> Christian Just: Dresden, 13./14. Februar 1945

Christian Just: Dresden, 13./14. Februar 1945

Dieser Eintrag von Christian Just (1929-2003) aus Dresden stammt aus dem Jahr 1981, er wurde von seiner Tochter Isabella Just im Juli 2023 eingereicht.

Christian Just, geboren am 6. Oktober 1929 in Dresden, wohnhaft Zirkusstraße 11, er- und überlebte gemeinsam mit seiner Mutter Martha Just den Angriff auf Dresden im Februar 1945. Nach ihrer Flucht aus der brennenden Stadt fanden sie Unterschlupf in Schirgiswalde, einer Kleinstadt nahe Bautzen.

Christian Just legte 1948 am Schiller-Gymnasium in Bautzen das Abitur ab, studierte ab Sommer 1950 Theologie und war ab April 1956 im St.-Benno-Verlag in Leipzig als Lektor angestellt. Am 25. Juni 1957 übersiedelte er unerlaubt aus der DDR nach Freiburg im Breisgau und war fortan im HERDER-Verlag als Lexikon-Redakteur tätig. In Freiburg gründete er 1962 eine Familie und verstarb dort am 2. Februar 2003.  

Anfang der 1980er Jahre stand Christian Just in brieflichem Austausch mit Herrn Götz Bergander, Autor des Buches „Dresden im Luftkrieg“, und kam dessen Bitte nach, seine Erinnerungen an den 13./14. Februar 1945 niederzuschreiben. Herr Bergander übernahm Teile daraus in die überarbeitete und erweiterte Neuauflage seines Dresden-Buches (Böhlau-Verlag, 1994).

Isabella Just, Berlin, Juli 2023

 

 

 

Dresden, 13./14. Februar 1945
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Bericht von Christian Just, geb. am 6.10.1929 in Dresden;  
wohnhaft: Dresden-A. 1, Zirkusstraße 11 (auf der Westseite der Straße, halbwegs zwischen Grunaer u. Pirnaischer Straße);  
Klasse 5 des Staatlichen Gymnasiums Dresden-Neustadt, Holzhofgasse 2.
 
Wohnung zur Zeit der Niederschrift: Ludwigstr. 15, 7800 Freiburg.
 
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Am Abend des 13.2.45 war unsere Klasse auf dem Bahnhof Dresden-Neustadt zum "Bahnhofsdienst" angetreten. Wir sollten, zusammen mit den Schülerinnen und Schülern anderer Klassen und anderer Schulen, bei der Betreuung der Menschen helfen, die auf der Flucht vor der immer näher rückenden Ostfront in Sonderzügen oder auch einzeln nach Dresden kamen. Solche Einsätze dauerten jeweils 12 Stunden, also eine ganze Nacht oder einen ganzen Tag. Wir Jungen mußten gewöhnlich entweder Gepäck schleppen oder bei der Verpflegungsausgabe tätig sein.

Mit anderen Kameraden war ich damit beschäftigt, auf dem Bahnsteig 5/6 aus Thermosbehältern warmen Nudeleintopf an die Insassen zweier Flüchtlingszüge auszuteilen, als plötzlich die Sirenen aufheulten: Fliegeralarm! Noch während des Heulens wurde die Beleuchtung des Bahnhofs bis auf wenige Lampen abgeschaltet. Wir setzten die Essensausteilung zunächst noch fort; hörten aber bald auf, zumal die Wartenden größtenteils zu ihren Zügen zurückgingen. Ängstlich Fragenden sagte ich, bei Fliegeralarm würden die Züge aus den Bahnhöfen herausgefahren. Nach dem Verschließen der Thermosbehälter verließ ich den Bahnsteig, 3-4 Minuten nach dem Alarm.

Zwischenbemerkungen:  
1. Wann genau die Sirenen aufheulten, weiß ich nicht. Eingeprägt hat sich mir nur die Zeigerstellung der Bahnhofsuhr. Danach kann es nicht früher als 21.39 Uhr gewesen sein, und nicht später als 21.44 Uhr. -
2. In früheren Bahnhofsdienstnächten hatten wir oft erlebt, daß die Beleuchtung des Bahnhofs in verschiedenen Abstufungen vorübergehend vermindert worden war, was wir als Auswirkungen bestimmter Luftlagen gedeutet hatten. An diesem Abend hatte es vor dem allgemeinen Alarm dergleichen nicht gegeben. –  
3. Ich kann mich nicht erinnern, daß in dem beschriebenen Zeitraum über die Lautsprecheranlage irgendwelche Anweisungen gegeben wurden. Und was ich den Menschen sagte, dürfte nur eine persönliche Vermutung gewesen sein.

