> Dr. Siegfried G. Lion: Der Erste Weltkrieg - Impressionen aus Schmoditten, Ostpreußen

Dr. Siegfried G. Lion: Der Erste Weltkrieg - Impressionen aus Schmoditten / Ostpreußen

Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried G. Lion aus Wienhausen, Dezember 2011:

Dies ist ein Auszug aus den Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters Ernst Wedemann (1867-1958), Superintendent von Allenstein in der Zeit von 1915-1940, (geschrieben 1948-1953):

Ich beschränke mich natürlich auf meine persönlichen Erlebnisse in Schmoditten. Die Entstehung dieser ersten großen Erschütterung des ganzen Gefüges der europäischen Völkerwelt setze ich als bekannt voraus. An dem Tage, an dem die Kriegserklärung wie ein fahler Blitz das kommende Unwetter ankündigte, waren Mutter Hilda und ich in meine frühere Gemeinde Schippenbeil gefahren, um unseren alten Freund Gutsbesitzer Rost in Rückgareben das letzte Geleit zu geben. Die Angehörigen hatten mich gebeten, die Begräbnisfeier im Hause und auf dem Gutsfriedhof zu halten. So hoch alle Beteiligten den aufrechten, bewährten Toten achteten, bei dieser Feier kam er nicht voll zu seinem Recht. Jeder der Lebenden bangte innerlich darum, was die nächste Stunde bringen würde. In allen Gemütern herrschte Gewitterstimmung. Und richtig, kaum hatte ich über dem Toten im Grabe den Segen gesprochen, da entstand eine allgemeine Unruhe. Es war gemeldet worden, dass soeben die Kriegserklärung bekannt gegeben sei. Nun hatte jeder kampffähige Mann eiligst dem Mobilmachungsbefehl entsprechend der ihm bekannten Meldestelle zuzueilen.

In wenigen Minuten war die Trauerversammlung in alle Winde zerstreut. Tief bewegt reichte man sich die Hände und sah sich mit tiefem Ernst in die Augen, wusste man doch nicht, ob man sich in diesem Leben je wiedersehen würde. Auch wir fuhren mit dem nächsten Zuge nach Schmoditten zurück. Auf den Bahnhöfen herrschte große Bewegung. In Schmoditten fanden wir unseren lieben Feriengast Wilhelm Wedemann, meines Bruders ältesten Sohn den Studenten der Mathematik, nicht mehr an. Eine Depesche hatte ihn zur sofortigen Rückkehr nach Danzig aufgefordert. Die unsrigen erzählten uns, dass der junge, fröhliche, vielseitig besonders auch musikalisch sehr begabte Mensch beim Lesen der Depesche tief erblasst sei. Hat er geahnt, dass er uns nie wiedersehen würde? Um Weihnachten fand er sein Grab in der blutgetränkten Erde Polens. In seiner Nähe ruhte damals schon ein anderer Neffe, Siegfried Günther aus Johannenhof, ein schlanker, hübscher Junge, der seine Ausbildung als Architekt begonnen hatte. Als ich an jenem ersten Kriegstage nach einem unruhig bewegten Tag am Abend vor unser Haus in die Nacht hinaustrat, da hat mich der Anblick des klaren Sternenhimmels tief bewegt. Der bevorstehende Krieg hatte auf der Erde die höchste Unruhe hervorgerufen, alles wogte durcheinander, jeder ging einer unbekannten Zukunft entgegen. Und da oben über der stürmisch bewegten Erde ging die Sternenwelt unbewegt in majestätischer Ruhe ihren vorgeschriebenen Weg, unberührt von der Unruhe der Welt. Da wurde es mir klar, dass, wer Gott nur aus der Natur erkennen will, niemals zum rechten Verständnis seiner Beziehungen zur Welt gelangen kann. Erst wenn er unter dem Kreuz seines Sohnes eine Antwort sucht und findet auf die Frage, in welchem Verhältnis Gott zu uns Menschen steht, dann wird es ihm zur Gewissheit werden, dass Gott tiefsten Anteil nimmt an unserem Schicksal, dass er stets gerade den Mühseligen und Geladenen besonders nahe ist zu Hilfe und zu Trost.

