> Napoleons Russlandfeldzug 1812

Napoleons Russlandfeldzug 1812

Am 24. Juni 1812 überschritt eine gewaltige Armee unter dem Befehl von Napoleon I. (1769-1821) die Grenze des russischen Zarenreiches. Napoleon hoffte zu Kriegsbeginn auf einen kurzen Feldzug mit einer raschen Entscheidungsschlacht, die den Willen des Zaren brechen und ihn an den Verhandlungstisch zwingen sollte. Auf den russischen Rückzug der verbrannten Erde war der französische Kaiser jedoch nicht vorbereitet. Als die ramponierten Reste seiner geschlagenen Armee im Dezember 1812 die Grenze Russlands in entgegengesetzter Richtung erneut überquerten, hatte das Ende von Napoleons Herrschaft über Frankreich und Europa begonnen.

Im Frieden von Tilsit hatten Frankreich und Russland 1807 ein Bündnis geschlossen, das die Vorherrschaft der beiden so unterschiedlichen Mächte auf dem europäischen Kontinent für Jahrzehnte zu zementieren schien. Anschließend bekundeten Napoleon I. und Zar Alexander I. (1777-1825) immer wieder öffentlich ihre tiefe Verbundenheit zueinander, persönlich zuletzt auf einem Treffen in Erfurt im Herbst 1808. Doch alle Schmeicheleien überdeckten schon dort die unüberwindbaren Gräben, die sich in den nächsten Jahren zwischen Napoleon und Alexander immer tiefer auftaten. Bereits vor der Abreise nach Erfurt hatte der Zar prognostiziert: "In Europa ist kein Platz für uns beide."

Die Gründe für das zunehmende Misstrauen und die politischen Spannungen waren vor allem Alexanders Sorge, Napoleon könne ein Königreich Polen gründen und so Unruhe unter der polnischen Bevölkerung Westrusslands auslösen. Zudem regte sich unter der russischen Bevölkerung eine wachsende Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen Folgen der von Frankreich gegen Großbritannien verhängten Kontinentalsperre. Spätestens nachdem sich Russland Ende 1810 der Kontinentalsperre entzogen hatte, waren sowohl Napoleon als auch Alexander von der Unausweichlichkeit eines Krieges überzeugt. In den folgenden Monaten konzentrierte der russische Generalstab rund 225.000 Soldaten seiner drei Westarmeen direkt an der Grenze zum Großherzogtum Warschau, in dem sich im Frühling 1812 eine gewaltige napoleonische Streitmacht sammelte. Die Sollstärke dieser Grande Armée belief sich auf dem Papier auf rund 590.000 Mann, tatsächlich waren es schließlich nicht mehr als 300.000 bis 350.000 Soldaten, die in der ersten Angriffswelle vom 24. bis 26. Juni 1812 den Grenzfluss Njemen (deutsch: Memel) überquerten und ohne Kriegserklärung in Russland einmarschierten.

Napoleons Armee bestand neben Franzosen überwiegend aus Soldaten unterworfener und verbündeter Nationen, vor allem aus Deutschen, Polen, Österreichern, Italienern, Schweizern, Holländern, Spaniern und Portugiesen. Ihnen folgten Zehntausende Zivilisten: Diener, Kutscher und Burschen der Offiziere, Händler und Marketenderinnen, Abenteurer und Glücksritter, Ehefrauen, Geliebte und Prostituierte. Sie alle erwartete in Russland Hitze, Staub, Strapazen, Hunger, Durst, Gewalt und Tod. Schon in den ersten Wochen starben die Menschen zu Zehntausenden an Krankheiten wie Ruhr und Typhus oder an Erschöpfung. Der vollkommen unzureichenden Nachschubversorgung fielen auch Pferde massenhaft zum Opfer: Ungezählte Leichen und Pferdekadaver säumten den Weg der französischen Hauptstreitmacht auf ihrem Vormarsch, ohne dass es zu nennenswerten Kampfhandlungen mit der sich rasch ins Landesinnere zurückziehenden russischen Armee gekommen war. Nur am 7. September 1812 trafen beide Hauptarmeen bei Borodino im direkten Kampf aufeinander und hatten anschließend rund 80.000 Tote und Verwundete zu beklagen. Erst mehr als 100 Jahre später bei der Schlacht an der Somme 1916 sollten wieder so viele Soldaten Opfer eines einzigen Tagesgefechtes werden.

Der endgültige Entschluss Napoleons, in Moskau einzumarschieren, fiel nach dieser gewaltigsten Schlacht des Feldzugs. Am 14. September erreichten erste französische Einheiten Moskau, das von den Russen gezielt in Brand gelegt wurde. Rund einen Monat später verließ die auf rund 95.000 Mann zusammengeschrumpfte Hauptstreitmacht die Stadt auf der Suche nach einem Winterquartier zurück nach Westen - zu spät, um dem russischen Winter und der reorganisierten Armee des Zaren zu entkommen. Der zum Teil in panische Flucht umgeschlagene Rückzug war schließlich begleitet von Schnee und eisiger Kälte, Habgier und Entmenschlichung, Hunger und Kannibalismus. Wer Kosakeneinheiten oder einheimischen Bauern in die Hände fiel, dem drohten blutige Misshandlung und ein brutaler Tod. Seuchen, Entkräftung und Erfrierungen sowie ständige feindliche Angriffe besiegelten den Untergang der Grande Armée, von der nur wenige Tausend Mann überlebten. Napoleon selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits ohne seine Truppen im Schlitten nach Paris zurückgeeilt. Die russischen Verluste waren mit ebenfalls rund 500.000 toten Soldaten und Zivilisten nicht weniger dramatisch.

Mit dem Desaster in Russland brach Napoleons europäisches Herrschaftssystem zusammen. Angesichts des russischen Vormarschs nach Westen erfolgte am 17. März 1813 die preußische Kriegserklärung an Frankreich, am 12. August folgte Österreich. Im Oktober 1813 wurde Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig entscheidend geschlagen, die langjährige französische Herrschaft in Deutschland war damit beendet.

Arnulf Scriba
Juni 2018

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