Nur am 8. Mai? Tage der Befreiung in Europa

Axel Bangert | 25. Juni 2025

Seit Richard von Weizsäckers berühmter Rede von 1985 wird der 8. Mai in Deutschland überwiegend als Tag der Befreiung begangen. Befreit wurden – über einen viel längeren Zeitraum, der 1943 begann und mit dem 8. Mai 1945 nicht endete – jedoch zunächst die von Deutschland besetzten Länder Europas, die ersten Konzentrations- und Vernichtungslager, die Opfer des NS-Regimes. Dabei entstanden in Europas Städten Bilder der Befreiung, die über die Widersprüchlichkeiten des Kriegsendes Aufschluss geben. Eine Miniserie.

Teil III: Paris

Am 7. Mai 1945 wurde im französischen Reims, dem Hauptquartier der westalliierten Streitkräfte, die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnet. Sie trat am folgenden Tag um 23:01 Uhr in Kraft. Seit 1981 ist der 8. Mai in Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa ein nationaler Feiertag in Frankreich. Prägender für die französische Erinnerung an das Kriegsende war jedoch ein anderes Ereignis: Befreiung von Paris am 25. August 1944 und der Triumphzug durch die Stadt tags darauf. Unter dem Jubel von Zehntausenden Pariserinnen und Pariser marschierte General de Gaulle, der Kopf der Freien Französischen Streitkräfte und der Provisorischen Regierung der Französischen Republik, in Begleitung von Mitgliedern der Résistance über die Champs-Élysées. Unter dem Triumphbogen legte de Gaulle am Grab des unbekannten Soldaten einen Kranz nieder – ein bis heute vom französischen Staatsoberhaupt am 8. Mai wiederholtes Ritual. Es war eine symbolträchtige Inszenierung, die de Gaulles politischen Führungsanspruch ebenso festigte wie den Mythos der Résistance.

Generaloberst Alfred Jodl unterzeichnet die Gesamtkapitulation in Reims, 7. Mai 1945 © Franklin D. Roosevelt Library, gemeinfrei, über Wikimedia Commons

Dass die Befreiung von Paris eine solche Strahlkraft entfaltete, lag nicht zuletzt an den Bildern, die davon um die Welt gingen: die Straßengefechte der Résistance mit den deutschen Besatzern, das von amerikanischen Truppen begleitete Einrücken der französischen 2. Panzerdivision unter General Leclerc in die Stadt, und wie die Bevölkerung ihre Befreier freudestrahlend begrüßte – all dies wurde in zahlreichen Fotografien und Filmen festgehalten. Französische Zivilisten und Mitglieder der Résistance, alliierte Militärfotografen und diverse Kriegsberichterstatter – darunter so prominente Namen wie Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Ralph Morse und Lee Miller – schufen Aufnahmen, die weit über Frankreich hinaus Verbreitung fanden und zu Ikonen des Kriegsendes wurden.

Fahrzeuge der 2. Panzerdivision auf den Champs-Élysées, 26. August 1944 © Library of Congress, gemeinfrei, über Wikimedia Commons

Inzwischen werden die Bilder der Befreiung von Paris vermehrt daraufhin befragt, inwiefern sie die geschichtlichen Abläufe überhöht oder unvollständig darstellen. Damit rücken jene Narrative in den Fokus, die wesentlich zur Heroisierung der Befreiung beitrugen und das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg im Nachkriegsfrankreich lange Zeit bestimmten.

Dies betrifft vor allem die Idee einer eigenständigen Befreiung von der deutschen Besatzung, die de Gaulle in seiner berühmten Rede vor dem Pariser Rathaus am 25. August 1944 folgendermaßen formulierte: „Paris! […] Befreit durch sich selbst, befreit durch sein Volk unter Mitwirkung der Armeen Frankreichs, mit Unterstützung und Hilfe ganz Frankreichs!“ Doch kam es bei der Befreiung der Stadt maßgeblich auf die Unterstützung der Westalliierten an, die ursprünglich geplant hatten, Paris zu umgehen, um möglichst schnell weiter in Richtung deutsche Grenze vorzurücken. Nachdem es in Paris zu einem Generalstreik und einem bewaffneten Aufstand gekommen war, überzeugte de Gaulle Eisenhower davon, Paris einzunehmen und dabei französische Truppen an der Spitze marschieren zu lassen. Die Bilder von der Parade auf den Champs-Élysées erscheinen vor diesem Hintergrund auch als Ausdruck von de Gaulles politischem Kalkül, Frankreich als Siegermacht zu inszenieren.

