Das Volk - der Souverän?
   
    Nach dem Aufstand des 17.Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
 
   
 
"Die Lösung" B.Brecht:Gedichte, Band 7, Berlin und Weimar 1969, S. 9.
 
     
 

Brechts Fragestellung aus dem Jahre 1953 wurde von der Regierung der DDR nicht beachtet, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß entschieden über die Verwirklichung demokratischer Grundrechte nachgedacht wurde.

Partei und Staatsführung waren sich, zumindest nach außen hin, einig: Am 17. Juni 1953 hatte die "Konterrevolution" auf den Straßen Berlins und anderer Städte der jungen DDR Gesicht gezeigt. Fortan wußte die Regierung: diesem Volk ist nicht zu trauen.

Denn die Forderungen nach besseren Lebensbedingungen, nach der Gewährung politischer Freiheiten und der Wiederherstellung der Deutschen Einheit durch freie Wahlen, machten deutlich, daß weite Kreise der Bevölkerung dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden die Legitimation entzogen hatten.

Das Volk als Souverän gilt als Erfindung der kulturellen und politischen Moderne. Rousseau, Kant und Fichte erklärten im geschichtlichen Kontext der Französischen Revolution das Volk zum eigentlichen Träger der Souveränität. Seine Macht sei unteilbar, unübertragbar, unbeschränkbar und unverjährbar: "Der Ursprung aller Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volk 2, keine Körperschaft und kein einzelner darf eine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich hiervon ausgeht", heißt es in Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.

Analog war es im Realsozialismus vorgesehen: die gesetzgebende Gewalt sollte allein vom Volke ausgehen, als dessen einzig legitimer Repräsentant sich die DDR-Regierung unter Führung der SED betrachtete. Der "erste sozialistische Staat auf deutschem Boden" sollte der "Staat des ganzen deutschen Volkes"3 sein; daraus wurde ein Staat, in dem der Ursprung aller Souveränität beim "werktätigen Volk" liegt. Dieses Volk war als ein Gebilde definiert, welches all "jene Klassen und sozialen Schichten der Gesellschaft [umfaßt], die daran interessiert und objektiv dazu fähig sind, den gesellschaftlichen Fortschritt zu verwirklichen."4

Die Legitimität des Führungsanspruches von Partei und Regierung wurde allerdings von Anfang an auf die angenommene Fähigkeit hin in Anspruch genommen, einen hohen Grad an Einsicht in den Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts zu besitzen, und war niemals auf der Basis freier Wahlen überprüft worden. Diese fehlende Legitimation setzte die verfassungsmäßig festgeschriebene Souveränität des werktätigen Volkes außer Kraft und machte sie durch die politische Praxis in der DDR vollends zur Farce.

"Die Souveränität des werktätigen Volkes ist das tragende Prinzip des Staatsaufbaus."(Artikel 47,Absatz 2, Verfassung der DDR) "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. (Artikel 1, Absatz 1, Verfassung der DDR) Die Führungsrolle der Partei war nicht nur in der gleichen Verfassung festgeschrieben, sondern durch ihre formale Stellung darin mit größter Priorität verankert. Problematischer noch: für die gesamte Entwicklung der DDR wurde durch die auf einer wissenschaftlichen Weltanschauung basierende Einsicht in die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei eine unheilvolle Zweck-Mittel-Rationalität in Gang gesetzt. "Die anderen Klassen oder Schichten oder Teile von diesen, deren Interessen gegen den historischen Fortschritt gerichtet sind, gehören in diesem Sinne nicht zum Volk, sondern zur Kategorie der Volksfeinde"5

Wer nicht subjektiv gegen den "Fortschritt"war, der war es eben objektiv, ganz gleich, ob er es wußte oder nicht, gleich auch, ob er es wollte oder nicht. Mit einem marxistisch-leninistischen Geschichtsverständnis im Rücken, welches den gesellschaftlichen Fortschritt als gesetzmäßige Abfolge betrachtete, waren letztlich jede Repression, jede Kampagne, jeder Prozeß und jedes Opfer zu rechtfertigen. Damit waren diejenigen, die am 17.Juni 1953 auf die Straße gingen, per Definition ihr eigener Feind - Volksfeinde.

Und so wurde in der Folgezeit alle Kraft daran gesetzt, Strukturen zu schaffen, die es dem Volk erschwerten, von seiner "Souveränität" Gebrauch zu machen. Bei genauerem Hinsehen ging es auch weder um "Volkssouveränität", noch um Menschen- oder Bürgerrechte, sondern um den "demokratischen Zentralismus". Die vorgebliche "Volkssouveränität" galt lediglich als das tragende Prinzip des Staatsaufbaus. Der "demokratische Zentralismus" dagegen war als das "Organisationsprinzip des bewußten und organisierten Vortrupps der Arbeiterklasse - der marxistisch-leninistischen Partei" auf die "straffe Planung und Leitung der Gesellschaft und die Konzentration aller gesellschaftlichen Kräfte auf die Lösung der sich aus den Volks-wirtschaftsplänen ergebenden Hauptaufgaben"6 ausgerichtet. Ein administrativ-bürokratisches System als Bestandteil der Verfassung der sozialistischen Gesellschaft.