Zu Beginn der Bahnhofseinsätze hatte ich meinen Eltern versprochen, bei Alarm nicht auf dem Bahnhof zu bleiben, sondern möglichst nach Hause zu kommen. Darum verließ ich den Neustädter Bahnhof vorsichtig, und machte mich auf den Weg: Antonstraße, quer über den Albertplatz, König-Albert-Straße.

Zwischenbemerkung:
Mein Unternehmen dürfte dadurch erleichtert worden sein, daß ich die Uniform der Flieger-HJ trug, die - weil nicht so bekannt - von vielen für die Uniform der Luftwaffenhelfer gehalten wurde (die Träger dieser Uniformen kannten natürlich die Unterschiede). So konnte man meinen, ein solcher wäre auf dem Weg zu seiner Einsatzstelle. Jedenfalls wurde ich nicht angerufen.

Nachdem ich den St-Privat-Platz überquert hatte, sah ich plötzlich quer zu meiner Marschrichtung von rechts eine rote Leuchtkugel aus den Wolken kommen und nach kurzem Flug links wieder verschwinden. Ich nahm das interessiert zu Kenntnis und freute mich, daß ich am nächsten Morgen etwas erzählen können würde.

Zwischenbemerkung:
Mangels Erfahrung kann ich über den tatsächlichen Ort der Leuchtkugel (es war nur eine solche) nichts sagen. Er könnte über der Elbe gewesen sein; Fallrichtung war jedenfalls elbaufwärts. Sie kam jedenfalls aus den Wolken und verschwand wieder darin (oder verlosch).

Kurz bevor ich rechts das Sarrasani-Gebäude sehen konnte, vernahm ich aus dieser Richtung eine - mir unverständliche - Lautsprecherdurchsage. Dann sah ich den Zirkus und hörte: "Schwere Bomberverbände nähern sich dem Stadtgebiet. Mit Bombenabwurf muß gerechnet werden!"

Zwischenbemerkung:  
Natürlich war das nicht die ganze Durchsage, und höchstwahrscheinlich war der Satz auch etwas anders formuliert. Aber diese Worte habe ich - und so - verstanden und noch in jener Nacht und seither immer in dieser Formulierung weitergegeben.

Diese Durchsage - in Verbindung mit der kurz zuvor beobachteten Leuchtkugel - rief bei mir eine gewisse Beklemmung hervor. Ich beschloß, wie bisher weiter zu marschieren. Aber immer nur zu marschieren, um Kraftreserven zu haben, falls ein beginnender Angriff mich zwingen würde, ganz schnell zum nächsten Haus bzw. Luftschutzkeller zu rennen. Die Carolabrücke dagegen überquerte ich im Laufschritt - von da an, wo die Brückenbogen beginnen, bis da, wo sie auf der Altstädterseite aufhören, bei der Wetterstation -, um diese ungeschützte Strecke möglichst schnell hinter mich zu bringen. Da ich vorgewarnt war, lief ich äußerst aufmerksam. Da mir keine Zeit bleiben würde, einen Schutzraum zu erreichen, wollte ich mich gegebenenfalls auf dem nächsten erreichbaren Pfeilerstück hinter das dort Sandsteingeländer - über den Brückenbogen gab es nur durchbrochenes Eisengeländer - in Deckung legen. Aber weder sah noch hörte ich irgendetwas, was ungewöhnlich gewesen wäre.

Um nicht jetzt noch von einem eifrigen Luftschutzwart in einen Keller geholt zu werden, marschierte ich nicht durch die Amalienstraße, sondern auf dem Mittelstück der Ringstraße zum Pirnaischen Platz (tatsächlich wurde ich hier zweimal angerufen und zum Verlassen der Straße aufgefordert, aber ich reagierte nicht darauf), überquerte diesen schräg und bog dann in die Pirnaische Straße ein. Jetzt vernahm ich erstmals Flugzeuggeräusch. Zuerst war es noch geringfügig, wurde aber immer intensiver. Auf der Strecke zwischen Neuer Gasse und Ecke Zirkusstraße hatte ich den Eindruck, als kreiste eine größere Menge Maschinen über den Wolken. Gleichzeitig schien es mir, als sei die Nacht nicht mehr so dunkel wie bislang (eine Erklärung dafür aber suchte ich nicht). Von der Ecke Pirnaische/Zirkusstraße an bis zu unserem Haus rannte ich dann so schnell ich konnte.