Treffen zwischen Eisenhower und de Gaulle am 21. August 1944 in der Normandie © U.S. National Archives and Records Administration, Bild-Nr. 176888762, gemeinfrei

Die Bilder der Befreiung von Paris trugen ferner dazu bei, die zentrale Rolle der Résistance im Geschichtsbild des Nachkriegsfrankreichs zu verankern. Beinahe unsichtbar blieb dabei, dass sich das Land nicht nur von der deutschen Besatzungsmacht, sondern auch vom eigenen Kollaborationsregime befreien musste. 1944/45 kam es in den befreiten Teilen des Landes zu spontanen Racheakten gegen Kollaborateure, der sogenannten „épuration sauvage“ („wilden Säuberung“). Frauen, die der „horizontalen Kollaboration“ – also intimer Beziehungen mit deutschen Besatzern – beschuldigt wurden, wurden öffentlich gedemütigt, indem man ihnen das Kopfhaar scherte und sie auf Straßen und Plätzen dem Zorn der Bevölkerung preisgab. Bilder solcher Aktionen stehen in scharfem Kontrast zur Zelebrierung nationaler Einheit in den Pariser Befreiungsbildern. Der Welle des Zorns folgte recht bald Vergessen und Verdrängen. Die Auseinandersetzung mit der Kollaboration fokussierte sich auf die Führungsriege des Vichy-Regimes; viele wegen des Verdachts auf Kollaboration Internierte kamen nach Kriegsende wieder frei. Das Amnestiegesetz von 1953 machte deutlich, dass Frankreich sich nun dem Wiederaufbau widmete.

Französische Soldaten schneiden einer Kollaborateurin die Haare ab, 24. November 1944 © DHM, Inv.-Nr.: Ph 2009/381

Während die Menschen in Paris feierten, hatten Krieg und Gewalt in anderen Teilen des Landes noch lange kein Ende. Am selben Tag, als die Hauptstadt befreit wurde, ermordeten deutsche Soldaten in der Ortschaft Maillé bei Tours 124 Zivilisten. Bis zur Kapitulation in Reims forderten die Schlachten um Metz, die Vogesen und das Elsass auf alliierter und deutscher Seite zehntausende Opfer. Bei den Kämpfen um Colmar Anfang 1945 fielen Tausende französische Soldaten. Erst nach dem 8. Mai 1945 kapitulierten die deutschen U-Boot-Stützpunkte La Rochelle und Saint-Nazaire an der Atlantikküste.

Wie im Ersten Weltkrieg kämpften auch im Zweiten Weltkrieg viele Kolonialsoldaten aus West-, Zentral- und Nordafrika für Frankreich. In einigen Einheiten der Freien Französischen Streitkräfte bildeten sie sogar die Mehrheit. Nach der Landung alliierter und französischer Truppen in Südfrankreich begann im Herbst 1944 das sogenannte „Blanchiment“ („Weißmachen“): Etwa 20.000 afrikanische Soldaten wurden aus den Frontdivisionen abgezogen und durch Widerstandskämpfer der Französische Streitkräfte des Inneren sowie französische Freiwillige ersetzt. Der Forderung de Gaulles, Paris solle von französischen Truppen befreit werden, entsprach Eisenhower nur unter der Bedingung, dass diese ausschließlich aus weißen Soldaten bestünden. Auf den Pariser Befreiungsbildern ist deshalb kaum eine Spur der schwarzen Kolonialsoldaten zu finden, die wesentlich dazu beitrugen, Frankreich zurückzuerobern.

Ein Posten senegalesischer Schützen in den Vogesen, November 1944 © Louis Viguier/ECPAD/Défense

Stilisierung zur Siegermacht, Konzentration auf den Widerstand anstatt auf das schmerzhafte Kapitel der Kollaboration, Ausblendung von Verdienst und Opfer der Kolonialsoldaten – die Bilder der Befreiung von Paris verdeutlichen und verdecken zentrale Aspekte des Kriegsendes in Frankreich. Dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch das französische Kolonialreich ins Wanken geriet, hatte in der heroischen Erzählung der Selbstbefreiung von der deutschen Besatzung keinen Platz. Doch kaum war der Krieg mit der Kapitulation Japans am 2. September 1945 endgültig beendet, geriet Frankreich in eine neue Phase kriegerischer Auseinandersetzungen – diesmal um den Erhalt seines Kolonialreichs, insbesondere in Indochina und Algerien.

Axel Bangert

Dr. Axel Bangert ist wissenschaftlicher Kurator für Westeuropa des Dokumentationszentrums „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung in Europa“ (ZWBE) am Deutschen Historischen Museum.