In der DDR trat das Volk so auch nur wenige Male "souverän" in Erscheinung, immer dann, wenn das administrativ bürokratische System durchbrochen werden sollte. Viermal waren östliche Hoffnungen in die Brüche gegangen; viermal hatte der Westen tatenlos zugesehen: 1953,1956, 1961 and 1968. Nach dieser wiederholten Erfahrung mit dem Kopf gegen die Mauer zu laufen, fehlte den meisten der Mut. Nach dem Prager Frühling, als russische Panzer in der Hauptstadt der CSSR die geballte Macht des Staatssozialismus gegen den Souveränitätsanspruch eines Volkes demonstriert hatten, galt es als allgemeine Erfahrung, daß jedes Aufbegehren sinnlos ist. Die versuchte Versöhnung von Sozialismus und Demokratie, in der sich zum ersten und letzten Mal Demokratisierungsbewegungen von oben und unten begegneten, war gescheitert. An ernsthafte Reformen war nach 1968 nicht zu denken. Es entstand eine DDR, deren Herrschaft "fest im Sattel saß" und in der jede noch so konstruktiv gemeinte Kritik Gefahr lief, als Angriff auf die Machtfrage ausgelegt zu werden.

Es entstand zugleich eine DDR, in der beileibe mehr als nur ein verordneter Lebensstil machbar waren, und will man die zig Möglichkeiten, im Osten Deutschlands sein Leben zu fristen und auszugestalten, im Nachhinein schematisieren, bleibt man hoffnungslos hinter der tatsächlich gelebten Vielfalt zurück. Eine Vielfalt, die hinter der Fassade eines sozialistischen Alltags nicht verschwand, jedoch gründlich verborgen wurde. Am 4.11. sollte sie in einer einzigartigen Demonstration zum Ausdruck kommen.Die "friedliche Revolution" löste eine Welle von Emotionen aus, die keiner der Beteiligten so schnell vergessen sollte. Einer der Höhepunkte in der noch jungen Demonstrationskultur der DDR - sieht man einmal von den regelmäßig wiederkehrenden Pflichtveranstaltungen zum 1. Mai und zum 7. Oktober jeden Jahres ab - war die Demonstration vom 4. 11. 1989. Künstler und Kulturschaffende hatten unter der Organisationshoheit der "Initiativgruppe 4.11.89" zu einer friedlichen Demonstration aufgerufen, welche die Verwirklichung der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR einfordern sollte. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR sollte die Volkspolizei die Rolle einer Polizei des Volkes spielen und in einer Sicherheitspartnerschaft mit den Organisatoren den friedlichen Verlauf der Demonstration gewährleisten.

Am 4. 11. 89 wurde von der Sehnsucht nach einer gründlichen Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft ebenso Zeugnis abgelegt wie von der Vielfalt der Motive, Forderungen und Wünsche der DDR-Bürger in Bezug auf die politische Kultur und das alltägliche Leben in einer Deutschen Demokratischen Republik. Was sich im Oktober und November 1989 in dieser Deutschen Demokratischen Republik abspielte, ist heute Geschichte und Mythos zugleich. Geschichte, insofern es sich um einen historischen Prozeß handelte. Mythos, weil jede noch so sehr um Exaktheit und Intensität bemühte Erinnerung, jedes noch so genaue Protokoll den Geist jener Tage nicht mehr einholen kann - zu schnell ging der Prozeß, in dem die DDR zusammenbrach und schließlich verschwand, als das die Rekonstruktion der Geschehnisse mit dem Restgefühl von Flair und Stimmung der Aufbruchsmonate auch nur annähernd in Einklang zu bringen wäre. Was bleibt sind Geschichten und Legenden, sind Erinnerungen an schmerzhafte and freudige Erlebnisse und dieses wohl DDR-Bürgern vorbehaltene Gefühl, daß alles zu schnell vorbei war.

 
 
Was bleibt sind außerdem die Zeichen der großen Demonstrationen wie der vom 4. 11. 89.
 
 

 

   
   
  2 Im Original:"dans la nation"  
  3 Vgl.Wilhelm Pieck zur Disposition für die Regierungserklärung der ersten DDR-Regierung:"Die Regierung betrachtet sich als Repräsentanten des ganzen deutschen Volkes."  
  4 Philosophisches Wörterbuch, Hg.G.Klaus und M.Buhr, Leipzig, 1975, S.1269  
  5 ebenda  
  6 Philosophisches Wörterbuch, Hg.G.Klaus und M.Buhr, Leipzig, 1975, S.1323