> Dr. Siegfried G. Lion: Die Flucht aus Allenstein bis Schönberg bei Elbing im Treck der Ziegelei Lion im Januar 1945

Dr. Siegfried G. Lion: Die Flucht aus Allenstein bis Schönberg bei Elbing im Treck der Ziegelei Lion im Januar 1945

Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried G. Lion aus Wienhausen, Oktober 2011:

Im Jahr 2006 erstellt von Dr.-Ing. Siegfried G. Lion nach Berichten von Hellmut Käsler und Aufzeichnungen von Ernst Wedemann und Maria Scharnowski.
Weitere Beiträge und Dokumente von Alfred Lion und Jürgen Lion

[Fußnoten des Originaltextes sind aus technischen Gründen direkt im Text in eckige Klammern gesetzt]

/lemo/bestand/objekt/ziegeleifoto0601 Erich Lion hatte die Ziegelei in der Kleeberger Chaussee in Allenstein von seinem Vater Max Lion übernommen. Er war mit Anne-Marie Lion, geb. Wedemann, verheiratet. Beide hatten drei Söhne: Alfred, Jürgen und Christian. Alfred Lion [Der Verfasser ist ein Sohn von Alfred Lion († 15.12.2006)] war im Sommer 1944 eingezogen worden und befand sich im Januar 1945 bereits in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Zuletzt musste er an der Westfront kämpfen. Jürgen Lion war als Flakhelfer an der Weichsel in Münsterwalde bei Marienwerder eingesetzt. Er hatte einige Tage Kurzurlaub und kehrte am 20.01.1945 aus Allenstein zu seiner Einheit zurück. Um nicht fahnenflüchtig zu werden, hatte er die Teilnahme an einer Flucht mit seinen Eltern nicht erwogen. Christian war damals 8 Jahre alt und hielt sich bei den Eltern zu Hause auf der Ziegelei auf.

Ernst Wedemann führte von 1915 bis 1940 die Superintendentur von Allenstein. Er hatte vier Kinder. Anne-Marie Lion war seine zweitjüngste Tochter. Im Januar 1945 war er praktisch im Ruhestand, hatte aber noch ein Amt in der Garnison-Gemeinde. Außerdem war er noch mit der Seelsorge in Kortau betraut. Ernst Wedemann wohnte im Januar 1945 mit seiner Frau Hilda in der Mauerstraße 14 bei Familie Reinke.

Hellmut Käsler ist Jahrgang 1930 und Pflegesohn von Herrn Tolksdorf. Herr Tolksdorf war Vorarbeiter auf der Ziegelei Lion. Er wohnte mit seiner Frau in Allenstein neben der Spedition Günter in der Hohensteiner Querstraße. Der Schuhhändler Frohme war Ortsgruppenleiter der NSDAP. Herr Tolksdorf war dessen Stellvertreter.

Maria Scharnowski war ab 1925 bis zur Flucht auf der Ziegelei Lion als Buchhalterin angestellt. Marianna Strycharski war eine der Hausangestellten bei Familie Lion.

