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Brechts
Fragestellung aus dem Jahre 1953 wurde von der Regierung der
DDR nicht beachtet, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß entschieden
über die Verwirklichung demokratischer Grundrechte nachgedacht
wurde.
Partei und Staatsführung waren sich, zumindest nach außen hin,
einig: Am 17. Juni 1953 hatte die "Konterrevolution" auf den
Straßen Berlins und anderer Städte der jungen DDR Gesicht gezeigt.
Fortan wußte die Regierung: diesem Volk ist nicht zu trauen.
Denn
die Forderungen nach besseren Lebensbedingungen, nach der Gewährung
politischer Freiheiten und der Wiederherstellung der Deutschen
Einheit durch freie Wahlen, machten deutlich, daß weite Kreise
der Bevölkerung dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem
Boden die Legitimation entzogen hatten.
Das
Volk als Souverän gilt als Erfindung der kulturellen und politischen
Moderne. Rousseau, Kant und Fichte erklärten im geschichtlichen
Kontext der Französischen Revolution das Volk zum eigentlichen
Träger der Souveränität. Seine Macht sei unteilbar, unübertragbar,
unbeschränkbar und unverjährbar: "Der Ursprung aller Souveränität
liegt seinem Wesen nach beim Volk 2,
keine Körperschaft und kein einzelner darf
eine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich hiervon ausgeht",
heißt es in Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
von 1789.
Analog
war es im Realsozialismus vorgesehen: die gesetzgebende Gewalt
sollte allein vom Volke ausgehen, als dessen einzig legitimer
Repräsentant sich die DDR-Regierung unter Führung der SED betrachtete.
Der "erste sozialistische Staat auf deutschem Boden" sollte
der "Staat des ganzen deutschen Volkes"3
sein; daraus wurde ein Staat, in dem der Ursprung aller Souveränität
beim "werktätigen Volk" liegt. Dieses Volk war als ein Gebilde
definiert, welches all "jene Klassen und sozialen Schichten
der Gesellschaft [umfaßt], die daran interessiert und objektiv
dazu fähig sind, den gesellschaftlichen Fortschritt zu verwirklichen."4
Die
Legitimität des Führungsanspruches von Partei und Regierung
wurde allerdings von Anfang an auf die angenommene Fähigkeit
hin in Anspruch genommen, einen hohen Grad an Einsicht in den
Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts zu besitzen, und
war niemals auf der Basis freier Wahlen überprüft worden. Diese
fehlende Legitimation setzte die verfassungsmäßig festgeschriebene
Souveränität des werktätigen Volkes außer Kraft und machte sie
durch die politische Praxis in der DDR vollends zur Farce.
"Die
Souveränität des werktätigen Volkes ist das tragende Prinzip
des Staatsaufbaus."(Artikel 47,Absatz 2, Verfassung der DDR)
"Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer
Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation
der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse
und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. (Artikel 1, Absatz
1, Verfassung der DDR) Die Führungsrolle der Partei war nicht
nur in der gleichen Verfassung festgeschrieben, sondern durch
ihre formale Stellung darin mit größter Priorität verankert.
Problematischer noch: für die gesamte Entwicklung der DDR wurde
durch die auf einer wissenschaftlichen Weltanschauung basierende
Einsicht in die führende Rolle der marxistisch-leninistischen
Partei eine unheilvolle Zweck-Mittel-Rationalität in Gang gesetzt.
"Die anderen Klassen oder Schichten oder Teile von diesen, deren
Interessen gegen den historischen Fortschritt gerichtet sind,
gehören in diesem Sinne nicht zum Volk, sondern zur Kategorie
der Volksfeinde"5
Wer
nicht subjektiv gegen den "Fortschritt"war, der war es eben
objektiv, ganz gleich, ob er es wußte oder nicht, gleich auch,
ob er es wollte oder nicht. Mit einem marxistisch-leninistischen
Geschichtsverständnis im Rücken, welches den gesellschaftlichen
Fortschritt als gesetzmäßige Abfolge betrachtete, waren letztlich
jede Repression, jede Kampagne, jeder Prozeß und jedes Opfer
zu rechtfertigen. Damit waren diejenigen, die am 17.Juni 1953
auf die Straße gingen, per Definition ihr eigener Feind - Volksfeinde.
