> Christel Nitsch: Schicksal eines "Wolfskindes" in Ostpreußen

Christel Nitsch: Schicksal eines "Wolfskindes" in Ostpreußen

Dieser Eintrag von Christel Nitsch (*1936) aus Osnabrück stammt aus dem Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

Als ich am 24. Juni 1936 in Groß Schönau, Kreis Gerdauen, Ostpreußen, geboren und auf den Namen Christel Nitsch gatauft wurde, deutete nichts darauf hin, dass mein Leben so ungewöhnlich verlaufen würde.

Meine Eltern hatten bereits zehn Kinder, ich war das Elfte und somit Jüngste und wurde sehr verwöhnt. Besonders meine Mutter gab mir viel Liebe, obwohl sie viel und hart arbeiten musste. [...] So war sie nur selten zu Hause und unseren Haushalt führten hauptsächlich meine älteren Schwestern. Meine Geschwister Maria, Gustav und Grete haben damals auch schon bei verschiedenen Bauern gearbeitet. Die älteste Schwester Anna heiratete 1940, Gertrud 1942, und mein Bruder Albert zog im gleichen Jahr als Freiwilliger in den Krieg. Er war erst sechzehn Jahre alt und fiel bereits zwei Jahre später, am 8. September 1944, in Russland. So waren nur noch wir Jüngsten zu Hause, das waren Frieda, Heinz, Erna, Berta und ich. Als ich 1942 eingeschult wurde, konnte ich schon lesen, das hatten mir die älteren Geschwister beigebracht.

Meinen Vater habe ich sehr selten gesehen. Er arbeitete in Pillau bei der Reichsbahn und kam nur noch am Wochenende nach Hause. Es war dann meistens so betrunken, dass wir alle Angst vor ihm hatten. [...] 1944 habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Bis Ende 1944 konnten wir noch zur Schule gehen, dann rückten die Russen näher und näher, begleitet von Kampfflugzeugen, die ständig Bomben abwarfen. Tag für Tag heulten die Sirenen und wir mussten uns immer öfter im Keller verstecken. Mit vielen Nachbarn hockten wir hier zusammen, manchmal verbrachten wir ganzen Nächte dort unten. Kaum jemand konnte schlafen, denn zum Liegen war wenig Platz. Ich weiß noch, dass man mich immer hingelegt hat. Aber ich weinte dauernd, weil ständig jemand auf meinen Beinen saß.

Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Königsberg war etwa 60 Kilometer von uns entfernt, aber dennoch konnten wir sehen wie die Stadt brannte. Es fällt mir heute noch schwer zu beschreiben, was ich als Kind bei diesem Anblick empfand. Es war entsetzlich und ich glaube, dass es für ein Kind noch bedrohlicher war als für Erwachsene. Als die russische Armee näherrückte, versuchten die Menschen zu flüchten. Der erste, der mit seiner Familie unser Dorf verließ, war Bauer Mischke. Er hatte die besten seiner Pferde vor den Schlitten gespannt und war schnell verschwunden. Seine alte Mutter ließ er zurück. Wir fanden sie später als die Russen einmarschiert waren, im Garten - mit abgehacktem Kopf. Bauer Mischke hatte nur alte kranke Pferde zurückgelassen und einen alten Zigeunerwagen, auf dem wir mit drei Familien fliehen wollten. Wir waren zehn, Kaftans fünf Personen, hinzu kam eine alte Nachbarin, somit waren wir sechzehn Leute für einen Wagen. Die Erwachsenen mussten zu Fuß gehen, denn die Pferde waren zu schwach, um alle ziehen zu können. Für mich war es wunderbar, da ich die Kleinste war, durfte ich im Wagen sitzen bleiben. Ich hatte damals ein Gefühl, als erlebte ich ein großes Abenteuer.

