> Dorothea Günther: Berufseinstieg während der Weltwirtschaftskrise 1932

Dorothea Günther: Berufseinstieg während der Weltwirtschaftskrise 1932

Dieser Eintrag stammt von Dorothea Günther (*1914) aus Berlin, Juni 2010:

/lemo/bestand/objekt/guenther03 Ostern 1932, zur Zeit der tiefsten wirtschaftlichen Depression, trat ich "ins Berufsleben ein". Ich hatte großes Glück, dass ich als eine der wenigen - offenbar aufgrund meines guten Abschlusszeugnisses in der Höheren Handelsschule - sofort eine Stellung fand, und zwar eine recht merkwürdige, geheimnisvolle. Ich wurde in das Büro eines Majors vermittelt. Er und seine Mitarbeiter hatten sich zum Ziel gesetzt, die "Kriegsschuldlüge" zu klären. Sie prüften meine Französischkenntnisse und schienen zufrieden zu sein. Als Arbeitsplatz wurde mir ein kleines, dunkles Büro zugewiesen, dort sollte ich Teile des Versailler Vertrages übersetzen, obwohl damals eine offizielle Übersetzung bestimmt schon vorlag. Da hockte ich armes Wesen den ganzen Tag völlig vereinsamt, niemand sagte mir, wann Frühstücks- oder Mittagspause sei, kaum dass ich Bescheid bekam, wann ich nach Hause gehen durfte. Emsig übersetzte ich den Vertrag, den ich nicht einmal in deutscher Sprache verstanden hätte. Ich bin überzeugt, die Herren haben den Vertrag nach meiner Bearbeitung nicht wiedererkannt. Dazu kam die Bedrückung der Isolation in diesem völlig stillen Bürobetrieb. Doch die beiden Herren hatten bald ein Einsehen, und so wurde nach einer Woche das Arbeitsverhältnis in gegenseitigem Einvernehmen gelöst. Am Ostersamstag verfügte ich das erste Mal in meinem Leben über einen für meine Verhältnisse ansehnlichen Betrag - selbstverdient! Ich kaufte meiner Mutter einen großen Strauß Osterglocken und für mich viele, viele Ostereier.

In dieser Zeit begann ich mit offenen Augen durch die Stadt zu laufen. Auf meinem täglichen Weg zum Alexanderplatz nahm ich bewusst die langen Schlangen vor dem Arbeitsamt wahr, Menschen, die sich schon am frühen Morgen anstellten, um ihre Arbeitslosenunterstützung abzuholen. Die betrug wöchentlich 25 Mark, Wohlfahrtsunterstützung sieben Mark. Edith, eine Freundin von mir, die bei den Pfadfindern war, hatte mir erzählt, wie schnell die Arbeitslosen in Armut und Elend gerieten. Ihre Familie hatte diese Erfahrung gemacht. Viele meiner ehemaligen Mitschülerinnen und Freundinnen hatten noch keine Stellung gefunden, und sie bekamen keine Unterstützung. Wenn ich an den vielen Arbeitslosen vorbeilief, wurde ich mir doch allmählich unserer gesicherten Existenz bewusst, da ich aus einer Beamtenfamilie stamme.

/lemo/bestand/objekt/guenther04 Nach dem Versailler-Vertrags-Intermezzo war ich nur wenige Tage arbeitslos, ich wurde dann 1932 an eine Kaffee- und Tee-Importfirma vermittelt mit Sitz am Bahnhof Börse, nicht weit entfernt vom Alexanderplatz. Nach eingehendem Gespräch mit dem Geschäftsführer wurde ich zu dem fürstlichen Gehalt von 80 Mark eingestellt. Andere junge Frauen verdienten nur 60 Mark. Und dann noch in einer Kaffee- und Tee-Importfirma, das konnte doch nur bedeuten, dass ich auch fremdsprachlich tätig sein würde. Schnell musste ich jedoch feststellen, was sich tatsächlich hinter Import & Co verbarg - und das brachte mich unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Es handelte sich um eine Filiale des Großkonzerns Kaiser's-Kaffee-Geschäft in Vieren, die Großverbraucher belieferte. Nun, die Struktur der Firma sollte mich nicht weiter interessieren, wenn ich nur mein hohes Gehalt bekäme, ausgezahlt waren es 68 Mark. Ich war glücklich und stolz über diesen Verdienst. Mein Selbstwertgefühl stieg. Einen Teil meiner Einkünfte gab ich zu Hause als Kostgeld ab, ein Teil wurde gespart und über den Rest durfte ich frei verfügen.

Die Münzstraße, wo auch die Berliner Unterwelt ihre Lokale hatte, gehörte eigentlich zum Scheunenviertel. In dieser "illustren" Gegend, nur fünf Minuten entfernt, war auch meine neue Firma gelegen. Oft wählte ich den Heimweg durch diese Straße, ich ließ mich von der Umgebung wenig stören und studierte die Sonderangebote. Dort erstand ich auch die ersten Skistiefel für 10 Mark. Und wie lange haben die gehalten! Bis dahin hatte ich mir ein Fahrrad mit meiner Schwester Hilde teilen müssen. Das ging natürlich nicht gut. Ich durfte es nur benutzen, wenn ihr nicht der Sinn danach stand. Das Rad besaß nur eine Petroleumlampe, die bei dem kleinsten Windzug erlosch. In jeder Kurve ging sie wieder aus. Da es verboten war, ohne Licht zu fahren, vertat ich viel Zeit damit, sie wieder anzuzünden, was im Freien sehr schwierig war. Mein neues Rad hatte Dynamobeleuchtung. Es leistete mir viele Jahre gute Dienste, erst 1945 wurde es von den Russen gestohlen. Ich stelle mir vor, dass es noch heute irgendwo in den weiten Steppen Russlands jemandem gute Dienste tut.

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