Und
so wurde in der Folgezeit alle Kraft daran gesetzt, Strukturen
zu schaffen, die es dem Volk erschwerten, von seiner "Souveränität"
Gebrauch zu machen. Bei genauerem Hinsehen ging es auch weder
um "Volkssouveränität", noch um Menschen- oder Bürgerrechte,
sondern um den "demokratischen Zentralismus". Die vorgebliche
"Volkssouveränität" galt lediglich als das tragende Prinzip
des Staatsaufbaus. Der "demokratische Zentralismus" dagegen
war als das "Organisationsprinzip des bewußten und organisierten
Vortrupps der Arbeiterklasse - der marxistisch-leninistischen
Partei" auf die "straffe Planung und Leitung der Gesellschaft
und die Konzentration aller gesellschaftlichen Kräfte auf die
Lösung der sich aus den Volks-wirtschaftsplänen ergebenden Hauptaufgaben"6
ausgerichtet. Ein
administrativ-bürokratisches System als Bestandteil der Verfassung
der sozialistischen Gesellschaft.
In
der DDR trat das Volk so auch nur wenige Male "souverän" in
Erscheinung, immer dann, wenn das administrativ bürokratische
System durchbrochen werden sollte. Viermal waren östliche Hoffnungen
in die Brüche gegangen; viermal hatte der Westen tatenlos zugesehen:
1953,1956, 1961 and 1968. Nach dieser wiederholten Erfahrung
mit dem Kopf gegen die Mauer zu laufen, fehlte den meisten der
Mut. Nach dem Prager Frühling, als russische Panzer in der Hauptstadt
der CSSR die geballte Macht des Staatssozialismus gegen den
Souveränitätsanspruch eines Volkes demonstriert hatten, galt
es als allgemeine Erfahrung, daß jedes Aufbegehren sinnlos ist.
Die versuchte Versöhnung von Sozialismus und Demokratie, in
der sich zum ersten und letzten Mal Demokratisierungsbewegungen
von oben und unten begegneten, war gescheitert. An ernsthafte
Reformen war nach 1968 nicht zu denken. Es entstand eine DDR,
deren Herrschaft "fest im Sattel saß" und in der jede noch so
konstruktiv gemeinte Kritik Gefahr lief, als Angriff auf die
Machtfrage ausgelegt zu werden.
Es
entstand zugleich eine DDR, in der beileibe mehr als nur ein
verordneter Lebensstil machbar waren, und will man die zig Möglichkeiten,
im Osten Deutschlands sein Leben zu fristen und auszugestalten,
im Nachhinein schematisieren, bleibt man hoffnungslos hinter
der tatsächlich gelebten Vielfalt zurück. Eine Vielfalt, die
hinter der Fassade eines sozialistischen Alltags nicht verschwand,
jedoch gründlich verborgen wurde. Am 4.11. sollte sie in einer
einzigartigen Demonstration zum Ausdruck kommen.Die "friedliche
Revolution" löste eine Welle von Emotionen aus, die keiner der
Beteiligten so schnell vergessen sollte. Einer der Höhepunkte
in der noch jungen Demonstrationskultur der DDR - sieht man
einmal von den regelmäßig wiederkehrenden Pflichtveranstaltungen
zum 1. Mai und zum 7. Oktober jeden Jahres ab - war die Demonstration
vom 4. 11. 1989. Künstler und Kulturschaffende hatten unter
der Organisationshoheit der "Initiativgruppe 4.11.89" zu einer
friedlichen Demonstration aufgerufen, welche die Verwirklichung
der Artikel 27 und 28 der Verfassung
der DDR einfordern sollte. Zum ersten Mal in der Geschichte
der DDR sollte die Volkspolizei die Rolle einer Polizei des
Volkes spielen und in einer Sicherheitspartnerschaft mit den
Organisatoren den friedlichen Verlauf der Demonstration gewährleisten.
Am
4. 11. 89 wurde von der Sehnsucht nach einer gründlichen Demokratisierung
der sozialistischen Gesellschaft ebenso Zeugnis abgelegt wie
von der Vielfalt der Motive, Forderungen und Wünsche der DDR-Bürger
in Bezug auf die politische Kultur und das alltägliche Leben
in einer Deutschen Demokratischen Republik. Was sich im Oktober
und November 1989 in dieser Deutschen Demokratischen Republik
abspielte, ist heute Geschichte und Mythos zugleich. Geschichte,
insofern es sich um einen historischen Prozeß handelte. Mythos,
weil jede noch so sehr um Exaktheit und Intensität bemühte Erinnerung,
jedes noch so genaue Protokoll den Geist jener Tage nicht mehr
einholen kann - zu schnell ging der Prozeß, in dem die DDR zusammenbrach
und schließlich verschwand, als das die Rekonstruktion der Geschehnisse
mit dem Restgefühl von Flair und Stimmung der Aufbruchsmonate
auch nur annähernd in Einklang zu bringen wäre. Was bleibt sind
Geschichten und Legenden, sind Erinnerungen an schmerzhafte
and freudige Erlebnisse und dieses wohl DDR-Bürgern vorbehaltene
Gefühl, daß alles zu schnell vorbei war.
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