Etwa 30 Kilometer von unserem Dorf entfernt kamen wir zu einem verlassenen Bauernhof. Die Pferde waren so erschöpft, dass wir dort Hort machten. Menschen trafen wir nicht an, dafür aber Kühe, Schweine und alles, was auf einen Bauernhof gehört. Genügend Essensvorräte fanden wir auch, denn die Bewohner hatten alles zurücklassen müssen. [...] Die Straßen waren voller Flüchtlinge, in den Straßengräben lagen neben toten Pferden auch Wagen und viele Fahrräder. Und dann kam der Tag, an dem die Leute schrien: "Die Russen kommen!". [...] Anschließend wollten sie den Müttern ihre Kinder wegnehmen, aber wir Kinder liefen davon. Schließlich ließen sie uns in Ruhe. Dafür haben sie alle jungen Leute ab 16 Jahren von den anderen getrennt und nach Russland deportiert. Unsere Schwester Maria und unser Bruder Gustav waren auch dabei. Wir haben sie nie wieder gesehen. [...]

Als die Russen zu uns kamen, erklärte Mama ihnen, dass wir Kinder an Typhus erkrankt seien. Davor hatten sie große Angst und ließen uns in Ruhe. Gegessen haben wir Schnecken, Frösche, Katzen und Hunde. Wir Kinder sammelten alles, was es an Getier gab und brachten es nach Hause. So schlugen wir uns bis zum Herbst durch. Danach mussten wir alle Bötchersdorf verlassen. [...] Im März wurde meine Mutter sehr krank, sie hatte nichts mehr gegessen, weil sie das bisschen, was wir hatten, immer nur uns gab. [...] Bis zum 5. Mai 1946 quälte Mama sich noch, dann ist sie gestorben. [...] Nun war ichmit meinen Geschwistern Frieda, Heinz, Erna, Berta, Getrud mit ihrem zweijährigen Sohn Klaus und Anna mit Sohn Arno, damals fünf Jahre alt, zusammen. Schwester Grete hatte vor dem Krieg bei unseren Nachbarn als Kindermädchen gearbeitet und war mit ihnen geflüchtet. Ich habe sie erst 1987 wiedergesehen. Sie wohnte in Dortmund, war Mutter von zwei Kindern - Junge und Mädchen. Von Maria und Gustav, die nach Russland verschleppt worden waren, haben wir nie wieder etwas gehört.

Bevor meine Mutter starb, hatte sie meiner Schwester Getrud das Versprechen abgenommen, dass sie sich um mich kümmern würde. Getrud war damals 23 Jahre alt, verheiratet und hatte einen kleinen Sohn, Klaus. Ich war damals zehn Jahre alt. Meine ältere Schwester Anna war 1920 geboren. Auch sie war verheiratet und Mutter des 5-jährigen Arno. Ihr hatte Mama die 13-jährige Schwester Frieda ans Herz gelegt. - Eines Abends schnallte mir meine Schwester Gertrud einen Rucksack auf den Rücken, sich selbst auch einen, nahm ihren Sohn Klaus an die eine und mich an die andere Hand und marschierte mit uns bei Nacht und Nebel zu Fuß nach Gerdauen zum Bahnhof. Der Rucksack war so schwer, dass ich kaum laufen konnte, aber mein Gejammer nutzte nichts, Getrud wollte mit uns weg. Sicher hatte sie die Hoffnung, dass es uns überall besser gehen würde als hier. Es war schon kalt, Schuhe besaß ich nicht und der Weg erschien mir endlos lang, wollte nicht enden. Endlich kamen wir am Bahnhof Gerdauen an. Dort wimmelte es von russicher Miliz, die alle Deutschen wegjagten. Also versteckten wir uns am Bahndamm und warteten bis ein Zug kam. Rasch rannten wir zu den Türen, denn der Zug hielt nicht lange an. Ich sprang auf der einen Seite des Waggons auf eine Stufe und Getrud mit Klaus auf der anderen Seite.