Etwas außer Atem kam ich in unserem Luftschutzkeller an. Meine Mutter meinte, ich hätte nicht unbedingt nach Hause kommen und den weiten Weg machen müssen. Ich sei ja ganz außer Atem. Doch ich berichtete von der Durchsage bei Sarrasani, von dem immer lauter werdenden Flugzeuggeräuschen und sagte: "Sie sind über uns!" Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte, verließ ich unseren Keller, um meinen Standort als Luftschutzmelder aufzusuchen. Doch als ich die Haustür öffnete, war die gegenüberliegende Häuserwand grellweiß erleuchtet; im gleichen Augenblick hörte ich - erstmals in dieser Nacht - in Hochtonlage beginnend das Rauschen eines Bombenwurfes. Ich kehrte um, sprang in 3 oder 4 Sprüngen die 17 Stufen zu unserem Keller hinunter und schrie - wie man mit später sagte - kreideweiß im Gesicht: "Es geht los!"

Zwischenbemerkungen:
1. Im Herbst 1944 hatte man mich zu einem Luftschutzkursus einberufen. Nach dessen Abschluß wurde ich dem Selbstschutztrupp in der Zirkusstraße 15 als Melder zugeteilt. Wenn ich die Sache richtig verstanden habe, waren die Selbstschutztrupps eine Art Zwischenstufe zwischen Feuerwehr und dem hauseigenen Luftschutz; d.h. sie sollten dort eingreifen, wo die Hausgemeinschaften nicht mehr zurechtkamen. Ich meldete mich seinerzeit bei dem Selbstschutztruppführer, suchte auch stets bei Fliegeralarm meinen Standort auf, habe aber nie feststellen können, ob es tatsächlich einen Trupp gab: Ich grüßte, wenn ich den Keller betrat und wenn ich ihn nach der Entwarnung wieder verließ, wurde aber niemals angesprochen. Am 13.2. bin ich nicht mehr zu meinem Standort gegangen, auch nach dem Angriff nicht. Tatsächlich wurde mir erst bei der Abfassung dieses Berichtes klar, daß ich das eigentlich hätte tun müssen. –  
2. Das Geräusch fallender Bomben, als ob schwere Stücke auf einer Gleitbahn aus Eichenholz mit wachsender Geschwindigkeit in den Abgrund zischen, hatte ich beim Angriff am 16.1.45 zum ersten Mal gehört. Ich hatte an der Ecke Moritz-/König-Johann-Straße stehend, den Anflug eines Bomberpulks beobachtet, mich daraufhin schnell hingeworfen. Nach dem Krachen der Detonationen war ich dann aufgesprungen und zum Schutzraum im Landhaus gelaufen; der Pulk hatte da schon die bekannte Schwenkung vollzogen: Zuerst war er scheinbar der Moritzstraße folgend nach Südost geflogen, dann die König-Johann-Straße entlang nach Westen.

Die Hausbewohner wollten mich beruhigen; es würde schon nicht so schlimm werden. Tatsächlich hörten wir zwar entfernt Einschläge, aber das Licht brannte noch. Eine Nachbarin sagte: „Die armen Menschen, die es heute trifft." Die Detonationen aber hörten nicht auf, wurden lauter, und mit einem Mal ging das Licht aus, und wir mußten eine Kerze anzünden. Als ich mich - als erster im Keller - bei einem nicht mehr so entfernten Einschlag auf den Boden warf, sagte ein Nachbar: "Wenn du dich erst beim Krachen hinlegst, bist du im Ernstfall schon tot." Ich blieb aber liegen, und bald hatten sich alle hingelegt. Jetzt krachte es andauernd in unserer Gegend; wir hörten, wie im Luftzug der Explosionen oben im Haus die Türen schlugen, und ich spürte, obwohl zuunterst liegend und obwohl der Schutzraum "splittersicher" zugebaut worden war, am Rücken den Luftzug. Irgendwann mußte eine Bombe tatsächlich in nächster Nähe detoniert sein, denn es krachte ganz mörderisch und die Luft im Keller war auf einmal voller Kalkstaub. Jemand schrie: "Wir sind getroffen!" Eine Art Panik brach aus. Alles lief zum nächsten Kellerdurchbruch. Aber der war ja zugemauert und niemand fand ein geeignetes Werkzeug. Es war finster und jeder schrie etwas. Da drängte ich mich vor und trat den Durchbruch einfach durch. Alles drängte dann durch das Loch bis in den nächsten Schutzraum (Zirkusstraße 9). Man rief: "Lebt ihr noch?" Antwort: "Ja, wir leben noch!" „Gottseidank," hieß es, "wir leben auch noch."

