> Dorothea Günther: Diskriminierung und Entrechtung der Juden

Dorothea Günther: Diskriminierung und Entrechtung der Juden

Dieser Eintrag stammt von Dorothea Günther (*1914) aus Berlin, Juni 2010:

/lemo/bestand/objekt/guenther07 Im Herbst 1938 erlebte ich die große Aufregung um den Einmarsch ins Sudetenland - Deutschland hatte dabei bereits praktisch am Rande eines Krieges gestanden. Meine Mutter drang deshalb darauf, dass ich mein gespartes Geld anlegte. Sie hatte reichlich Erfahrung mit Geldverlusten im Ersten Weltkrieg und in der Inflationszeit 1923. Ich sollte beginnen, mir eine Aussteuer zusammenzukaufen. Sie meinte, irgendwann würde ich ja mal heiraten und bis dahin sollte meine Möbelausstattung "auf Lager" gegeben werden. Silber, Porzellan und Wäsche besaß ich bereits. Wochenlang besichtigten wir Möbel, verglichen Preise und entschlossen uns, einen Teil der Möbel bei den Deutschen Werkstätten zu kaufen. Diese zeichneten sich durch klare Linienführung, gediegene Form und gute Verarbeitung aus.

Am Nachmittag nach der "Reichskristallnacht" befanden wir uns wieder einmal auf Besichtigungstour in der Nähe des Rosenthaler Platzes. Wir konnten nicht fassen, was wir da sahen: die zerstörten und geplünderten Läden, drinnen die bleichen Gesichter der Besitzer, wenn sich überhaupt jemand blicken ließ. Auch bei dem Geschäft, das wir aufsuchen wollten, zerschlagene Schaufensterscheiben und verwüstete Inneneinrichtung. Breitbeinig hielten SA-Leute davor Wache. Ein vorbeifahrender Radfahrer machte, typisch berlinerisch, eine schnodderige Bemerkung. Prompt wurde er von den SA-Leuten vom Rad gerissen und niedergeschlagen, und ein SA-Mann trat mit seinen schweren Stiefeln auf dem am Boden liegenden herum. Und kein Mensch kam ihm zu Hilfe! Es schnürte mir die Kehle zu und ich bekam einen Anfall von hemmungslosem Schluchzen. Ich konnte mich überhaupt nicht wieder beruhigen, Mutter hatte Mühe, mich wegzuziehen. Die Erinnerung an diesen Tag wurde ich nie mehr los. Wieder einmal dachte ich an das, was ein Kollege in meiner ehemaligen Arbeitsstelle, ein grässlicher SA-Rabauke, angedroht hatte: "Lassen Sie uns erst mal an der Macht sein!"

Im Sommer 1939 verdichteten sich die Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg. Bald darauf hatte ich einen Unfall. Beim Start zu einem 100-Meter-Lauf zog ich mir einen Muskelriss zu. Fräulein Wertheim, die von Beruf Masseurin war, wollte mir Gutes tun und massierte den verletzten Muskel! Es dauerte ziemlich lange, bis ich wieder gesund war und laufen konnte. Über Fräulein Wertheim war ich enttäuscht, weil sie sich in der Zeit meiner Krankheit nicht gemeldet hatte. Wieder genesen, ging ich zu der Wohnung der Wertheims und klingelte, aber es öffneten fremde Menschen, die sagten, sie wüssten nichts über den Verbleib der Wertheims.

Eigentlich war es beschämend, wie wenig ich bis dahin von der Situation der Juden mitbekommen hatte. Später ging ich soweit, mich schuldig zu fühlen. Das kritische Denken, auf das ich stolz war, schien total versagt zu haben. Mit klarem Willen und Überlegung hätte ich herausfinden müssen, was es mit dem so zurückhaltenden und scheuen Fräulein Wertheim auf sich hatte. Trotz meines kranken Beines hätte es möglich sein müssen, mit ihr in Kontakt zu bleiben.

