Auch die weniger strittigen Merkmale ihrer Herrschaft trugen natürlich zu ihrem Prestige bei. Bis zum Jahr 1897, als Victoria anläßlich ihrer außergewöhnlich langen, 60jährigen Amtszeit ihr diamantenes Jubiläum feierte, war das britische Imperium auf ein Viertel der Weltbevölkerung und fast ein Viertel der Landmasse der Welt angewachsen. Ein Großteil dieser territorialen Erweiterungen war seit Victorias Thronbesteigung erfolgt. Die Verheiratung ihrer Kinder mit Mitgliedern der angesehensten europäischen Herrscherhäuser hatte ihren Einflußbereich weiter ausgedehntInfolge dieser Entwicklung verschob sich auch die Suggestivkraft ihres Image in der letzten Phase ihrer Herrschaft, und aus der häuslichen Herrscherin wurde eine Matriarchin von imperialer Statur - die sogenannte "Großmutter Europas". Im Gegensatz zu Landseers Darstellung von Victorias jugendlicher Häuslichkeit in Windsor Castle in Modern Times (Abb. 6) von 1841-1845 präsentiert Laurit Tuxens 1887 entstandenes Gemälde Die Familie der Königin Victoria 1887 (vgl. Kat.Nr. I/4) die würdevoll thronende und von der Familienschar umringte Victoria als Mutterfigur von geradezu mythischem Ausmaß. Ihr Gesicht mit der typisch sauertöpfischen Miene, das anspruchslose schwarze Kleid und die weiße Haube mit dem Witwenschleier, die sie seit Alberts Tod zu tragen pflegte - all dies gerann zum Inbegriff einer ebenso hoheitsvollen wie schlichten, matriarchalischen Wohlanständigkeit. Ja es war dieser scheinbare Widerspruch zwischen majestätischer Größe und großmütterlicher Bärbeißigkeit, die die Verwandlung ihres Image erleichterte: Während die früheren Portraits ihre Popularität durch die Enthüllung von Ähnlichkeiten mit ihren Untertanen zu sichern trachteten, wurde Victoria nun zu "einem unzerstörbaren Symbol, das in ihrem schwarzen Kleid und weißen Schleier nicht weniger hoheitsvoll wirkte als ihre großen Vorgänger", wie Richard Ormond schreibt. Das Tragen der winzigen Kaiserkrone, die auf den Portraits Heinrich von Angelis von 1885 (vgl. Kat.Nr. V/1) und Benjamin Constants von 1899 (vgl. Kat.Nr. V/2) zu sehen ist, blieb denn auch Victorias einziges Zugeständnis an das Drängen ihrer Familie und Minister, sich zu dem kunstvolleren - und farbenfroheren - Aussehen zu bequemen, das ihnen in Victorias Stellung geboten schien. Hartnäckig bestand sie darauf, so abgebildet zu werden, wie sie war, und mochte keine Schmeicheleien mehr dulden. Infolgedessen zeichnen sich ihre späteren Portraits durch eine Beständigkeit und Wirklichkeitsnähe aus, die den früheren Bildnissen fehlt.
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