Damit war der Bann gebrochen. Wir blieben jetzt in dem Kellerdurchgang liegen. Wahrscheinlich fielen noch Bomben; aber das war weiter weg, und irgendwann hörte auch das auf. Angst und Schrecken legten sich. Wir warteten und warteten auf die Entwarnung. Gehört habe ich nichts, aber irgendwann hieß es, es sei alles vorbei und wir könnten den Keller verlassen.

Zusammen mit einem Elfjährigen ging ich zuerst die Treppe hinauf. In jedem Stockwerk äugten wir ängstlich in die Wohnungen, sahen aber keinen Feuerschein. Das Haus schien noch ganz zu sein. Im I. Stock brannte es nicht, auch nicht im II., nicht im III. Im IV. Stock lief ich schnell durch unsere Wohnung: kein Feuer; dann auf den Dachboden - nunmehr ohne Dachziegel -: auch kein Feuer. Wir waren nochmals glimpflich davongekommen! In unserer Wohnung war zwar nur noch eine einzige Scheibe ganz, weil dieser Fensterflügel offengestanden hatte, und sämtliche Türen, auch die Schranktüren waren aus den Schlössern gerissen, aber das waren Kleinigkeiten.

Wie aber sah es rund herum aus? Das Hinterhaus Zirkusstraße 15, eine frühere Bilderrahmenfabrik, in der jetzt etwas anderes produziert wurde, brannte von oben bis unten lichterloh. Und soweit man sehen konnte - von unsren Fenstern im IV. Stock hatten wir eine gute Aussicht in Richtung Stadtmitte - flackerten überall Brände auf. Es wurden mehr, die Brände wurden größer, es wurde immer heller; und auf einmal begannen Funken zu fliegen, durch die zerbrochenen Scheiben in die Wohnungen. Jetzt habe ich die Gardinen herabgerissen und die zerfetzten Verdunklungsvorhänge, die ins Freie flatterten. Mit Brettern u.ä., das mein Vater für größere Bastelarbeiten - 1981 würde man sagen: Hobbytischlerei - zusammengetragen hatte, versuchte ich die Fensterlöcher zu verschließen. Dennoch hereinfliegende Funken wurden mit der Feuerpatsche ausgeschlagen.

In der Zwischenzeit hatte meine Mutter unsere Kleiderschränke ausgeräumt und die Sachen armeweise in unseren Kohlenkeller gebracht. Auch die Lebensmittel und was sonst noch wichtig erschien. Mit einem Mal aber wurde ganz klar: Ganz Dresden brennt! Ich erinnerte mich eines Schulaufsatzes, in dem ein in Kassel ausgebombter und nach Dresden evakuierter Klassenkamerad beschrieben hatte, wie in Kassel der Asphalt brannte. Als ich dann auf einmal durch das brennende IV. Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses der Zirkusstraße hindurchsehen konnte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich sagte, wenn alles brennt, können wir unser Haus nicht allein retten. Wir müssen fort, ehe das Feuer (und brennender Asphalt) uns einschließen. Da machten wir – meine Mutter und ich - uns auf den Weg, mit wenigen Habseligkeiten (mehr zufälliger Art) in einem Koffer. Unsere übrigen Sachen glaubten oder hofften wir im Keller sicher.

Als wir aus dem Haus traten, sahen wir, daß tatsächlich schon alle anderen Häuser der Zirkusstraße in den obersten Stockwerken brannten. Wir gingen in Richtung Johann-Georgen-Allee, dann durch das Tor der ehemaligen Umzäunung des Blüher-Parkes nördlich vom Hygiene-Museum, an den Liegewiesen entlang in Richtung Großer Garten bis zum "Bau". Es waren viele Menschen unterwegs, auch ein Auto. Aber wo sollten wir in dieser halbdunklen Nacht hin? Einzelne Explosionen machten deutlich, daß der Weg in die Vorstädte nicht ungefährlich war, man im Dunklen auf Blindgänger treten könnte. Da sah ich, daß es den Zaun um den Bau nicht mehr gab. Wir gingen zu den dort lagernden Steinquadern und setzten uns zwischen sie, auf unseren Koffer; meine Mutter und ich.

