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Zwar war der Reichskanzler theoretisch
nur vom Vertrauen des Monarchen abhängig - und also auch
durch Vertrauensentzug aus dem Amt zu entfernen -, doch faktisch
erstreckte sich seine Hausmacht von der von ihm manipulierten
Presse bis hin zu Prinz Wilhelm, den Bismarck in dieser Zeit für
sich eingenommen hatte.Die Beziehung Vickys zu ihrem Sohn, dem
späteren Kaiser Wilhelm II., war von Anfang an problematisch.
Nicht nur empfand sie seinen verkrüppelten Arm als Makel;
sie mußte auch erleben, daß in ihm kein zweiter Prinz
Albert heranwuchs. Ungeachtet seiner tapferen Versuche, seine
körperliche Behinderung zu überwinden, hatte sie fast
nie ein Wort der Ermutigung für ihn, sondern bestand auf
einer überaus strengen, fast brutalen Erziehung, die völlig
ungeeignet für ihn war. Sogar Queen Victoria befand, daß
sie zu hart mit Wilhelm umging.Wilhelm ersehnte sich die Liebe
und Anerkennung seiner Mutter, obwohl er fühlte, daß
er sie niemals gewinnen konnte. In gleicher Weise fühlte
er sich zu seinen englischen Verwandten und zu England hingezogen,
obwohl er zugleich versuchte, sich davon frei zu machen. Er war
dazu erzogen, englisch zu sprechen, England, das er vor 1914 fast
jedes Jahr besuchte, als seine zweite Heimat zu betrachten und
den Lebensstil des englischen Landedelmannes als höchstes
gesellschaftliches Ideal und dem deutschen Dasein als haushoch
überlegen zu akzeptieren. So widersprüchlich wie die
Gefühle seiner englischen Mutter gegenüber waren, die
er ablehnte und deren Bestätigung er doch suchte, waren auch
seine Gefühle für die britische Nation.
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