Über einen Fluchtversuch von Erich Lion, der bereits am 21.01.1945 gegen 3.00h morgens stattfand, berichtet Ernst Wedemann in seinen Lebenserinnerungen [Unveröffentlichtes Dokument im Familienbesitz]. Er schreibt: Am Sonnabend, den 20. Januar, hatten wir uns mit bangen Gefühlen zu Bett gelegt. Um 3 Uhr früh entsteht Lärm im Hause. Es wird geklingelt. Eine Frau ruft in die Wohnung hinein: "Die Russen sind da. 15 km vor Allenstein. Fliehen!" Ich ziehe mich an und gehe zu meinem Nachbarn, dem Schuhhändler Frohme, der ein führender Parteimann war. Ich denke, der Mann muss doch Bescheid wissen. Seine Antwort ist: "Unerhört, dass solch eine Unruhe gemacht wird. Ich werde die Lärmmacherin bestrafen lassen! Es liegt nicht der geringste Grund zur Beunruhigung vor. Der Feind ist zum Stehen gebracht worden!" Ruhig gehe ich heim. Ich frage mich, soll ich zur Garnisonkirche gehen? Es ist Sonntag. Vielleicht sind Leute da, die sich nach Trost und Kraft aus Gottes Wort sehnen. Der Küster Hollstein meldet, es sei nur ein Fräulein gekommen, die sei wieder fortgegangen. Mich beunruhigt nun der Gedanke: Was wird aus meinen beiden alten Schwestern im Bärenbruch? Was wird aus Ruthlein [Ruth Grzegorzewski, geb. Wedemann, jüngste Tochter von Ernst Wedemann] mit ihren zwei kleinen Kindern? Was wird aus Familie Lion auf der Ziegelei? Meine Schwester Elisabeth ist so gebrechlich, dass an Fliehen nicht zu denken ist. Ich schreibe schnell einen Brief an die Frauenschaft, man möge die Schwestern mit Wagen zur Bahn schaffen, damit sie fortkommen. Persönlich kann ich nicht mehr hinausgehen, weil für den Nachmittag ein Militärbegräbnis angesagt ist. Mit Ruthlein und ihren Kindern hatte ich schon Freitag und Sonnabend zwei vergebliche Versuche gemacht, um sie auf einen Zug nach Berlin zu schaffen. Die Züge waren so voll, dass keine Stecknadel mehr hinein konnte. Also hieß es weiter warten. In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag treffe ich den Treck der Ziegelei an der Johannisbrücke auf der Fahrt zum Vorstadtbahnhof. Schnell hole ich Mutter Hilda und Berta, wir eilen mit unseren Habseligkeiten zum Bahnhof. Aber es kommt kein Zug. Auch Ruthlein mit den Kindern war gekommen in der Hoffnung, endlich fortzukommen. Tief enttäuscht mussten wir alle wieder heimkehren. Auch Erich mit seinem Wagen voll Evakuierter. Was nun? Wie kommen wir fort? Am Sonntagvormittag erhält Mutter einen Brief von Anne-Marie.

/lemo/bestand/objekt/erich_lion0501 Erich habe sich entschließen müssen, einen eignen Treck auszurüsten, da die Heeresverwaltung ihr Versprechen, ihm rechtzeitig seinen L.K.W. [MAN ML 4500 Holzgas, MAN Archiv Nr. 22993] zurückzuschicken, nicht gehalten habe.

[Offensichtlich hatte Erich Lion die Flucht mit dem LKW geplant] Wir sollten uns am Sonntagnachmittag jederzeit bereithalten mitzufahren und auch Ruth davon in Kenntnis setzen.

Ernst und Hilda Wedemann und Ruth Grzegorzewski mit den Kindern warteten vergeblich auf den Treck der Ziegelei. Warum er nicht in die Maurerstraße gefahren ist, bleibt unklar. Er muss jedenfalls auf seinem Weg zur Hohensteiner Querstraße dort vorbeigekommen sein.

Nach Hellmut Käslers Schilderungen hat sich der weitere Fluchtverlauf folgendermaßen abgespielt: Am 21.01.1945 brach der Treck bestehend aus 4 Wagen von der Ziegelei in der Kleeberger Chaussee zwischen 14.00h und 15.00h auf und fuhr nach Allenstein in die Hohensteiner Querstraße. Dort wohnte Familie Tolksdorf. Hellmut Käsler wurde mit Familienmitgliedern (Pflegemutter und "Schwägerin" [Es war nicht die richtige Schwägerin, sondern sie wurde von ihm nur als solche bezeichnet] mit 6 Wochen altem Kind) auf dem zweiten Wagen untergebracht. Das war gegen 16.00h.