Zwischenbemerkung:  
Der "Bau" war ein Stück Ödland zwischen Albrecht- und Lennéstraße, zwischen Pirnaischer Straße und der Verlängerung der Hauptallee Großer Garten in Richtung auf das Hygiene-Museum. Im südlichen Drittel ging die Johann-Georgen-Allee hindurch. In den 30er Jahren hatte der Bau ein Jahr lang zur Gartenbauausstellung gehört, wenn Sarrasani mit seiner Zeltstadt nach Dresden kam, wurde sie dort aufgebaut, im Oktober war auf dem südlichen Drittel eine kleine Oktoberwiese, aber sonst gehörte der Bau uns, den Kindern und Jugendlichen der "Pirnaischen Vorstadt". Bis 1939! Da sollte hier ein Parteihaus gebaut werden. Die Villen an der Pirnaischen Straße wurden abgerissen - auch Mischnicks Villa (der FDP-Politiker Wolfgang Mischnick dürfte bis dahin dort gewohnt haben) -, der ganze "Bau" mit einem 2 m hohen Bretterzaun umgeben. Von den Häusern der Albrechtstraße aus sah man, wie die Fundamente ausgeschachtet und die Erde zu hohen Wällen aufgefahren wurde. In der Tiefe wurde auch schon Mauerwerk errichtet. Im Süddrittel aber lagerte man auf Holzleisten lange Reihen von Sandsteinquadern. Irgendwann war in den ersten Kriegsjahren aber auch hier die Bautätigkeit eingeschlafen.

Da saß ich nun mit meiner Mutter und mit vielen anderen, die hier Zuflucht gesucht hatten. Die Steine schützten ein wenig vor dem Wind, und die brennenden Häuser der Albrechtstraße und der Johann-Georgen-Allee sorgten für eine erträgliche Temperatur. Dabei konnten wir beobachten, wie sich das Feuer von Stockwerk zu Stockwerk nach unten durchfraß. Auf der Johann-Georgen-Allee war ein Haus noch lange dunkel, während es links und rechts schon im II. Stock brannte. Wir hofften, die Menschen würden ihr Haus retten können. Als es dann auch hier - zuerst im IV. Stock - zu brennen begann, waren wir tatsächlich ein wenig traurig. Nichts blieb!

Auf einmal hörten wir von der Südvorstadt ganz entfernt Sirenengeheul: Fliegeralarm. Ich weiß nicht, wann es war; ich hatte keine Uhr. Aber ich weiß noch, wie manche Menschen leise aufschrieen: "Nein! Nicht noch einmal!" Und dann begann das, was sich mir als das Inferno von Dresden eingeprägt hat: Motorengedröhn, das Rauschen der herabgleitenden Bomben, das ohrenbetäubende Krachen der Detonationen, einen Augenblick Stille, und dann wieder dasselbe, und wieder, und wieder, und wieder, und immer wieder! Manchmal beginnt das Fauchen im Hochton, hört in der Mittellage auf, und dann dauert es eine Weile bis man in der Ferne die Explosionen hört. Oft aber beginnt das Fauchen in der Mittellage, wird immer tiefer und endet mit berstendem Krachen nicht allzuweit entfernt. Und manchmal hört man nur einen kurzen, tiefen Orgelton, und dann zerreißt ein schreckliches Getöse einem fast das Trommelfell; wenige Augenblicke später prasseln Erdbrocken und sonst etwas auf den Rücken. Und es hört nicht auf und hört nicht auf. Aus der Angst wird Todesangst und endlich die Erwartung, daß ein Treffer der Qual ein Ende bereitet.

Als zwischen den Wellen einmal eine längere Stille ist, ruft es aus der nächsten Lücke zwischen den Steinreihen: "Hurra, die Schweine sind fort!" Aber sie waren es nicht, sondern es ging weiter. Da schrie ein anderer: "Hinlegen! Die können uns doch sehen!" Widerworte, unverständliches Geschrei, Geräusche wie von einer Rauferei, und dann hört man wieder nur noch die Flugzeuge und die Bomben. Gesehen habe ich nichts, vielmehr die Augen zumacht und die Nase in den Dreck gesteckt.