Die Leute um uns herum schrien wie besessen irgendwelche Namen, es herrschte ein schreckliches Chaos. Ich klammerte mich am Zug fest, er fuhr an und dann kam die Miliz und riss meine Schwester Gertrud und ihren Sohn Klaus herunter. Ich konnte nicht mehr springen, weil der Zug zu schnell fuhr. Ich sah meine Schwester traurig mit der Hand winken, sie wollte mir wohl sagen, dass ich getrost fahren sollte. Das war das Ende meines bisherigen Lebens und das Ende meiner Kidnheit. In dieser Nacht begann für mich ein ganz neues Leben, ein Leben voller Angst und Schrecken, voller Not und Entbehrungen. Ich hatte alles verloren, meine Heimat, meine Geschwister und fuhr in eine fremde Welt. Und doch spürte ich, dass mein Leben in Gottes Händen lag. Ich weiß nicht wie lange ich mit dem Zug gefahren war und ich weiß auch nicht, wohin er fuhr. Irgendwann, nach einer langen Zeit, hielt er an. Ich stieg aus ohne zu wissen, wo ich mich befand und ging zum Bahnhofsgebäude. Dort war ein Wartesaal, in dem einige Bänke standen. Obwohl sich recht viele Menschen darin aufhielten, legte ich mich auf eine freie Bank um zu schlafen. Doch das klappte nicht, denn es war bitterkalt und außerdem hatte ich schrecklichen Hunger. So lag ich hungernd und frierend auf dieser Bank und wartete bis es hell wurde. In aller Frühe stand ich dann auf und ging hinaus. Draußen standen viele Leute. Eine Frau kam auf mich zu und redete in fremder Sprache auf mich ein. Ich verstand kein einziges Wort, ich glaube, sie sprach polnisch. Später hat sie mir dann irgendwie klar gemacht, dass ich mit ihr kommen sollte um für eine Woche ihre Kühe zu hüten. Ich ging mit zu ihrem Haus. Sie gab mir etwas zu essen und brachte mich dann zu den Kühen.

Es war der reinste Horror. Ich weiß nicht wie viele es waren, doch für mich war die Herde viel zu groß. Die Frau machte mir klar, dass ich bis zum Abend bei den Tieren bleiben müsste und dann zu ihrem Haus kommen sollte. Sie ging fort und ließ mich mit den vielen Kühen allein. Es war doch sehr früh und das Feld - ein Stoppelfeld - weiß gefroren. Ich besaß weder Schuhe noch Strümpfe, meine Beine hatten Frostbeulen. Ich musste dauernd hinter den Kühen herlaufen und habe vor Schmerzen ganz laut nach meiner Mama geschrien. Doch kein Mensch hörte mich, ich war völlig allein und verzweifelt. Dennoch hielt ich bis zum Abend durch. Als ich dann zum Haus der Frau kam, war ich mit meiner Kraft am Ende. Ich wollte meine Tasche haben und schnell weggehen, aber die Frau gab sie mir nicht. Sie bestand darauf, dass ich eine Woche warte, ich hätte es versprochen. Ich blieb bis zum nächsten Morgen und tat dann so als ginge ich wieder zu den Kühen. Als ich jedoch so weit vom Haus entfernt war, dass sie mich nicht mehr sehen konnte, bin ich weggelaufen und habe mich während des Tages in Büschen versteckt, damit sie mich nicht finden konnte. Als es dunkel wurde, verließ ich mein Versteck und bin die ganze Nacht gelaufen, damit mich niemand mehr zu den Kühen zurückbringen konnte.

Ich kam irgendwann in ein anderes Dorf und hatte wieder entsetzlichen Hunger. Also ging ich von Haus zu Haus und bettelte darum, etwas zu essen zu bekommen. Es gab nach dem Krieg ja nicht viel, aber ein Stück Brot gaben mir die Leute doch - und das war wie ein Wunder für mich. In den Jahren 1945/46 hatten wir kaum etwas zu essen, so dass wir beinahe alle verhungert wären. Und jetzt bekam ich wieder ab und zu ein Stück Brot, ich kann nicht beschreiben, was für ein Gefühl das war. Wie lange ich gegangen bin, weiß ich nicht mehr. Meine Füße waren wie abgefroren, denn ich hatte noch immer keine Schuhe und es wurde von Tag zu Tag kälter. Ich war schrecklich schmutzig, nirgendwo konnte ich mich waschen und wo auch immer ich bettelte, niemand ließ mich ins Haus. So schlief ich entweder unter freiem Himmel oder schlich mich heimlich in einen Stall und verkroch mich im Stroh.