Der Pflegevater (Herr Tolksdorf) musste zum Dienst in Allenstein bleiben. Hellmut Käsler war noch am selben Tag um 11.00h zur Verteidigung von Allenstein ausgestattet worden. Er war damals Jungzugführer und stieg unter Tränen widerwillig nach einer Auseinandersetzung mit seiner Pflegemutter auf den Wagen. Er sollte sich nachmittags um 15.00h am Theater melden. Ihm waren Ehrungen/Auszeichnungen durch Adolf Hitler versprochen worden. Hellmut Käsler wollte ein Held werden. Er trug eine Jungvolkuniform und war mit einer Pistole bewaffnet. Den Pistolenbesitz haben die übrigen Flüchtlinge des Trecks nach Hellmut Käslers Einschätzung nicht bemerkt. Bis zum Schluss wog man sich in Allenstein in Sicherheit. Es waren Lautsprecherwagen durch die Stadt gefahren. Zunächst wurde verkündet, dass keine Gefahr bestehe. Dann wurde versprochen, dass Züge und LKWs in großer und ausreichender Anzahl zur Flucht bereitgestellt würden.

Nachdem Familie Käsler aufgestiegen war, verließ der Treck über den Vorort Likusen Allenstein, ohne dass weitere Flüchtlinge aufgenommen wurden. [Es ist deshalb zu vermuten, dass Erich Lion zunächst vorhatte, nach Marienburg zu gelangen, um dort die Weichsel zu überqueren, er aber durch die vorrückende russische Front gezwungen war, nach Norden auszuweichen. Siehe auch Lebenserinnerungen v. Ernst Wedemann, unveröffentlicht] Das Kopfsteinpflaster, über das der Treck damals fuhr, sei heute noch vorhanden. Am Lazarett in der Hohensteiner Str. standen bei 25°C Kälte Verwundete im Schlafanzug, die auf eine Mitnahmegelegenheit warteten.

/lemo/bestand/objekt/anne_marie_und_christian Nach bereits ca. 3 bis 4 Stunden Fahrt konnten die Flüchtlinge Allenstein brennen sehen [Lew Kopelew beschreibt u.a. den Einzug der Russen in Allenstein in: "Aufbewahren für alle Zeit!", Hamburg (Hoffmann und Campe) 1975]. Der Treck fuhr praktisch ohne Pause. Eine Kommunikation zwischen den einzelnen Wagen fand nicht statt. Lions fuhren auf dem ersten Wagen. Dieser wurde von Erich Lion gefahren. Erich Lion war der einzige männliche erwachsene Deutsche im Treck [Es gibt auch andere Aussagen hierzu]. Sonst waren nur Frauen, wenige Kinder und ausländische Arbeiter der Ziegelei dabei. Ausländische Kutscher fuhren die anderen Wagen. Hellmut Käsler beobachtete auf dem Fluchtweg Flüchtlinge, die keine Möglichkeit hatten, mit ihren Fuhrwerken von Seitenstraßen auf die Hauptstraßen zu gelangen, weil diese mit Trecks und flüchtender Wehrmacht verstopft waren. Hellmut Käsler hat während der gesamten Fahrt nicht mitbekommen, dass der damals 8jährige Christian Lion dabei war. Er vermutet, dass er sich auf dem ersten Wagen bei seinen Eltern aufgehalten habe. Der Treck kam am 23.01.1945 nachmittags um ca. 15.00h in Schönberg vor Elbing an. Es wurde der Hof gleich links im Ort aufgesucht [Das ist der ehemalige Hof von Fritz Lange, der 1994 auf der Insel Poel verstorben ist. Zwischenzeitlich hat auf dem Hof mindestens ein Besitzerwechsel stattgefunden. Auskünfte/Quellen: Walter Neuber, Lübeck; Datenbank der Kreisgemeinschaft Preußisch Holland, Itzehoe; Redaktion der Stadtgemeinschaft Allenstein e.V. Gelsenkirchen, Christel Becker, Nettetal.]. Die Pferde waren ermüdet. Erich Lion ließ ausspannen und die Pferde in der Scheune versorgen. Die Scheune [...] stand quer zur Straße. Die Wagen blieben beladen am Straßenrand/in Straßennähe stehen. Der Ort war bereits verlassen [Der Bürgermeister hatte eine geschlossene Flucht aller Bewohner erwirkt. Bereits am 22.01.1945 müsste Schönberg geräumt gewesen sein (mündl. Auskunft von Walter Neuber, Lübeck)]. Hellmut Käsler ging mit seiner Familie in ein Bauernhaus. Dieses Haus [...] habe gleich am Ortseingang links an der Straße gestanden [Es muss sich um das Haus handeln, in dem damals die Krankenschwester gewohnt hat. Ursprünglich war es das alte Zollhaus. Hier wohnte der Straßenwärter. Man nahm von Vorbeifahrenden Wegezoll, nachdem die Straße befestigt worden war (mündl. Auskunft von Walter Neuber, Lübeck)]. Der Ofen wurde in Gang gesetzt. Das Baby der Schwägerin wurde gewickelt und gefüttert. Hellmut Käsler erhielt von seiner Pflegemutter den Auftrag, Babysachen aus den Koffern zu holen, die noch auf dem Wagen standen, denn die Flüchtenden waren nur mit den nötigsten Sachen ins Haus gegangen. Der Auftrag der Pflegemutter kam jedoch nicht mehr zur Ausführung, weil Erich Lion mit einem Jagdgewehr [Erich Lion hatte nicht nur eine Pistole, sondern die gesamte Waffensammlung von Max Lion übernommen (mündl. Auskunft von Jürgen Lion)] im Raum des Bauernhauses erschien. Es war bereits dunkel (ca. 16.00h-17.00h) [Ohne Bewölkung setzt am 23.01. die Dämmerung gegen 17.00h ein, um 17.45h ist es im Osten dunkel]. Mit folgenden Worten richtete er sich lt. Hellmut Käsler an die Familie im Haus: "Ich muss ihnen leider die traurige Mitteilung machen, dass die Russen in Mühlhausen angekommen sind." Diese Nachricht hatte Erich Lion von Soldaten erhalten, die auf dem Rückzug durch den Ort gekommen waren. Die Entfernung von Mühlhausen bis Schönberg betrug 5 bis 6 km. Nach Erkenntnis der Ausweglosigkeit der weiteren Flucht erklärte Erich Lion die gemeinsame Flucht für beendet. Jeder solle am besten je nach Gelegenheit versuchen, auf eigene Faust weiterzukommen.