Auf einmal sahen wir, daß der Wind glühende Funken unter den Steinen hindurchblies. Sollten wir jetzt noch hier verbrennen? Irgendwie waren auch die Explosionen leiser geworden. Oder krachten nur noch Spätzünder? Ich sagte jedenfalls zu meiner Mutter, gehen wir doch dahin, wo sie die Erde ausgeschachtet haben. Den Weg fände ich auch im Dunkeln. Und wir gingen los, ich fand den Weg, und dann legten wir uns an die Böschung eines Erdwalles. Viel sehen konnten wir nicht: Die Häuser der Albrechtstraße waren ziemlich niedergebrannt und die Luftschutzbrille von Ruß und Dreck verklebt.

Zwischenbemerkung:  
Auf dem Weg von der Steinreihe zum Ausschachtungsgelände mußten wir die Johann-Georgen-Allee kreuzen. Diese hatte dort folgenden Querschnitt: Gehweg - Fahrbahn - Reitweg - Gehweg - Mittelgrünanlage - Gehweg - Reitweg - Fahrbahn - Gehweg. Die Mittelgrünanlage bestand zwischen Albrecht- und Lennéstraße aus langgestreckten Rasenstücken, umrandet von niedrigem Gebüsch und in der Mitte mit Rhododendron bepflanzt. Auf einen der Durchlässe zwischen den Rasenstücken war ich im Dunklen zugegangen und hatte ihn tatsächlich nach 6 Jahren noch gefunden. Dachte ich! In Wirklichkeit, und das sah ich am nächsten Morgen bei Tageslicht, gab es überhaupt keine Durchlässe mehr, alles war zugewachsen. Auf der ganzen Strecke fand sich nur ein etwa 0,50 m breitere Trampelpfad. Auf diesen war ich in der Nacht schnurgerade zugelaufen, ohne etwas zu sehen!

Mit der Zeit wurde unsere Situation - an einer Böschung liegend - ungemütlich. Es wurde kalt - von den herabgebrannten Häusern kam keine Wärme mehr - und fing an zu regnen. Wir wollten zu den Steinreihen zurück, fanden aber den Weg nicht mehr. So gingen wir in Richtung Großer Garten. Der Angriff war inzwischen wirklich vorbei. An einer großen Platane, etwa 60 m von der Pirnaischen und von der Lennéstraße lehnte ein etwa 2 m2 großes Stück Bauzaun, das eine Explosion dahin geschleudert hatte. Unter dieses Notdach setzten wir uns, meine Mutter und ich. Im Blickfeld hatten wir das Ausstellungsgelände mit dem HKP (= Heimatkraftfahrzeugpark), wo in Abständen Explosionen orangefarbene Stichflammen zum Himmel schickten, vermutlich Öl- oder Benzinfässer.

Endlich wurde es Tag. Wir konnten sehen, was um uns war, und machten uns auf den Weg zur Zirkusstraße. Überall lagen Tote. Wo ich nach dem 1. Angriff ein Auto gesehen hatte, war ein riesiger Trichter. Dazwischen gingen, scheinbar ziellos, Menschen umher. Als wir zur Einmündung der Zirkusstraße in die Johann-Georgen-Allee kamen, sahen wir auch da nur Trümmer. Ein Polizist mit einem Fahrrad kam uns über die Trümmer entgegen. Er hatte seine Dienststelle im ehemaligen Gasthaus Lilienstein aufsuchen wollen, es aber zerstört gefunden. Er sagte uns, daß wir nicht weiterzugehen bräuchten; auf der Zirkusstraße seien alle Häuser abgebrannt. Da machten wir uns auf die Suche nach meinem Vater.

Zwischenbemerkung:  
Mein Vater, Jahrgang 1893, gv-Heimat, aber UK-gestellt, hatte den Angriff am 7.10.44 in einem Luftschutzkeller der Papiermühlengasse - südwestlich der Kreuzung Ammon-/Freiberger Straße - erlebt, also etwa 1,2 km vom Zielmittelpunkt. Dieses Erlebnis veranlaßte ihn, nachts nicht mehr den Luftschutzkeller aufzusuchen. Er nahm vielmehr unsere Wertsachen in zwei Taschen an sich und ging zur Bürgerwiese. Nach seiner Schilderung traf er dort viele Männer, die gleich ihm den Aufenthalt im Freien vorzogen. Der Angriff am 16.1.45, den er wiederum in der Papiermühlengasse erlebte, und bei dem die Bomben in noch größerer Nähe explodierten, verstärkte diese Einstellung. So war beim Alarm am 13.2. meine Mutter in den Keller gegangen, mein Vater aber zur Bürgerwiese.