Manchmal gab es auch nette Bauern, die gaben mir nicht nur etwas zu essen, sondern erlaubten mir auch im Stall zu schlafen. Ich erinnere mich, dass ich einmal in einer Sauna übernachten durfte, die in einem Garten stand. In dieser Sauna gab es aber nichts: weder eine Zudecke noch eine Matte, auf die ich mich hätte legen können. Es war sehr kalt und ich besaß nur einen alten dünnen Mantel, den ich von meiner älteren Schwester geerbt hatte. Ich fror und hatte zudem einen furchtbaren Durchfall. Es lief wie Wasser aus mir heraus. Der Boden und die Wand waren ziemlich bespritzt davon. Ich hatte schreckliche Angst, dass die Leute mich schlagen würden, wenn sie das sahen. So wartete ich bis zum Morgengrauen, schlich mich hinaus und lief voller Angst weg.

Nachdem ich mich aus der Sauna geschlichen hatte, lief ich zum Wald und versteckte mich dort während des ganzen Tages. Ich besaß noch ein Stück Brot, davon aß ich ab und zu ein bisschen, aber gegen Abend war der Hunger wieder sehr groß. Ich lief also im Schutz des Waldes weiter und kam zu einem Bauernhof, der am Waldrand lag. Zuerst traute ich mich nicht dorthin um zu betteln, doch dann wurde der Hunger stärker und war schließlich größer als die Angst. So schlich ich zu dem Hof und schaute erst einmal nach, ob Hunde da waren, denn ein paar Mal hatten Bauern einfach ihre Hunde auf mich gehetzt. Zum Glück sah ich hier keine. Als ich auf das Haus zuging, stand plötzlich eine Frau vor mir. Sie schaute mich mitleidig an, denn ich war in einem erbärmlichen Zustand. Total verschmutzt, verlaust und mit aufgeschürftem, von Eiter, Blut und Schmutz verkrusteten Beinen. Sie nahm mich mit ins Haus, gab mir zu essen, wusch mich und brachte mir saubere Kleider. Es war wie ein Wunder. Später durfte ich in einer Kammer auf einer Bank schlafen. Dort stand frisch gebackenes Brot, das duftete so wunderbar, dass ich in der Nacht aufstand und ein Stück davon abbrach. Ich konnte jedoch nicht viel essen, weil mein Bauch total aufgebläht war. Ich hatte Rachitis. Außerdem war ich klein wie eine Sechsjährige, obwohl ich schon zehn oder elf Jahre alt war.

Am nächsten Morgen weckte mich die Frau und erklärte mir, dass wir einen Arzt aufsuchen würden. Inzwischen konnte ich schon ein bisschen die polnische Sprache verstehen. Wir gingen dann durch den Wald zu einer Ortschaft. Dort brachte sie mich in ein überfülltes Wohnzimmer, in dem ich auf sie warten sollte. Es dauerte entsetzlich lange und ich dachte, sie hätte mich hier einfach sitzen lassen und sei nach Hause gegangen. Ich hatte dort gehofft, dass ich bei der Familie bleiben konnte. Ich sprang voller Angst auf, rannte hinaus, lief wieder durch den Wald und schrie vor Angst und Schmerzen. Ich hatte solche Sehnsucht nach einem Menschen, der mir helfen würde und fand den Weg zurück zu den Leuten, die am Abend zuvor so freundlich zu mir gewesen waren. Die Frau war nicht zu Hause, nur die Kinder. Sie verstanden aber nicht, warum ich alleine zurückgekommen war. Nach einer Weile kam auch die Frau und begann fürchterlich zu schreien als sie mich sah. Ich verstand überhaupt nichts. Sie riss die Tür auf und deutete mir, dass ich verschwinden solle.

Weinend lief ich fort und hatte nur noch einen Gedanken: Ich will zurück nach Deutschland. Von wo aus meine Schwester Gertrud mit ihrem Sohn Klaus und mir weggefahren wollte, wusste ich nicht mehr. Ich hatte immer nur den Namen Wehlau im Kopf. Dort wollte ich hin. Also suchte ich einen Bahnhof. Ich weiß nicht wie lange ich unterwegs war, aber schließlich fand ich tatsächlich einen Bahnhof. Hier fragte ich einen Mann, welcher Zug nach Wehlau fährt. Er zeigte auf einen Zug. Da ich kein Geld für eine Fahrkarte hatte, stellte ich mich außen auf die Einstiegstreppe, klammerte mich an die Waggontür und fuhr einfach mit. Als die Schaffnerin mich entdeckte, holte sie mich in den Waggon und fragte, wohin ich wolle. Ich sagte wieder "Wehlau" und sie machte mir klar, dass der Zug dahin fährt und dort Endstation ist. Erst als ich ausstieg, sah ich, dass die Station nicht Wehlau, sondern Wilna hieß. Ich war also in Litauen und weil die Namen Wilna und Wehlau ähnlich klingen, nahm die Schaffnerin an, dass ich dahin wollte.