Zwischenzeitlich strömten weitere Flüchtlinge und Wehrmachtsfahrzeuge auf dem Rückzug durch den Ort, alle in großer Eile. Ein Wehrmachtsfahrzeug hielt. Die Flüchtlinge versuchten, auf den Wagen zu steigen. Die deutschen Soldaten drängten sie jedoch mit Gewehren zurück. Der Kommandant gestattete es, dass die Mutter mit dem jüngsten Kind mitgenommen werden könne. Hellmut Käsler half der Schwägerin mit Baby beim Aufsteigen. Danach stieg noch die Pflegemutter auf [Die Mitgenommenen haben Elbing noch erreicht und von dort ihre Flucht mit dem Zug fortgesetzt]. Der Wagen fuhr aber ab, als die Mutter einen Fuß auf dem LKW, den anderen auf Hellmut Käslers Schulter hatte, der beim Aufsteigen half. Der 14jährige Junge blieb zurück.

Die Frauen baten Erich Lion darum, erschossen zu werden, um einer Vergewaltigung durch die Russen zu entgehen. Sie sollen laut gerufen haben: "Herr Lion, Herr Lion, erschießen Sie uns!" Erich Lion kam ihren Wünschen jedoch nicht nach. Hellmut Käsler sah auch einige Menschen in den Wald laufen. Sein Gedanke: Sie laufen den Russen direkt in die Arme. Militärwagen kamen nun kaum noch durch den Ort.