Den ganzen Weg: Johann-Georgen-Allee, Albrechtsstraße, Bürgerwiese (die Straße an den Tennisplätzen entlang) lagen überall Tote, Tote, Tote; auch um die Steinreihen herum, wo wir während des 2. Angriffes gelegen hatten. Viele Tote waren durch explodierende Bomben scheußlich zugerichtet, manchen nur die Kleider vom Leib gerissen, mitunter die nackten Körperteile dunkel gerötet. Mitten auf dem Weg lag ein dunkler, formloser Haufen, obenauf etwas mit langen Haaren; daran allein zu erkennen, daß dies eine tote Frau war. Mehr kann ich nicht beschreiben. Ich habe zwar hingesehen, mir aber die Bilder nicht eingeprägt. Mein Vater war jedenfalls nicht darunter.

Auf der Bürgerwiese stand eine lange Reihe von Luftschutzfahrzeugen des SHD (Sicherheits- und Hilfdienst). Ich glaube, sie waren nach dem 1. Angriff von auswärts gekommen. Die Mannschaften - wenigstens ein großer Teil - lagen tot um die Fahrzeuge herum. Unser nächstes Ziel waren Bekannte in Strehlen, Kreischaer Straße, wo mein Vater hätte vielleicht sein können: Lenné-, Gerhard-Hauptmann-, Teplitzer-, Mokritzer-Straße. Hier lagen keine Toten mehr auf der Straße, dafür unzählige Brandbomben. Jetzt wagten wir auch, die Luftschutzbrille abzusetzen und den Schal abzubinden, womit wir Augen, Mund und Nase geschützt hatten, als wir nach dem 1. Angriff unser Haus verließen.  

Gleich uns war eine lange Prozession von Menschen unterwegs, die mit mehr oder weniger Gepäck die zerstörte Stadt verließen. Wir trafen dabei unsere Wohnungsnachbarn, die mit anderen Bewohnern unseres Hauses den 2. Angriff nicht weit von uns überlebt hatten. Den anderen Hausbewohnern war dabei eine großer Wäschekorb mit Kleidung in Flammen aufgegangen, und eine Nachbarin war ums Leben gekommen. An einem Briefkasten der Teplitzer Straße steckte ich auch einige Postkarten ein, die mir noch auf dem Bahnhof Flüchtlinge zur Beförderung übergeben hatten.

Zwischenbemerkung:  
Später habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich die Karten so eingeworfen hatte. Vielleicht lebten die Absender zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr, während die Empfänger glauben mußten (aufgrund des Poststempels), die Karten seien erst nach dem Angriff geschrieben).

Als wir zu unseren Bekannten kamen, erkannten diese uns zunächst nicht: "Wer sind Sie denn?" Dann sagten wir unseren Namen, und die Menschen erschraken. Wir mußten furchtbar ausgesehen haben. Die Leute machten warmes Wasser, damit wir uns waschen konnten, und gaben uns auch etwas zu Essen. Mein Vater aber war nicht dort.  
So machten wir uns auf den Rückweg; auf den gleichen Straßen, die wir gekommen waren. Wieder schauten wir nach den Toten, aber meinen Vater sahen wir nicht. Nochmals gingen wir zur Einmündung Zirkusstraße, kletterten aber wiederum nicht über die Trümmer. Dann beschlossen wir, uns auf den Weg nach der Heimat meiner Mutter zu machen, nach Schirgiswalde, einem kleinen Städtchen südlich Bautzen.

Zwischenbemerkung:  
Wir haben nicht sehr intensiv nach meinem Vater gesucht. Da wir seinen "Stammplatz" nicht kannten, hätten wir die ganze Bürgerwiese und - falls er nicht bis dahin gekommen war - den Blüherpark systematisch absuchen müssen. Bei dem Anblick, den die Toten boten, war uns das einfach nicht möglich. Vielleicht hatten wir auch Furcht, wir könnten meinen Vater in einem ähnlichen Zustand finden. Irgendwie ahnten wir, daß er den 1. Angriff nicht überlebt hatte, weil er nach diesem nicht zu unserem Haus gekommen war, wie er immer gesagt hatte.