Sehr bewegt hat mich auch das Schicksal einer Freundin, Nora Perl, die Halbjüdin war. Sie war in Westfahlen geboren als Tochter eines jüdischen Arztes, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Sie war ein besonders aufgeschlossenes, Leben sprühendes Menschenkind. Ihre Mutter heiratete dann einen "Arier" und so waren auch ihre später geborenen Halbgeschwister "Arier". Als die Nürnberger Gesetze immer schärfer gehandhabt wurden, ging Nora nach Berlin, um ihre Familie nicht zu belasten. Die hat sich dann auch nicht mehr viel um sie gekümmert. Sie lernte einen Nazigegner kennen. Er und sein Freundeskreis bemühten sich, ihr das Leben erträglicher zu gestalten. Der Freund fiel kurz vor Kriegsende, sie überlebte und wurde 1945 von Russen schlimm vergewaltigt und infolgedessen schwanger. Danach verfiel sie in tiefe Depression. Später schrieb sie mir, dass sie in Selbsttötung den einzigen Ausweg sähe.

Wie konnte es geschehen, dass man der gesellschaftlichen Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt gegenüber Juden so gleichgültig gegenüber stand? Kaum einer hatte zum Beispiel den Mut, ein Schild abzureißen, wie es am Eingang einer Laubenkolonie stand: "Waldesluft verträgt sich nicht mit Judenduft". Oder war es vielleicht doch ein klein wenig schmeichelhaft sich selbst als "Herrenmensch" zu fühlen? Dass so wenige aus unserer bürgerlichen Gesellschaftsschicht Zivilcourage aufbrachten, mag auch daran gelegen haben, dass uns in unserer Erziehung absoluter Gehorsam und völlige Unterordnung eingebläut wurden war. Unterordnungsbereitschaft zeigte sich beispielsweise darin, wie man zu grüßen hatte. Jungen mussten sich verbeugen, einen "Diener machen". Je tiefer er ausfiel, als desto höflicher und damit besser erzogen galt man. Die Mädchen mussten vor lauter Ergebenheit in der Hüfte einknicken und dabei auf ein Knie sinken, das Ganze war dann ein "Knicks".

Einmal hatten meine Mutter und ich in der Zeitung etwas von Haushaltauflösungen gelesen und wir beschlossen, manches für die Aussteuer noch Fehlende günstig zu erwerben. Bei der angegebenen Adresse im alten Berliner Westen wurden wir in eine gepflegte, vornehme Wohnung geführt, die offensichtlich gerade erst und in großer Eile verlassen worden war. Auf dem gedeckten Tisch standen noch gefüllte Kompottschälchen. Mutter und ich wechselten nur einen Blick, wir wussten beide, dass es eine Wohnung von Juden war. Als wir uns zum Gehen wandten, sagte der Mann, wenn wir hier nicht das Richtige fänden, könne er uns auch andere Wohnungen zeigen, und alles wäre so billig, fast geschenkt! Uns packte das Entsetzen, schnell verließen wir die Wohnung.

Von Vernichtungslagern habe ich tatsächlich nichts gewusst. Einige jüdische Familien, die man flüchtig kannte, waren ausgezogen und es hieß, sie seien ausgewandert. Von KZs wusste ich, was mein Vater meiner Schwester Hilde gelegentlich erklärt hatte, nämlich dass es "Arbeitslager" für uneinsichtige politische Querköpfe gebe. Über deren Eingangstor stünde "Arbeit macht frei", die Gefangenen lebten dort in Baracken und vor diesen fänden sich Beete mit feinem Sand. Den müssten die Gefangenen immer in Mustern fein sauber harken. Irgend etwas hatte er also doch läuten hören!

Im Krieg erlebte Mutter, wie Juden aus unserem Viertel abgeholt wurden. Vor einem Haus war ein LKW vorgefahren, zwei alte Leute wurden aus dem Haus gezerrt und auf die Ladefläche des Wagens gestoßen. Mutter und einige herumstehende Frauen fingen an zu schimpfen, sie riefen, man solle die Alten doch in Ruhe lassen, sie würden doch keinem etwas zu leide tun. Die abholenden Männer antworteten nicht und fuhren fort. Als Mutter das erzählte, sagte ich ihr, sie sei sehr unvorsichtig gewesen. Ihre Antwort war, sie habe in dem Augenblick eine fürchterliche Wut gehabt, ihr sei alles egal gewesen.

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