Hellmut Käsler ging zunächst in die Scheune und wollte sich ein Pferd zur weiteren Flucht holen. Am Scheunentor saß ein alter Mann mit Rauschebart, der sinngemäß folgendes sagte: "Junge, was willst du denn hier? Die Pferde sind müde. Davon bekommst du keines heraus." Diesen Mann hielt er für einen Einheimischen, der nicht geflohen war. Er schätzt sein Alter auf ca. 80 Jahre. In der Scheune standen nicht nur die Pferde des Lion'schen Trecks, sondern auch noch andere Pferde. Er ging schließlich ins Haus zurück. Inzwischen war es dort warm geworden. Er schlief auf dem Chaiselongue am Fenster ein. Gegen 22 bis 23 Uhr wachte er vor Kälte wieder auf, ferner war Pferdegetrappel zu hören. Hellmut Käsler schaute durchs Fenster, das von innen vereist war. Die Temperaturen lagen zwischen -20°C und -25°C. Es kam eine Kolonne mit Panjewagen durch den Ort, vielleicht jeder 10te der Besatzung war deutschstämmig. Der Wagenzug kam direkt am Haus vorbei. Hellmut Käsler vermutet, dass es Angehörige der russischen Befreiungsarmee waren. Die sog. Wlassow-Armee kämpfte auf der Seite der Wehrmacht gegen Stalin. Es war eine Nachschubkolonne mit Waffen und Munition für Elbing. Ein deutscher Stabsgefreiter [Das war der höchste Mannschaftsdienstgrad der Wehrmacht. Der Mann war Träger der Goldenen Nahkampfspange] erklärte, sie kämen aus Mühlhausen. Die ganze Strecke sei noch feindfrei gewesen. Hellmut Käsler durfte mit dieser Kolonne mitfahren. Nach ca. einer Stunde Fahrt, als Elbing bereits sichtbar wurde, geriet die Spitze der Kolonne unter Beschuss. Die Kolonne drehte deshalb um und fuhr über Schönberg nach Mühlhausen zurück. Hellmut Käsler war auf einem Wagen im vorderen Bereich des Zuges. Nach dem Wenden fuhren sie so an dem eigenen Zug vorbei. Dabei wurde deutlich, welch ungeheuer große Länge der Zug hatte. An einer Art Forsthaus wurde noch eine mit Schürze bekleidete Frau mit ihren zwei Kindern aufgenommen. Die Strecke nach Mühlhausen war entgegen der Meldungen der fliehenden Soldaten, mit denen Erich Lion gesprochen hatte, immer noch feindfrei. Am 24.01.1945 morgens kamen die Russen dann vermutlich aus Pomehrendorf [Pomehrendorf liegt zwischen Schönberg und Elbing], da sich die Einnahme von Elbing verzögerte. Schönberg wurde besetzt.

Von Mühlhausen aus fuhr die Panjekolonne dann in Richtung Autobahn. Im Führerhaus einer Zugmaschine für Artilleriegeschütze, das war ein Fahrzeug, das vorn Räder und hinten Ketten hatte, gelangte Hellmut Käsler dann bis zu einem Flughafen in der Nähe von Königsberg. Dort stellte ihm ein Luftwaffenkommandant (Major) aus Mitleid einen Passierschein nach Allenstein aus. Dort war es zu dieser Zeit noch nicht bekannt, dass Allenstein schon gefallen war. Hellmut Käsler traf auf einen Bauern, der zunächst erschrak, weil er den uniformierten Jungen für einen Russen hielt. Nach Aufklärung der Situation durfte er auf dem Anhänger dieses Bauern mit nach Pillau fahren. Zwischen Federbetten hatte er sich zum Schlafen gelegt. Dabei sind ihm in der Kälte die Füße angefroren. In Pillau sollte er sich erst auf der Duala einschiffen, ist aber dann auf einem anderen Schiff untergekommen. Die Duala sei später nach Beschuss gesunken. Das andere Schiff war mit Frauen, Kindern und verwundeten Soldaten belegt, die im Westen medizinisch versorgt werden sollten. Bei der Einschiffung gab es ein unvorstellbares Gedränge. In den Räumen unter Deck herrschte ein fürchterliches Geschrei. Hellmut Käsler konnte es dort nicht aushalten. Auf dem Schiff hielt sich das Gerücht, dass der Leichnam von Hindenburg auf einem Schiff des Geleitzuges sei. Zur Sicherheit fuhren die Schiffe in Geleitzügen. Die Ostsee war zeitweise durch Leuchtbomben taghell erleuchtet. Die Erlebnisse sind kaum vorstellbar für jemanden, der nicht dabei war. Kein Film kann wiedergeben, was sich dort abspielte.