Wir suchten einen Weg, der uns möglichst nur über breite Straßen führte: Johann-Georgen-Allee, Lennéstraße, Stübelplatz, Güntzstraße, Sachsenplatz (hier lagen auf der Straße ebenfalls Tote; Tote sah ich auch in einem zerstörten Straßenbahnwagen), Albertbrücke, von da auf der Neustädter Seite hinab zu den Elbwiesen. Etwa 250 m nach der Brücke, elbaufwärts, war eine Abteilung Soldaten mit Grabwerkzeugen angetreten. Plötzlich spritzten diese auseinander und warfen sich auf den Boden. Einer begann sogar, ein Schützenloch auszuheben. Da warfen auch wir uns nieder. Und schon begann es von neuem: Motorengedröhn, Fauchen stürzender Bomben, Explosionen. Die Einschläge schienen mir aber weiter weg zu sein (meine Mutter erzählte freilich, sie habe eine Reihe Fontänen - also einen Bombenreihenwurf - in der Elbe gesehen). Irgendwann war auch das vorbei. Die Soldaten standen auf und wir gingen weiter: Die Elbwiesen entlang bis zum Waldschlößchen, dann den Schienen der Linie 11 folgend bis nach Bühlau (unterwegs bekamen wir von mitleidigen Menschen etwas zu Essen und zu Trinken - die sagten in einem fort: "Ihr armen, armen Menschen" - und irgendwo anders eine Bescheinigung, daß unser Haus zerstört war) und dann nach Weißig. Dort warteten wir an einer Sperre der Feldgendarmerie, die alle Fahrzeuge anhielten, auf eine Fahrgelegenheit nach Bautzen. Endlich kam ein LKW mit einem Geschütz auf der Ladefläche und eines angehängt, der an die Front nach Lauban wollte und auf dem noch Platz für uns war. So verließen wir das zerstörte Dresden.

Nachträge:
1. In Schirgiswalde - 50 km Luftlinie von Dresden - fanden Waldarbeiter einige Tage später eine Karte, die der dortige Pfarrer 1935 an Dr. Wensch nach Dresden, Friedrichstraße geschickt hatte. Die Postkarte war gelocht und abgelegt worden. Jetzt war sie bis an die Lochungen verbrannt, durch den Feuersturm emporgewirbelt und durch die Luft zurückgetragen worden. Ich habe diese Postkarte später selbst gesehen.

2. Meine Mutter hatte für meinen Vater - Paul Just - eine Vermißtenmeldung aufgegeben. Am 3.4. bekam sie die Nachricht, wonach "ein Vermißter namens Christian Just" am 20.2. aus einem Keller der Bürgerwiese tot geborgen und auf dem Heidefriedhof bestattet worden sei. Meine Mutter fuhr am nächsten Tag nach Dresden, um sich die Hinterlassenschaften aushändigen zu lassen. Sie bekam: meines Vaters Wehrpaß, mein Sparkassenbuch, meines Vaters Brieftasche und sein Portemonnaie. In Brieftasche und Portemonnaie befanden sich nur noch Quittungen und Notizzettel.

3. Im März 1953 fuhr ich zum Heidefriedhof, um meines Vaters Grab zu besuchen. Da ich die Stelle nicht kannte, ging ich zur Pforte. Dort hatten sie ein großes Buch, in dem all die Toten der Massengräber verzeichnet waren. Eingetragen als bestattet war:
Just, Christian, Zirkusstraße 11
Just, Paul, Zirkusstraße 11
Natürlich habe ich gebeten, meinen Namen zu streichen. Aber wer ist das wohl, der dort unter meinem Namen begraben liegt? Wieviele Menschen haben wohl auf eine Nachricht über diesen gewartet?

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Diesen Bericht habe ich am 4.-6.8.1981 niedergeschrieben. Alles, was hier steht, habe ich so erlebt und in den vergangenen Jahren so den verschiedensten Menschen erzählt. Wenn ich mich nicht mehr genau erinnere, habe ich die Einzelheit entsprechend formuliert. Erklärungen und Ergebnisse späterer Überlegungen sind deutlich als solche zu erkennen. Weggelassen habe ich die Schilderung eigener Überlegungen und Empfindungen jener Stunden und auch manche persönliche Einzelheit, die für den Gesamtablauf bedeutungslos und für Dritte im allgemeinen ohne Interesse sein dürften. -

Wer diese Nacht in Dresden und unter den Bomben erlebt hat, wird niemals darüber hinwegkommen. Wer sie nicht erlebt hat, kann lesen soviel er mag, er wird das Geschehene niemals nachvollziehen können.
 
Freiburg i.Br., den 6. August 1981
Christian Just

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