Nun stand ich da und wusste nicht, was ich machen sollte. Nach Deutschland wollte ich zu den Menschen, die meine Sprache verstehen, zu Menschen, die zu mir gehören - ein anderes Ziel gab es für mich nicht. Aber der Hunger meldete sich und ich musste wieder betteln gehen, traute mich aber nicht in die Stadt. Als ging ich die Schienen entlang, lief und lief und kam schließlich zu einem kleinen Bahnhof, etwa fünf Kilometer von Wilna entfernt. Dort wartete ich bis ein Zug einlief, auf den ich aufspringen konnte. Der Zug kam, fuhr an, doch als ich versuchte die Stufen zu erreichen, klappte es nicht. Sie waren zu hoch für mich. Ich sah den letzten Waggon kleiner und kleiner werden und weinte ganz verzweifelt, weil ich einfach nicht mehr weiter wusste. Plötzlich stand ein Mann vor mir, der wollte wissen, warum ich so weinte. Ich verstand ihn aber nicht und weinte noch lauter. Seine Frau - sie war Fahrkartenverkäuferin - kam dazu und konnte sich auf Deutsch mit mir verständigen. Ich sagte ihr, dass ich nach Deutschland wolle, aber nicht auf den Zug hätte aufspringen können. Sie sagte, dann könne ich doch froh sein, denn der Zug fahre nach Russland. Ich war aber nicht froh, sondern weinte immer mehr.

Schließlich fragte ich mich, ob ich mit zu ihnen nach Hause kommen wolle. Ich glaube heute noch, dass der liebe Gott sie zu mir geschickt hat und dass er immer seine schützenden Hände über mich gehalten hat. Ich ging also mit Sofia und Josef, so hießen die beiden, zu ihrem Haus. Dort wartete Sofias Schwester Nadja, sie war auch sehr freundlich. Beide Frauen badeten mich freundlich, verbrannten meine alten verlausten Sachen und gaben mir neue. Dann aßen wir Abendbrot. Ich hatte sehr großen Hunger, doch ich bekam nur ein wenig zu essen und dachte, sie wären geizig. Später begriff ich, dass das nur zu meinem Besten war, denn ich hätte nach der langen Zeit des Hungerns sicher nicht mehr vertragen. Später legten sie mich in eine Küchenecke zum Schlafen. Ich war so erschöpft, dass ich zwei Tage und zwei Nächte wie im Koma durchgeschlafen habe.

Es war das erste Mal nach zwei Jahren voller Hunger, Angst und Schrecken, dass ich aufatmen konnte. Ich war befreit von Läusen, brauchte nicht mehr bei Eis und Schnee barfuß zu gehen, bekam zu essen und russische Soldaten sah ich auch nicht. - Ich schlief also zwei Tage und Nächte durch und als ich endlich aufwachte, gaben sie mir wieder ein wenig zu essen und zu trinken. Ich hätte gerne mehr gegessen, denn sie hatten ja genug, doch ich bekam immer nur kleine Portionen. Danach musste ich viele Fragen beantworten. Sie wollten wissen, ob ich noch irgendwo Angehörige hatte. Ich log einfach, dass ich ganz alleine sei, ich wusste ja auch nicht, wo und ob meine Geschwister noch lebten. Außerdem hatte ich Angst, dass Josef und Sofia mich wieder auf die Straße schicken würden, wenn sie wüssten, dass ich noch Verwandte hatte. [...]