Hellmut Käsler ist die Flucht gelungen. Er lebt noch heute in Göttingen. Über die weiteren Geschehnisse im Ort Schönberg hat er erst kürzlich etwas erfahren. Es gibt eine schriftliche Dokumentation darüber, was geschah, als er mit den Panjewagen nach Mühlhausen zurück fuhr, einen Brief der Buchhalterin der Ziegelei an die Schwester von Erich Lion, Frau Fehling. Hier ihr Brief im Originalwortlaut [Der Brief stammt aus den Familiendokumenten von Alfred Lion († 15.12.2006)]:

Danzig, 14.2.45

Poggenpfuhl 36 IV (bei Brauer)

Sehr geehrte Frau Fehling!

Nachdem mir heute ein Privatquartier zugeteilt wurde, fühle ich mich verpflichtet, an Sie zu schreiben. Vorerst möchte ich Ihnen mitteilen, wer der Schreiber dieser Zeilen ist:
Ich bin bei der Fa. Lion seit dem Jahre 1925 bis zu unserer Flucht als Buchhalterin tätig gewesen.
Am Sonntag, den 21.1., gegen 3 Uhr morgens brachte Herr Lion mit 2 Wagen seine Familie und die Einwohner der Ziegelei zur Bahn. Ein Fortkommen mit der Bahn war nicht möglich, da der Andrang zu groß war. Am Freitag und Sonnabend, den 19.1.und 20.1., hatten wir die ersten Bombenangriffe; die Ziegelei blieb verschont. Ihr Herr Bruder wartete nun auf den LKW, der für den Volkssturm beordert war. Da der Wagen nicht zurückkam, ließ er 4 Wagen fertig machen und wir fuhren, trotzdem noch kein Räumungsbefehl gegeben war, am 21.1. gegen 3 Uhr nachmittags los. Herr Lion hatte die Absicht, mit seiner Familie zu Ihnen zu kommen. Ich kann wohl sagen, dass unser Treck einer der ersten war, der Allenstein verließ. Trotz sehr kurzer Unterbrechungen kamen wir zu spät.
Am Dienstag, den 23.1., kamen wir am Vormittag in Schöneberg [Sie schreibt zwar Schöneberg, es handelt sich aber unzweifelhaft um den Ort Schönberg, heute Zastawno. Lt. Hellmut Käsler erfolgte die Ankunft nachmittags] ca. 14 km vor Elbing an. Eine Weiterfahrt war nicht möglich, weil die Chaussee mit Trecks versperrt war. Wir mussten die Pferde ausspannen und versuchten, mit den vorbeifahrenden Militärautos nach Elbing zu kommen, was aber nicht gelang. Wir wurden nun alle ziemlich kopflos, weil wir wussten, dass der Russe uns auf den Fersen war. Herr Lion wollte trotzdem sich den letzten Militärautos anschließen, was er aber auf das Bitten von Frau Lion unterließ. Nun muss ich Ihnen, sehr geehrte Frau Fehling, etwas sehr Trauriges mitteilen, was mir ungeheuer schwer fällt; ich kann gar nicht daran denken, es kommt mir wie ein böser Traum vor.
Am Mittwoch, den 24.1., morgens gegen 6 Uhr, hat Ihr Herr Bruder den Christian im Bett, dann seine Gattin und sich selbst im Freien erschossen [Der Junge war nicht gleich tot. Es ist mündlich überliefert, dass sich die Flüchtenden noch um ihn bemüht haben]. Ihr Herr Bruder hätte es wohl nicht getan, doch seine Frau hat ihn darum gebeten, um nicht in die Hände der Russen zu fallen. So jagte eine Aufregung die andere; nun waren wir 45 Personen (Frauen und Kinder) ohne jede Führung. Unsere Kutschfahrer waren ausländische Arbeiter. Eine halbe Stunde später kamen die ersten russischen Panzer und man durchsuchte sämtliche Häuser. Die Uhren und Schmuck wurden sofort abgenommen. Die Koffer von Lions wurden aufgebrochen und beraubt. Die Kutscher, mit denen die Russen verhandelten, erzählten uns, dass Herrn Lion die Brieftasche abgenommen wurde. Was Lions geraubt wurde, kann ich nicht sagen, denn wir wagten nicht, aus dem Haus zu gehen. In der Nacht wurden dann die jungen Mädchen bzw. jungen Frauen vergewaltigt.
Am nächsten Morgen in aller Frühe wollten wir zu Fuß nach Allenstein zurück. Die Russen nahmen uns gefangen, unsere Soldaten befreiten uns wieder. Zum Schluss ging es dann zu Fuß nach Braunsberg über das Haff, die Nehrung nach Danzig und nun sitzen wir hier fest, weil keine Züge gehen. Gestern kamen wir hier als arme Menschen an, unser Hab und Gut blieb in Schöneberg. Hier in Danzig waren wir nur noch 9 Personen, die anderen haben wir verloren. Über den Verbleib von Sierokas kann ich nichts berichten, ich nehme aber an, die fuhren früher ab.
Jürgen [Jürgen Lion, geb. 1928, zweiter Sohn von Erich und Anne-Marie Lion. Er lebt heute in Kassel] hatte noch einen Kurzurlaub bis zum 19.1. [Laut Jürgen Lion dauerte der Kurzurlaub vom 16.01.1945 bis zum 20.01.1945.], von Fredi [Alfred Lion, geb. 1926, ältester Sohn von Erich und Anne-Marie Lion. Er ist am 15.12.2006 in Kassel verstorben] hatten die Eltern schon ca. 7 Wochen keine Nachricht. Sollten Sie noch irgendeine Auskunft von mir wünschen, so bin ich gerne bereit, sie Ihnen, wenn es mir möglich ist, zu erteilen.

