
Mensch und Maschine
Lotte Lasersteins Gemälde „Am Motorrad“
Julia Voss | 28. November 2025
In der Ausstellung „Natur und deutsche Geschichte. Glaube, Biologie, Macht“ zeigt das DHM ein ganz besonderes Werk von Lotte Laserstein: das Bildnis ihres Cousins „Am Motorrad”, gemalt im Jahr 1929.1 Kuratorin Julia Voss beleuchtet die Beziehung von Mensch und Maschine in den 1920er Jahren sowie das Leben der Künstlerin.
Kurt Lazaros steht darauf breitbeinig in seiner Werkstatt, vergräbt die Hände in den Taschen seiner Lederjacke und schaut aus dem Gemälde. Im Hintergrund reiht Laserstein Utensilien auf, die gebraucht werden, um ein Motorrad instand zu halten: Ölfläschchen, Kabel, ein Kompressor zum Aufpumpen der Reifen. Alles scheint bereit für die Abfahrt. Mehr noch: Die Künstlerin malt Lazaros und sein Motorrad, eine NSU 251 R, Ton in Ton. Das Motorrad gleicht sich Lazaros an, Mensch und Maschine verschmelzen zum modernen Kentauren.

Für Laserstein war eine besondere Zeit angebrochen. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die an der Berliner Kunstakademie studierten. Sie schloss 1927 mit Auszeichnung ab. Im deutschen Kaiserreich war Frauen der Zutritt untersagt gewesen, in der Weimarer Republik eröffneten sich völlig neue Möglichkeiten.
Laserstein schöpfte aus dem Vollen. Sie schuf ein überraschendes Bild nach dem anderen, von Menschen und Szenen, die neu in der Kunstgeschichte waren. Zu schnell war behauptet worden, es sei bereits alles gemalt worden. Zu früh wurde der Abgesang auf die Gegenständlichkeit angestimmt. Laserstein porträtierte eine Tennisspielerin mit Herrenhaarschnitt, die eine Pause am Platzrand einlegt, die Nachmittagssonne wirft theatralische Schatten. Sie malte sich selbst in ihrem Berliner Atelier, einen weißen Kittel tragend, im Hintergrund die Großstadt, im Vordergrund ihr Lieblingsmodell Traute Rose, liegend als Akt. Sie zeigte samt Motorrad ihren Cousin, der mit seinen schönen großen Augen der Künstlerin so sehr glich, dass einige glaubten, dass Gemälde sei ein Selbstporträt.
Historisch hält die ungewöhnliche Darstellung eine wichtige Etappe in der Industrialisierung fest: Die Motorisierung zog ins Privatleben ein. Das Bild der Natur änderte sich, als Autos und Motorräder die modernen Ausflügler an den Landschaften vorbeifliegen ließen. Und auch das Selbstbild wurde ein anderes. Was als Natur des Menschen galt, musste ebenfalls neu definiert werden.
„Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden“, urteilte der österreichische Arzt und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud in seinem berühmten Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur von 1930. „Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe“, so Freud weiter, „die Motoren stellen ihm riesige Kräfte zur Verfügung, die er wie seine Muskeln in beliebige Richtungen schicken kann […].“2 Technik und Wissenschaft hatten nach Freud eine Reihe „Hilfsorgane“ hervorgebracht, von der Brille über das Mikroskop bis zu Telefon, Schiff, Flugzeug, Automobil oder Motorrad. Die Erfindungen ließen den Menschen, der in der Evolution „zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat“, über sich hinauswachsen.
Freud kannte Lasersteins Bild nicht, und doch lassen sich seine Beobachtungen wie ein Kommentar zu ihrem Gemälde lesen. Beide wurden Zeugen der gleichen Entwicklungen des Technikzeitalters. In Zahlen: Von 1921 bis 1931 erhöhte sich die Anzahl von Motorrädern in Deutschland von knapp 26.700 auf rund 800.000 Maschinen. Auch die Anzahl der Pkw nahm kontinuierlich zu. Zwischen 1924 und 1932 vervielfachte sich der Bestand im Deutschen Reich von rund 132.000 auf über 497.000. Die Neckarsulmer Fahrzeugwerke AG (NSU) produzierten als erstes deutsches Unternehmen Motorräder am Fließband. Die 1927 gebaute NSU 251 R, die Laserstein malte, war ab Werk mit einem 250-ccm-Motor ausgestattet. In Berlin wurde auf dem vielbefahrenen Potsdamer Platz 1924 die erste Ampelanlage Deutschlands in Betrieb genommen.

Nur ein Jahr darauf war der vorsichtige Optimismus, der in Lasersteins Am Motorrad anklingt, verschwunden. 1930 malte sie Abend über Potsdam, ein großformatiges Gruppenporträt und melancholischer Abschied von Berlin als Stadt des Aufbruchs und der Freiheit.
Für Laserstein änderte sich von 1933 an alles. Als Jüdin wurde sie aus dem Berufsverband für Künstlerinnen und Künstler ausgeschlossen und erhielt bald Ausstellungsverbot. Die Nationalsozialisten verfemten ihre Gemälde als „entartet“. Aus Berliner Museumsbesitz wurde ihr Bild Im Gasthaus beschlagnahmt.
Als sie 1937 eine Einladung erhielt, in der Galerie Moderne in Stockholm auszustellen, verließ sie Deutschland und kehrte nie wieder zurück. Laserstein bemühte sich vergeblich, ihre Mutter und Schwester nach Schweden zu holen. Die Mutter Ida wurde 1943 im KZ Ravensbrück ermordet. Die Schwester Käte überlebte traumatisiert in einem Berliner Versteck und kam erst 1946 nach Schweden. Was aus Kurt Lazaros wurde, ist bisher unbekannt. Laserstein starb 1993 in der südschwedischen Küstenstadt Kalmar, im Alter von 94 Jahren.
Die deutsche Kunstgeschichte nach 1945 überging Laserstein und glaubte, ihre Gemälde außen vor lassen zu können. Wann sich das in Deutschland änderte? Als 2003 in Berlin die bahnbrechende Ausstellung Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit gezeigt wurde. Die Schau verdankte sich den unermüdlichen Forschungen der brillanten Kunsthistorikerin Anna-Carola Krausse und dem leidenschaftlichen Engagement des von Frauen geführten, privaten Berliner Vereins „DAS VERBORGENE MUSEUM“. Die Ausstellung wurde zum Wendepunkt.
Heute zählt Lotte Laserstein wieder zu den berühmtesten Künstlerinnen der Weimarer Republik.
[1] Zu Laserstein im Allgemeinen und dem Gemälde im Besonderen vgl. Anna-Carola Krausse, Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit, 2. aktualisierte Auflage, Berlin 2022, S. 91f.
[2] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften [1930], Frankfurt a. M. 2007, S. 56f.