Von nun an ging es mir gut, ich brauchte nicht mehr zu hungern, hatte ein Dach über dem Kopf und meine Wunden verheilten allmählich. Das Ehepaar war kinderlos. Vor allem zu Josef baute sich eine gute Beziehung auf. Es war gut, dass ich meine Geschwister nicht erwähnt hatte, denn so glaubten Sofia und Josef, dass ich völlig alleinstehend sei und schickten mich nicht weg. Obwohl es mir gut ging, hatte ich schreckliches Heimweh nach meinen Geschwistern. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte und mir immer wieder vorstellte wie schön ein Wiedersehen sein würde. Jede Nacht weinte ich mich in den Schlaf und träumte von unserem Heimatdorf, sah meine Mutter, meine Geschwister und vermisste die schöne Zeit, die ich in meinen ersten Lebensjahren erlebt hatte. Die Leute waren wirklich gut zu mir, doch irgendwie fühlte ich mich immer wie eine Fremde. [...]

Ich war inzwischen elf Jahre alt und hatte mit Kindern meines Alters nur wenig Kontakt, weil sie mich als Deutsche nur verspotteten und ärgerten. Sehr oft musste ich mich auch verstecken, denn die russischen Kommunisten suchten immer noch nach Deutschen, die sie dann nach Russland deportierten. Auch Familien, die deutsche Kinder aufgenommen hatten und erwischt wurden, transportierten sie ab. Ein Schulbesuch kam nicht infrage, das war zu gefährlich. Lesen und Schreiben lernte ich sehr schnell zu Hause bei Josef und Sofia, die mich aufgenommen hatten. - So lebte ich bei ihnen bis 1948. [...]

Josef, der mich wie eine eigene Tochter behandelt hatte und für mich zu Bezugsperson geworden war, arbeitete als leitender Ingenieur. Er hatte einige Leute unter sich, war also für vieles verantwortlich. So musste er natürlich auch einige Dokumente unterschreiben. Es kam der Tag, an dem der Buchhalter der Firma Gelder mit Hilfe einer gefälschten Unterschrift unterschlagen hatte - und zwar mit der von Josef. Der Buchhalter war Russe, und Josef Litauer. Vor Gericht glaubte man natürlich dem russischen Buchhalter mehr. Josef wurde zu 25 Jahren Strafarbeit verurteilt und nach Sibirien geschickt.

Als er fort war, ging es mir sehr schlecht, denn er war im Grunde der Einzige, der wirklich gut zu mir war, ja, er war wie ein Vater für mich gewesen. Danach hatte ich nur noch einen Gedanken: Ich wollte weg. Als Sofia mich wenige Tage später zum Einkaufen schickte, fasste ich den Entschluss wegzugehen. Ich wusste nicht wie und wohin und lief einfach davon. Am Abend war ich schon ziemlich weit weg von meinem bisherigen Zuhause. Als es dunkel wurde, kam plötzlich die Angst. Sie war stärker als alles andere. Also entschloss ich mich umzukehren und zu Sofia und Nadja zurückzugehen. Als ich dort ankam, war ich schrecklich aufgeregt, weil ich nicht wusste, ob sie sich freuen oder ob sie schimpfen würden. Ich schaute durchs Fenster und traute mich erst eine ganze Weile später anzuklopfen. Sofia und Nadja kamen beide heraus, sie hatten sich Sorgen um mich gemacht und freuten sich, dass ich wieder da war.

Trotz allem fühlte ich mich bei ihnen nicht mehr wohl. Ohne Josef war es einfach nicht zum Aushalten. Ich war so verzweifelt, dass ich am liebsten Selbstmord begangen hätte, aber ich wusste nicht wie ich das machen sollte. Ich versuchte mehrmals mich mit Essig, Waschpulver, Streichholzköpfchen und anderen Sachen zu vergiften. Aber ich verdarb mir lediglich den Magen - gestorben bin ich nicht. Sicher hat mein Schutzengel dafür gesorgt, dass es nicht dazu kam. [...]

Eines Tages ging ich dann endgültig fort. Ich besaß keinen Mantel, kein Geld und hatte nur eine dünne Strickjacke zum Überziehen. So machte ich mich auf den Weg ins fünf Kilometer entfernte Wilna. Von dort wollte ich nach Königsberg fahren, weil ich glaubte, das sei immer noch Deutschland und ich würde meine Familie dort wiedertreffen.

lo