10. Eine neue Zeit?

Im Zeitalter der Aufklärung wurde den Hexenverfolgungen zunehmend die prozessrechtliche Basis entzogen. Prozessgegner wie Christian Thomasius (1655-1738) stellten nicht mehr nur die Rechtspraxis in Frage, sondern sprachen aus aufklärerischem Impetus heraus dem Glauben an Teufel und Hexen grundsätzlich jede Berechtigung ab. Zwar könne - so Immanuel Kant - die Nichtexistenz der Unholde ebenso wenig bewiesen werden wie ihre Existenz, doch die eigene Urteilsfähigkeit weise dem Einzelnen den Weg aus Unwissenheit und Vorurteilen. Der Anbruch einer neuen Zeit also? Dies gilt sicher in dem Sinne, dass Aufklärung und Fortschritt tatsächlich einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Angst, Fanatismus und Gewalt eröffneten und das Ende der Hexenverfolgungen einleiteten.

Gleichwohl möchte die Ausstellung die Hexenverfolgungen nicht nur aus der historischen Distanz betrachten, sondern auch mögliche Verbindungslinien in die Gegenwart andeuten. Der Historiker Robin Briggs hat in diesem Zusammenhang vor einiger Zeit geschrieben, dass wir, um die Hexenverfolgungen überhaupt verstehen zu können, auch "einen sehr tiefen Blick in unser eigenes Inneres" werfen müssten. Wer sich mit den Hexenverfolgungen befasse - so Briggs - begegne sehr schnell sehr vielen Gründen, die verhindern dürften, dass das Irrationale jemals von der "Bühne der Geschichte" abtrete. Man erkenne dabei rasch die Zeitlosigkeit von Verschwörungstheorien: Jeder, der sie kritisiere, könne sofort in den Kreis der mutmaßlichen Verschwörer aufgenommen werden. Dies mussten frühe Kritiker der Hexenverfolgungen wie z. B. Cornelius Loos (1546-1596) am eigenen Leibe erfahren. Arthur Miller hat den Teufelskreis von Denunziation und Gewalt - vor dem Hintergrund der Kommunistenverfolgungen der sogenannten McCarthy-Ära in den USA der fünfziger Jahre - in seinem Theaterstück Hexenjagd eindringlich beschrieben. Briggs leitet daraus eine "Lehre aus der Geschichte" ab, die eine einfache Moral habe: "Sie soll zur Vorsicht auffordern."

Briggs nennt in diesem Kontext ein Beispiel aus unserer Gegenwart. Immer wieder erfahre man aus den Medien von Fällen, in denen Erwachsene, manchmal die eigenen Eltern - bei häufig unsicherer Beweislage - des Kindesmissbrauchs angeklagt würden. Bisweilen seien solche Anschuldigungen unhaltbar gewesen; doch vorausgegangen waren längst Stigmatisierung und Ausgrenzung. Wer sich dem Trend zum Irrationalen anschließe - so die Konsequenz, die Briggs daraus zieht - lade eine schwere Verantwortung auf sich, denn genau wie Jean Bodin mit seiner Démonomanie könnten auch heute Menschen mit Worten andere Menschen vernichten. Zwar drohe heute niemandem mehr das Schicksal, lebendig verbrannt zu werden, aber Montaignes Warnung sei noch genauso angebracht wie ehedem: "Man schätzt seine eigenen Vermutungen sehr hoch ein, wenn man deswegen einem anderen Menschen das Leben nimmt." So gehören zwar die Scheiterhaufen der Vergangenheit an, die zwischenmenschlichen Umstände, die sie ermöglichten, sind aber noch lange nicht aufgehoben.

In ihrem abschließenden Teil, der sich zwischen den Polen "Aufklärung/
Vernunft" (Kant) und "Suche nach Schutz und Sicherheit" (Schutzheilige) bewegt und ergänzt wird durch die Filmausschnitte im Raum "Grenzüberschreitungen", möchte die Ausstellung die Besucher an das nur schwer Fassbare eines Phänomens heranführen, bei dem es um das Ausrotten des als Böse Erachteten geht, wobei das ‚Ausmerzen des Bösen' selbst zum Bösen wird.

Das Thema der Hexenverfolgungen kann den Besucher dazu herausfordern, sich mit dem zu beschäftigen, was tief in unserem Bewusstsein schlummert: "Die Hexe kann der andere sein, aber der Hexenglaube lebt in uns selbst." (Briggs) RB

Literatur: In diesem Band: Jungblut u. a.; Geissler; Voltmer/Irsigler (Vorwort); Jungblut 2001; Briggs 1998 (Zitate S. 523f.)
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