Uns bewegte in jenen ersten Kriegstagen die sehr ernste Frage, wie wir unsere Kinder in Sicherheit bringen könnten. Wir lebten in einer Grenzprovinz, die Russen bedrohten Ostpreußen, im Kriegsrat unserer Feinde hatte Russland die Aufgebe erhalten, uns um jeden Preis von Frankreich, dessen Hauptstadt Paris schon bedroht war, abzulenken. Man musste also einen starken Ansturm auf Ostpreußen erwarten. Da erhielt Mutter Hilda von ihrer alten Schulkameradin und Freundin Mathilde v. Schmidt eine Einladung, mit den Kindern zu ihr zu kommen. Sie war mit einem reichen Großgrundbesitzer verheiratet, der ein Gut bei Schneidemühl und ein Gut in Pommern besaß. Wir entschlossen uns, diese Einladung anzunehmen. Schwägerin Käthe Sandreczki, die sich bei uns aufhielt, übernahm die Aufgabe, die Kinder zu begleiten. Es war ein schmerzlicher Abschied. Die Entwicklung der Kämpfe in Ostpreußen gab uns Recht. Bei Gumbinnen kam es zu schweren Schlachten, in denen unsere Truppen den Ansturm der Russen nicht aufhalten konnten. Ostpreußen war in großer Gefahr. Unser Schwager Bobeth mit meiner jüngsten Schwester Julchen und seinen zwei noch kleinen Knaben Hans und Gerhard hatte seine Pfarrstelle in Mallwischken schleunigst verlassen müssen, hielt sich einige Tage bei uns auf, um dann seine Flucht fortzusetzen Er fand in Schleswig-Holstein eine Zuflucht. Nach der Abreise unserer Kinder beschlossen wir, solange in Schmoditten auszuhalten, bis die Gemeinde im Ganzen das Feld räumte.

In diesen besagten Tagen habe ich sehr interessante Beobachtungen anstellen können über Auswirkungen einer umsichgreifenden Kriegspsychose. Sie entstand aus dem elementaren Bedürfnis, auch etwas zur Verteidigung des Vaterlandes zu tun, Krieg führen zu helfen. Aber wo gab es dazu eine Gelegenheit? Nun das lag doch nicht so fern! Man wusste doch, welche schlimme Rolle im Krieg die Spione spielten! Also, die Augen aufgemacht! Jeder wollte mithelfen. Es wurde gemeldet: Heute früh wurde in jenem Wäldchen ein unbekannter, auffallender Mann gesehen! Sofort wird eine Suchabteilung gebildet und ausgeschickt, den Mann aufzuspüren und vor den Schulzen zu führen. Oh, es blieb nicht bei dem einen Fall. In jedem Wäldchen waren verdächtige Personen bemerkt worden. War eine Spionenjagd vergeblich verlaufen, so verdoppelte sich der Eifer. Eines Tages kam von auswärts her folgendes Gerücht: Bekanntlich seien doch die Franzosen nun auch in den Krieg eingetreten, also mit den Russen verbündet. Mit den Finanzen der Russen stünde es sehr schlecht, daher hätten die Franzosen eine Menge Autos abgeschickt, in denen große Summen in Gold versteckt wären. Diese Autos hatten die Aufgabe, gut getarnt sich durch Deutschland hindurch zu schleichen und den Russen die französischen Hilfsgelder zuzuführen. Sobald dies Gerücht uns erreichte, entstand in Schmoditten eine große Aufregung, fast möchte ich sagen Begeisterung. Endlich bot sich eine Gelegenheit, aktiv in den Kampf für die Heimat einzutreten. Zwischen Pfarrhaus und Kirche lief eine wichtige Verkehrsstrasse durch unser Dorf. Was war zu tun? Nun, das erste Erfordernis war doch dies, dass die Strasse für den Autoverkehr gesperrt werden musste. Jedes Auto musste Halt machen und sich einer gründlichen Kontrolle unterziehen. Tag und Nacht stand eine Wache an der Sperrkette, die quer über die Strasse lief. Die Personen mussten sich eine Leibesvisitation gefallen lassen, für Frauen war ein besonderer Raum dafür bereitgestellt. Die Untersuchung wurde durch Frauen durchgeführt.

Eines Tages kam ein sehr feines Auto angefahren, das unsere Sperre nicht beachten wollte. Der Schulze, Herr Klein mit einer Flinte bewaffnet, trat energisch auf und drohte zu schießen. Da stellte es sich heraus, dass der Insasse des Autos der später durch den "Kapp-Putsch" berühmt gewordene Generallandschaftsdirektor Kapp war, der in der Umgegend von Schmoditten begütert war. Er erkannte Herrn Klein. Dieser erklärte ihm die Sache. Herr Kapp lobte unseren Eifer und setzte seine Fahrt fort. Nach etwa drei Tagen hörte der Autoverkehr völlig auf, denn die Autos wurden ja nicht nur in Schmoditten angehalten, sondern in jeder an der Chaussee gelegenen Ortschaft, sodass sie ihre Aufgabe schneller Beförderung nicht mehr erfüllen konnten. Meine lieben Leser werden über unsere kindlichen Vorstellungen von Kriegführung lächeln und mit Recht. Aber die Kriegspsychose fragt nicht viel nach logischem, klarem Urteil. Die Tage liefen dahin in Warten und Bangen. Es kam der letzte Sonntag vor dem Einbruch der Russen. Die Gemeinde war in gedrückter Stimmung. Die Gutsbesitzer und Bauern erzählten mir, dass sie von der Zivilverwaltung, also dem Landrat, einen sehr merkwürdigen Befehl erhalten hätten. Sie sollten die Ernte schleunigst hinter die Weichsel schaffen. Allgemeines Schütteln des Kopfes. Wie denken sich das die Herren an den Grünen Tischen?! Die herrliche, reiche Ernte lag in den Scheunen und stand in Getreidebergen auf den Feldern. Wie sollte die in wenigen Tagen hinter die Weichsel geschafft werden? Eine kopflose Anordnung! Inzwischen entwickelten sich die Dinge sehr schnell. Die Rennenkampf-Armee rückte gegen Königsberg vor. Von diesem Vorstoß musste Pr.-Eylau und Umgebung betroffen werden. Die Zivilverwaltung erließ den Alarmbefehl zur Flucht hinter die Weichsel. In Schmoditten wurde ein Treck aufgestellt. Unter Führung des Schulzen fuhr der Treck mit Ziel Zinten ab. Ich bestand darauf, dass Hilda mit ihrer Hausgehilfen sich dem Treck anschloss. Ich selber wollte noch zurückbleiben, auf Ordnung im Dorf acht geben und gegebenenfalls nach Bergung aller Amtssachen zu Fuß den Treck zu erreichen suchen. Der folgende Tag war sehr unruhig. Schmoditten war fast ganz menschenleer. Einige ältere Männer waren zurückgeblieben. Die Dorfstrasse war von frei umherschweifenden Schweinen belebt. Eine Rücksprache mit den wenigen Männern ließ es mir dringend erwünscht erscheinen, eine Dorfpatrouille einzusetzen. Dazu bedurfte es einer Waffe. Ich eilte in das nahe Städtchen Pr.-Eylau und erstand ein Gewehr. Dies Gewehr übergab ich feierlich einem alten Waldhüter mit der Weisung, damit im Dorf hin und her zu gehen und jede Unordnung zu unterdrücken.

Am nächsten Morgen schon zeigte es sich, dass diese Maßregel sehr notwendig war, denn da ergoss sich den ganzen Tag über ein unaufhörlicher Strom von flüchtenden Fuhrwerken durch das Dorf. Die Ortschaften von der Ostgrenze flohen geschlossen. Die Wohnungen der geflohenen Schmoditter standen offen. Sogleich setzten Versuche ein zu plündern. Besonders der verlassene Dorfkrug lockte viele Beutelüsterne an. Ich erklärte am Dorfeingang kategorisch unter Hinweis auf den bewaffneten Posten, dass jeder Versuch in Schmoditten zu plündern, streng bestraft werden würde. Jeder Plünderer habe sofort das Dorf zu verlassen. Mein Kontroll- und Wachedienst dauerte den ganzen Tag hindurch. Wenn die Schmiedefrau Borowski, die einzige im Dorf zurückgebliebene Frau, sich nicht über mich erbarmt und mir am Nachmittag heißen Kaffee und etwas Brot spendiert hätte, dann wäre ich an jenem Tage verschmachtet. Am Abend wurde mir gemeldet, im Hause des Pfarrhufenpächters sei ein fremdes Mädchen beobachtet worden, das wahrscheinlich Kleider und Wäsche der Pächterfrau stehlen wolle. Ich ließ es sofort von einer Frau untersuchen, die dann auch den natürlichen Leibesumfang des Mädchens sehr schnell wiederherstellte, in dem sie einen wahren Panzer von gestohlenen Sachen ablöste. Die Kolonne, zu der diese Spitzbübin gehörte, musste sofort noch vor Sonnenuntergang das Dorf verlassen. Ich habe an diesem Tage durch Erfahrung gelernt, die traurige Feststellung machen müssen, dass bei den meisten sog. Christen die Gebote Gottes noch nicht im Herzen und Gewissen verankert sind, sondern meist nur aus Furcht vor der Strafe erfüllt werden. Mit der Polizei verschwindet auch der innere Widerstand gegen die Versuchung zu Rauben und zu Stehlen. Nur bei wenigen ist das Gesetz schon zum vollkommenen Gesetz der Freiheit geworden (Jakobus 1, 25).

Nach dem strengen Dienst des Tages sank ich am Abend todmüde ins Bett. Ich hatte kaum 5 Stunden geschlafen, da erwachte ich um 1 Uhr nachts von Gepolter und Rufen an der Haustür. Ich gehe die Tür öffnen. Wer steht vor mir? Hilda mit unserem Hausmädchen! Wo kommt ihr her? Wollt ihr den Russen entgegen fahren? Sie berichten: Wir kamen auf unserer Flucht bis nach Zinten. Das Gedränge auf den Strassen war furchtbar. Herden verstopften die Wege. Trecks fuhren durcheinander. Die Luft war erfüllt von dem Gebrüll des verängstigten Viehs, das nicht gemolken werden konnte. Wie sollten wir da bis an die Weichsel gelangen? Die fliehenden Massen wurden immer dichter. Da entschloss sich unser Führer, Schulze Klein, den Landrat in Pr.-Eylau Herrn v. Keudell, anzurufen und um Verhaltungsmaßregeln zu bitten. Der Bescheid lautete: Umkehren! Zurück nach Hause! Gefahr vorüber! Russen kommen nicht! Ach wie glücklich waren wir! Alle unsere Trecks machten kehrt. So sind wir denn wieder beisammen. Ich freute mich natürlich sehr über diese Wendung, wenn auch bei der Freude ein kleiner Unterton von Zweifel noch mitklang. Wir legten uns also zur Ruhe und schliefen friedlich bis zum hellen Morgen. Am Vormittag des nächsten Tages standen wir, wie das in jenen Tagen üblich war, auf der Dorfstrasse und hofften, von den Passanten Neues zu erfahren. Es dauerte nicht lange, da kamen Postbeamte aus Bartenstein, die berichteten, dass sie Bartenstein unmittelbar vor dem Einzug der Russen verlassen hätten, der Feind wäre also in schnellem Vorrücken auf Königsberg. Jetzt war es also klar, dass der Landrat schlecht unterrichtet uns den Russen in die Hände getrieben hatte. Ich steige auf den obersten Boden des Hauses, um auszuschauen, ob nicht russische Spähtrupps im Anmarsch sind. Richtig! Dort hinten kommen sie von einem Hügel herab, nähern sich dem Dorf, entwickeln sich zu mehreren kleinen Zügen. In wenigen Minuten müssen sie im Dorf sein. Ich eile auf die Strasse und melde das den Dorfbewohnern. Alles stiebt auseinander. Jeder eilt in sein Haus. Hilda und ich schauen uns schnell um, wo noch etwas zu verstauen wäre. Da denkt Hilda an die Flinte. Wenn sie die finden, sind wir verloren. Da sind sie schon, die Russen. Wohin nur mit der Flinte? Hilda ruft: "In den Zwischenboden!" (Den ich oben geschildert habe.) Schnell wird die Luke geschlossen. Dieses Versteck finden sie nicht. Nun gehe ich ruhig an meinen Schreibtisch und tue, als ob ich schriebe. Da sehe ich, wie sich an die Fensterscheibe neben dem Schreibtisch ein Gesicht drückt, das sehen möchte, wer da am Tisch sitzt. Schnell stehe ich auf, gehe zur Haustür und frage, was man wünsche. Es war wohl der Anführer der Truppe, ein russischer Hauptmann. Ich bemerke, dass dieser Spähtrupp augenscheinlich zu den russischen Elitetruppen gehörte. Es stellte sich gleich heraus, dass einige Offiziere Deutsch sprachen, wahrscheinlich waren es Baltendeutsche. Genau am Pfarrhaus machte die Abteilung halt, wohl, um sich ein wenig zu erfrischen. Es war mir interessant zu beobachten, wie ein älterer russischer Wachtmeister, während seine Schwadron absteigen und an unserer Pumpe trinken durfte und sich allerlei Essbares geben ließ, wie angewachsen auf seinem Streitross sitzen blieb, uns alle genau im Auge behielt. Jeder Soldat hatte seine Aufträge. Einige kletterten an den Telegraphenstangen in die Höhe und schnitten die Drähte durch, die leise klirrend zu Boden fielen. So, dachte ich in dem Augenblick, jetzt sind wir von dem übrigen Deutschland abgeschnitten, wir erfahren nichts mehr von den Unseren.

Der Briefkasten wurde zerstört. Hilda und ihre Haushilfe schafften herbei, was da war, Brot, Butter, Eier, Milch usw. Die Soldaten kamen durchaus manierlich heran zum Küchenausgang und zur Pumpe. Nach etwa 20 Minuten rückte der Zug wieder ab. Von diesem Tage an haben wir 12 Tage hindurch unter russischer Herrschaft gestanden. Hilda verdankt diesem Erlebnis einen schönen Silberschmuck. Ein russischer Offizier muss wohl, als er sich an der Pumpe wusch, eine silberne Armbandkette verloren haben, die aus Emblemen russischer Form zusammengesetzt war. Sie ließ sich daraus ein Armband machen, das sie gerne getragen hat.

Unter dem großen Flüchtlingsstrom, der inzwischen von der Ostgrenze her durch Schmoditten flutete, befand sich auch eine Gutsbesitzerfamilie namens Gutzeit aus der Nähe von Allenburg, die nun von den Russen eingeholt die Flucht aufgab. Sie suchte in unserem Dorf ein Unterkommen. Wir hatten in unserem Pfarrhaus viel Platz, auch auf unserem Hof Raum genug für Wagen und Pferde. Und so haben wir die Zeit der Fremdherrschaft mit der lieben, feinen Familie Gutzeit verlebt. Frau Gutzeit, die viel Proviant, auch dienende Geister genug auf die Reise mitgenommen hatte, bat Hilda dringend, ihr die Sorge für den Haushalt zu überlassen. Für die Verpflegung würde sie sorgen. Das sollte eine Entschädigung sein für die Aufnahme des Trecks. So haben wir in diesen Tagen ohne Sorgen leben können. Milch gab es in Strömen. Die Rossgärten waren von edlen Kühen angefüllt, die von der Grenze kamen und brüllten, weil sie gemolken werden wollten. Dass die Schmoditter wieder nach Hause gekommen waren, stellte sich geradezu als eine göttliche Bewahrung heraus. Die Russen sind, da das Dorf voll besetzt war, stets weiter marschiert und haben die leer stehenden Dörfer und Gutshöfe mit Einquartierung belegt. Schmoditten wurde oft von Kosakenpatrouillen durchsucht nach deutschen Soldaten, aber das Kreuz auf unserem Gemeindehaus hat bewirkt, dass kein russischer Soldat in den Raum eingedrungen ist. Es war nicht überall so. In der Umgegend sind schreckliche Dinge geschehen. In der Nacht haben wir rings um uns her mehr als einmal Feuerschein von brennenden Dörfern gesehen. Aber über uns hat Gottes Gnade wunderbar gewaltet, dass uns nichts Böses widerfahren durfte, obwohl wir uns doch täglich mitten unter den Feinden bewegen mussten. Im Nachbarsdorf Abschwangen wurde die Hälfte aller Männer erschossen, weil eine hohe russische Persönlichkeit, ein Fürst Trubetzkoi, den Kugeln deutscher Soldaten zum Opfer fiel. In Pr.-Eylau wurde die zurückgebliebene Bevölkerung nur durch das sehr tapfere Eintreten des Superintendenten Ebel vor dem gleichen Schicksal bewahrt. Ich könnte darüber viel erzählen, aber es würde über den Rahmen meiner Aufgabe hinausgehen. Uns hat Gott gnädig bewahrt.

Ich musste in Pr.-Eylau Besorgungen machen, traf auf der Strasse mehrere Kosakenabteilungen, sie ließen mich ruhig passieren. In Pr.-Eylau wimmelte es von russischem Militär, sie kümmerten sich nicht um uns. In unserem Dorf tauchten dauernd feindliche Soldaten auf. Ein Offizier besah sich das Dorf. Als er vor das stattliche Pfarrhaus kam, fragte er in gebrochenem Deutsch: "Was ist das für ein Schloss?" Dass es nicht überall so war, das erfuhr ich eines Morgens in aller Frühe, als ich in unserer Laube saß. Da tauchte plötzlich ein Mann auf, der einen ganz verstörten Eindruck machte. Ich lud ihn ein, sich auszuruhen und etwas zu frühstücken. Er saß etwa 2 Minuten, dann sprang er auf, er müsse wieder weiter. Woher er denn käme? Er nannte das oben erwähnte Unglücksdorf Abschwangen. Die Schreckensbilder ließen ihm keine Ruhe. Plötzlich sprang er auf und lief davon. Nur weiter, weiter, als müsse er vor dem Schrecklichen fliehen. Oder ich denke an jene arme Frau meiner Gemeinde, die ich bald nach dem Abrücken der Russen in einem Dorf traf. Sie hatte den Verstand verloren, als vor ihren Augen ihr Mann mit vielen anderen erschossen wurde, sie fand keine Ruhe, lief in der Stube unaufhörlich um den Tisch herum und ließ sich nicht beruhigen.

Eines Tages ganz früh zogen russische Marschkolonnen durch unser Dorf, augenscheinlich auf dem Rückmarsch. Es musste etwas geschehen sein. Bald erfuhren wir, dass in der Nähe von Allenstein die große Befreiungsschlacht von Tannenberg geschlagen worden war, welche Ostpreußen von den Russen befreite. Das Doppelgestirn v. Hindenburg und v. Ludendorff stieg auf. Bald trafen auch in Schmoditten deutsche Truppen ein, die von der Westfront kamen und nun den Russen durch die Schlacht an den masurischen Seen in Ostpreußen vollends den Garaus machten. Meine Gemeinde kehrte bald wieder in ihre Wohnstätten zurück, das Gemeindeleben verlief in der gewohnten Ordnung.

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