischen Fürstenstaat der Neuzeit einhergeht. Bei all diesen Ordnungen gilt die Symmetrie der Abfolge und die Einheitlichkeit der Wirkung als das Ziel. Seit 1550 werden alle Stücke, die zusammen in ein Erscheinungsbild geordnet werden oder in einem Gebrauchszusammenhang stehen, durch eine einheitliche Gestaltung dominiert, die Material, Stil und Ornamente zu einer Einheit verbindet. Die Hierarchie der Rangfolge und das gegensätzliche Prinzip der Gleichheit aller Tischgenossen fand seinen vollkommenen Ausdruck in der Be-ziehung zwischen Zentrum und Peripherie der Tafel.

Die Ausstellung hat sich aus der Erforschung des Staatssilbers, seinen Formen, seines Gebrauchs entwickelt. Der Forschungsansatz ging von der Beschreibung des Erhaltenen aus und drang dann mehr und mehr zu den Prinzipien und zum Bedeutungskern der kostbaren Objekte vor. Eine erste Formulierung fand das Thema durch eine Ausstellung in Paris: "La table d'un roi", 1987, die das erhaltene Staatssilber der dänischen Königin in den Mittel-punkt stellte. Die von Ole Villumsen Krog und Gérard Mabille initiierte Ausstellung ver-suchte sich erstmals in der Rekonstruktion überlieferter Erscheinungsbilder, um daraus auf den Gebrauch zu schließen. Dass dies auch weiterhin ein fruchtbares und ergebnisreiches Feld wissenschaftlicher Forschung sein würde, ergab sich aus der Ausstellung selbst. Auf Initiative von Ole Villumsen Krog und Alain Gruber, der damals Direktor der Abegg-Stiftung war, trat unter dem Namen "Royal and Princely Tables" in Bern 1989 erstmals eine lose gefügte Gruppe zusammen. Die fruchtbare Zusammenarbeit und ein gemeinsamer Forschungsschwerpunkt führten in den verschiedenen europäischen Ländern zu Publikationen und großen Ausstellungen zu diesem Thema. Zu nennen sind die Ausstellung "Die anständi-ge Lust - Von Eßkultur und Tafelsitten", die 1991 am Münchener Stadtmuseum entstand. Ihr folgte 1993 eine groß angelegte Ausstellung in Versailles "Versailles et les tables roya-les", die vom französischen Staat getragen wurde. Sie brachte die großen Service, die sich auf Frankreich bezogen, zur Darstellung. Winfried und Ilse Baer, die von Anfang an zu die-ser Forschungsgruppe gehörten, inszenierten entsprechend ihren wissenschaftlichen Einsichten eine Reihe von Ausstellungen zur Tafelkultur in Berlin. Lorenz Seelig setzte diese Prinzipien in eine Ausstellung über Augsburger Silber um, welche 1994 am bayrischen Nationalmuseum zu sehen war. Peter Parenzan und Ilsebill Barta-Fliedl ermöglichten durch Leihgaben aus der Silberkammer der Habsburger 1991 und 1995 weitere Ausstellungen in Wien und Frankfurt. Ausstellungen in Kassel zu silbernem Tafelgerät namentlich "Katharina die Große" und "Kasseler Silber" 1997 und 1998 setzten die wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Themengebiet der Hoftafel fort. Zunehmend verdichtete sich dabei die Einsicht, dass im Zentrum aller Beschreibungen die sprachlich schwer zu fassende offene Tafel stand, also die hochoffizielle Form der Mahlzeit des Herrschers vor der versammelten Öffentlichkeit, aus der später die Galatafel oder das Staatsessen hervorging.

Die Ausstellungen in Paris und Versailles beschrieben mit großer Deutlichkeit und unter Verwendung zahlreicher Beispiele die Entwicklung der französischen Service, wobei das Wort durchaus in seinem Doppelsinn zu gebrauchen ist. Sie entlasten damit unsere Ausstellung in Berlin, die sich auf die europäischen Höfe und ihre Gebräuche konzentriert, welche nicht direkt französischem Einfluss unterworfen waren.

Die erhaltenen Zeugnisse der historischen Wirklichkeit - also Bildquellen, Beschreibungen und die Objekte selbst - lassen, für sich betrachtet, in der Regel den Zusammenhang, in dem sie standen, nicht erkennen. Erst die Kombination von Dingen, Worten und Bildern vermag die Bezügen wieder herzustellen. Gemeinsame Tendenz all dieser Ausstellungen und der entsprechenden Erörterungen war es daher, das überlieferte historische Objekt aus seiner formal ästhetischen Vereinzelung herauszulösen und in den größeren Kontext seines Gebrauchszusammenhanges und der Präsentationsformen zu stellen, um damit zur Bedeutung der Dinge und ihrem konkreten historischen Gebrauch vorzustoßen. Dies lässt sich durch die Präsentation in Vitrinen, wo die Stücke nach Größe geordnet und nach Typen vereinzelt stehen, in der Regel nicht erreichen. Hier gilt es, der äußeren Form nach in Teil- oder Gesamtrekonstruktionen an das ursprüngliche Spiel zwischen dem System der Aufstellung und den Einzelformen zu erinnern, die immer wieder zu überraschenden Einsichten und Ansätzen führen, aus denen neue Fragen entstehen.

Die Ausstellung ist ein weiterer Versuch, zum Bedeutungskern der höfischen Mahlzeit vorzudringen. Sie zeigt keine Rekonstruktion konkreter, historisch fassbarer Situationen. Vielmehr veranschaulicht und interpretiert sie exemplarisch dem Studium verschiedenen Quellen entnommene Grundsituationen, wie sie geschichtlich aufeinander folgen und verschiedenen Epochen kennzeichnen. Eine gewisse Beschränkung war bei der Ausstellungskonzeption von vornherein beabsichtigt. So war es unser Anliegen, die Hauptentwicklung zwischen dem Mittelalter und dem 20. Jahrhundert in seinen Grundzügen aufzuzeigen und entlang einer chronologischen Abfolge zu entwickeln. Gleichzeitig wird auf die Elemente der Tafel verwiesen, die sich als Typen über die Jahrhunderte bewahrt haben und immer wieder in ähnlicher Weise und Absicht gebraucht werden.

Die Objektüberlieferung unterwarf die Ausstellung einer zeitlichen Beschränkung. Sie setzt im 16. Jahrhundert dann jedoch mit einer Fülle von Objekten ein. Nach den Religionskrie-gen und Notzeiten des Dreißigjährigen Krieges entstand zwischen 1680 und 1700 eine zweite Blüte materieller Kultur. Auch das 18. und 19. Jahrhundert sind in hervorragender Weise tradiert und lassen sich in all ihren Überlieferungssträngen darlegen.

Es sind gerade die Grenzterritorien der Fachdisziplinen der Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte, welche die besten Ergebnisse hervorbringen. Anliegen der Ausstellung ist es Verhaltensmuster offen zu legen, die überlebt haben, und scheinbar verborgene Dinge zum Sprechen zu bringen. Das gemeinsame Mahl ist sowohl im religiösen wie im soziologischen Bereich so eng mit unserer Geschichte verwoben, dass es eine große Distanz braucht, um diese als Gegenstand der Kulturgeschichte zu erkennen und in Erklärungsversuche einzubeziehen.

Hans Ottomeyer
Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums