> Christa Ronke: Auszüge aus meinem Tagebuch 1945

Christa Ronke: Auszüge aus meinem Tagebuch 1945

Dieser Eintrag stammt von Christa Ronke (*1929 ) aus Berlin, Dezember 2008 :

Donnerstag, 18. Januar

[...] Politik: Die Winteroffensive hat im Osten begonnen am 10.1. Die Russen kommen sehr schnell vorwärts. Am 16.1. nahmen sie kampflos Warschau am 18.1. Lotsch u. Krakau. Am 21.1. Tilsit. Sie stehen am 22.1. zwischen Weichsel u. Warthe vor Thorn (knapp 200 km v. Stolp) u. bei Rempken 75 km vor Breslau. In Stolp kommen dauernd Flüchtlingszüge durch. Handelsschule Gymnasium geschlossen. Bei Frl. Witomski ist die Cousine u. der Onkel aus Posen gek. Posen mußte innerhalb 2 Std geräumt werden. Treten üble Gerüchte auf z.B. Lauenburg geräumt, sind in Breslau u. s. wir rechnen, daß wir höchstens noch 8 Tage hier sind. [...] D-Züge gehen nicht mehr. Ich will mit Ruth Hilmers zusammen die 10 Std. nach Berlin fahren, bevor alle rausmüssen. Ruths Eltern haben Güter bei Marienwerder u. Königsberg geräumt. Sie weiß nicht, wo ihre Eltern sind. Will sich mit ihnen in Berlin treffen. Man lebt nur noch von einem Wehrmachtsbericht zum anderen u. verfolgt die Karten. Wir nutzen hier noch alles aus. Mutti schrieb heute, daß Vati einen Transport Richtung Wien augenblicklich bringt. Ich bin gespannt, was heute in einer Woche ist. [...]


Montag. 22. Januar

8 G. Kälte. Am 8. Ruth Hilmers angerufen. Ihre Mutter ist plötzlich gek. Sie fährt heute mit Auto weiter. Sie sagte, ich soll so schnell wie möglich raus. Das 1. Volkssturmbatallion ist nach Neustettin abmarschiert. Vor Schneidemühl ständen die Russen. [...] Auf der Polizei. Wollte mir Reiseerlaubnis holen doch keiner kommt raus. Dann zum Bann. Schreibtisch ausgeräumt. Packte lauter Briefe mit Fotos, Briefpapier u.s.w. M. gab es Hühnchen und eine Masse Birnen. Wehrmachtsbericht: Russen kämpfen vor Öls (ganz dicht bei Breslau) vor Posen u. haben Allenstein, dsch.(=deutsch) Eylau genommen. N. Wollte auf der Post die Briefe einstecken. Doch geht kein Brief mehr, nur Karten. [...]


Mittwoch, 24. Januar.

Mit F. Muhl u. Renate in der Stadt. F. Muhl versuchte Reiseerlaubnis zu bek. Doch keiner kommt raus; außer natürlich Parteileute. F. Muhl weiß nicht, was sie machen soll. Wir wollen morgen flüchten. M. Gab eingelegtes Wildfleisch. N. Mit Omi im Kino: Der gebieterische Ruf. Hatte ihn schon mal gesehen. Sehr gut. A. F. Muhl kriegt vielleicht 4 Karten nach Stettin v. einer Bahnbeamtin. Wir seelig. Schnell gepackt.


Montag, 29. Januar

[...]Letzter Tag in Stolp. F. Muhl 4 Karten bis Stettin geholt. Um ¼ 1 mit Wagen u. Koffer drauf zum Bahnhof. [...] Endlich um ¼ 4 fuhr der Zug ab. Er fuhr sehr langsam u. durch die Ritzen zog es sehr. Bis Köslin brauchte er fast 4 St. Unsere Füße waren Eisbeine. Um den Rücken hatten wir abwechselnd eine Decke. [...] Der Zug hielt oft eine Ewigkeit. Um ¼ 8 waren wir in Belgard. Dort ging ich draußen austreten u. mit dem Soldaten Kaffee holen. Der Zug hielt 3 Std. Es war eine klare, kalte Nacht. Endlich ging's weiter. [...]. Am Morgen dachten wir, wir wären in Stargard; doch um 8 landeten wir erst in Kuhnow. Ich hatte einen dicken Schnupfen, u. musste nötig groß. Wir hielten wieder ne Ewigkeit. Da plötzlich kam mir der Gedanke einfach alleine auszusteigen, denn ich fror zu sehr u. der Zug hielt ja mehr. F. Muhl gab mir noch meine Fahrkarte nach Stettin u. meine Lebensmittelkarten u. dann verabschiedete ich mich. Auf einem andern Bahnsteig stand ein Personenzug nach Stettin. Ich rasste ihn ein paar Male ab; doch vergeblich. Überfüllt. Na, denn eben nicht. Ging in den Wartesaal u. aß meinen letzten Proviant auf. [...] Bald kam wieder ein Personenzug voller Flüchtlinge. Wieder alles überfüllt. Ich fragte noch mal überall. Da guckte ein älterer Mann aus dem Toilettenfenster, der mir sagte in der Toilette wäre noch ein Platz frei. Ich seelig. Immer rein. [...]

Bahnhofssoldaten brachten den Flüchtlingen Kaffee u. s. w. Plötzlich kam ein Soldat auf mich zu. Ich hätte ihn nie erkannt. Es war Hans Günter Neuhoff. Er erzählte allerhand. Hatte auch noch eine ewige Reise vor sich. Endlich um 5 Uhr dampfte unser Zug ab. Das Toilettenfenster war leider kaputt, nur Pappe. Also machten wir das Fenster u. Türe zu, und es wurde dunkel. Eine furchtbare Nacht erwartete mich. Ich saß teilw. auf meinem Koffer u. auf der Toilette, [...] Es war ganz dunkel u. durch die Pappritzen zog es sehr, daß wir die Tür zur Toilette zumachen mußten, der kl. Kinder wegen. Eine Dame borgte mir zum Glück ihren Mantel. [...] Geschlafen habe ich natürlich keine Minute...


Montag, 23. April

Heute Nacht haben wir bei Frl. Dittmar geschlafen, weil die Flak sehr laut schießt u. wir auch mit Artillerie u. Flieger rechnen müssen. In dem einen Zimmer schlafen Hans-Jörg Kohnke mit Mutter, Frl. Siekert, Mutti u. ich. Es ist mal was anderes! Bis 3 Uhr nachts haben wir alle nicht geschlafen, da die Flak u.s.w. so laut gebummert hat. Um 6 klingelte der Wecker. Wir sind alle Mann aufgest. u. zur Mühle geg. 2 Std. nach Brot anstehen. Die Flak schoß wahnsinnig laut. Mit Mutti in Onkel Toms Hütte Beim Fleischer Nr. fürs anstehen bek. Bei G. Schlegel 24 Zigaretten gegen 180 g Schmalz eingetauscht. Mit Hans Jörg nach Äpfel angest. [...]


Mittwoch, 25. April

Inzwischen hat sich viel ereignet. Vati rief vorgestern an, daß er noch zu uns kommt. Gott sei dank er hat sich durchgeschlagen. Am Nachmittag kam er an mit dem Rest seines Batallions (16 Mann). Hohenschönhausen hat furchtbar unter Artilleriebeschuß gelitten. Vati hat sich mit einem Damenrad mit seinem Melder durchgeschlagen. Ebrecht (der Gärtner) ist schwerverwundet in Gefangenschaft. Oberl. Bohn, März auch in Gefangenschaft. Ganpak war zu fällig beim Kursus bei Nauen. Wir haben unten bei Frl. Dittmar gesessen und schön gegessen. Die andern 5 unserer Hausgemeinschaft haben auch feste abbekommen. Der Melder (sehr nett) schlief im kleinen Zimmer. Ich habe mich malso richtig satt gegessen. Den Verpflegungswagen hatten sie Gott sei dank noch gerettet. Vati brachte 3 große Speckstücke, 4 Dauerwürste 2 Brote Butter u.s.w. mit. In der Nacht haben wir oben geschlafen. Um ½ 6 ging leichtes Artillerieschießen los über Dahlem/Zehlendorf. Wir rasten alle in den Keller. Es dauerte 2 Std. Vati fuhr dann früh wieder ab. [...]

Die Nacht über schliefen wir alle auf Madratzen im Luftschutzkeller. Ich schlief durch bis 6 Uhr. In der Nacht soll es furchtbar geschossen mit Maschinengewehren u.s.w. F. Kohnke sagte, die Russen wären da. Ich ging raus u. hörte Stimmengewirr. Es war unheimlich. [...] Gegen Mittag, war ich gerade in der Küche, sah ich 3 Soldaten kommen. Ich rief die andern u. es waren die ersten Russen. Etwas später bummerte es an die Tür. 3 Russen. Der erste sah gut aus u. war auch sehr nett. Sie fragten nach Uhren. Schnaps wollten sie nicht. Sie nahmen mein Fernglas ab, sahen durch, und gaben es mir wieder. Sie gingen dann raus. Gleich darauf kamen die nächsten. Ein ekelhafter am Auge verwundeter Soldat kam auf mich zu und nahm mich raus. Mutti wollte noch abwehren, aber es half nichts. [...] Jedenfalls war es furchtbar. Nachher raste ich wieder in Frl. Dittmars Zimmer, wo die anderen voller Angst mich erwarteten. Frl. Schaffer hatten sie auch vorgenommen. Sie hatte sich aber gewehrt, und war deshalb gewürgt u.s.w. worden. Jedenfalls kommen alle 5 Min. neue Russen an. Zuerst fragten alle nach Uhren. Frl. Siekert nahmen sie sich auch vor. Es wurde uns zu bunt und wir beschlossen, wegzugehen. Schnell packten wir das allernötigste u. verließen im Dämmern das Haus. Wir wollten erstmal zu T. Eva. Kamen an vielen Russen vorbei; doch sie taten uns nichts. In der Sundgauerstr. standen die Panzer in den Gärten. Verwüstungen u.s.w. Als wir kurz vor T. Eva waren, kamen uns anständige Russen entgegen, die uns sagte dort "bum bum". Wir kehrten wieder um, und wollten zu Franzkes. Unterwegs trafen wir noch einen dt. Soldat. Jetzt klingelten wir einfach an ein Haus und konnten netterweise dort unterkommen. Mutti und ich schliefen im Luftschutzkeller, die andern oben. Es war für Dahlem eine furchtbare Nacht: Gut, daß wir rausgegangen sind, denn wir haben gut geschlafen. Was die andern erzählten. Sie sollen Frauen u. junge Mädchen furchtbar vergewaltigt haben. Eine Frau 10x. man kann es garnicht beschreiben. Und geplündert! Alles über den Haufen geschmissen, zertöbbert u.s.w.


Donnerstag, 26. April

Morgens wollten wir noch mal zurück zum Haus. Doch vor der Schützallee allen trafen wir lauter Flüchtlinge. Die sagten, bloß raus! Einem Trupp, den ein Professor, der etwas Russisch konnte, führte, schlossen wir uns an und gingen gen Westen. Frl. Siekert ging alleine weiter. Als wir in der Schillerstr. (Schlachtensee) waren, bot uns eine Dame ihr großes Villenhaus als Quartier an, denn es war kein Weg mehr frei, um rauszukommen. Wir waren ungefähr 40 Leute alle meist Ihnestr., Garystr. und Hüttenweg. Alle schliefen in zwei Kellerzimmer. Denn je mehr Menschen, desto sicherer fühlt man sich. Wir schliefen mit Kohnkes nebeneinander. Auf einem Bett u. Madratzen. Manche Leute saßen die Nacht über auf Stühlen, denn alle hatten Angst vor Russen. Die Nacht verlief jedoch ohne Gefahr, bloß mächtiges Gebumse ab u. zu u. Luftkämpfe.[...]


Sonnabend, 28.April

Mutti wagte sich mit einem netten älteren Herrn Wiedemann nach Hause, obwohl Russen drin wohnen ging sie rein. Es sah einfach unbeschreiblich aus. Kein heiler Koffer mehr. Alles ausgepackt u. hingeschmissen, zertöbbert u. mitgenommen. Die Keller sind ein Trümmerhaufen. Mutti grub etwas hervor an Lebensmitteln u. brachte es mit, den Kartoffelsack war auch geklaut. In unserer Gegend ist die Hauptkampflinie übervoll Geschütze Panzer u.s.w. Mutti brachte Gott sei Dank noch ein gefundenes Brot mit.


Sonntag, 1. Juli

[...] Es sind Massen von Amerikanern hier eingetroffen. Engländer u. Franzosen sollen auch schon da sein. Leider scharren sich die Deutschen um die Amerikaner, sprechen sie an und so w. Luftgau soll Hauptquartier für die Mannschaft werden. Er ist ihnen bloß noch zu dreckig. Es sind die kämpfenden Truppen aus Frankfurt/Main, Düsseldorf. Die meisten bleiben nur bis zur Siegesparade da. Sie benehmen sich sehr anständig, sind sehr sauber. Die Offiziere sind meist sehr hochmütig. Die Soldaten quatschen uns auf der Straße an. Sie können die Russen auch nicht leiden: They are dirty. Sie beschlagnahmen sehr viele Häuser hier in der Umgebung. Sehr viele in der Meisenstr. (F. Deppe kann aber oben wohnen bleiben). Konkes müssen raus. Beate Berwe auch für 2-3 Jahre. Die ganze Ihnestr. bis zur Leichhardtstr. Beschlagnahmt. Wir sitzen auf Kohlen!!! Angeblich sollen sie noch 8 Häuser hier brauchen. Und unser Haus sieht noch so anständig aus. Bloß nicht. [...]

lo