Mit den besten Grüßen verbleibt
Maria Scharnowski (geb. Kewitz)

[Poststempel auf dem Briefumschlag: 5a Danzig 5, 16.2.45]

[...]

Jürgen Lion erinnert sich heute:

"Ich suchte, sprach mit den Flüchtenden, die auf dem Weg über die Weichsel westwärts zogen. Der Geschützdonner russischer Artillerie kam immer näher und meine Hoffnung schwand, hier meine Eltern, Bruder und Betriebsangehörige zu finden. Der Flüchtlingsstrom wurde von Tag zu Tag geringer und endete mit dem Vordringen des Frontverlaufes. Ende Januar 1945 wurde die Flakstellung in Münsterwalde/Westpreußen (Marienwerder), in der ich als Flakhelfer eingesetzt war, aufgegeben. Ostpreußen war verloren und eine ungewisse Zukunft lag vor mir. Die Heimat war mit allem Verbindenden endgültig verloren. Nur die Erinnerung an die kurzen Jugendjahre daheim in familiärer Geborgenheit bleibt erhalten."

Die Nachricht von den schrecklichen Ereignissen erreichte Ernst und Hilda Wedemann noch auf der Flucht. Zwischenzeitlich hatten die beiden in ihrem hohen Alter, Ernst Wedemann war damals 78 Jahre alt, Allenstein mit einem Militärkonvoi verlassen, das Frische Haff zu Fuß überquert und warteten in Danzig auf eine Schiffspassage.

Hier folgt ein Auszug aus dem Fluchtbericht von Ernst Wedemann [Lebenserinnerungen von Ernst Wedemann, unveröffentlichtes Dokument im Familienbesitz. Geschrieben in der Zeit von 1948-1955]:

Am Donnerstag, den 22. Februar, erreicht uns eine niederschmetternde Nachricht. Frau Scharnowski, langjährige treue Sekretärin auf der Ziegelei, bewährt bei Vater und Sohn Lion, hat durch Herrn Lundie unsere Anschrift erfahren und kommt mit Frau Siebert, der Frau des Ziegelmeisters, uns Kunde zu geben von dem furchtbaren Geschick unserer Kinder Erich und Anne-Marie sowie unseres kleinen Grossohnes Christian. Alle drei sind am 24. Januar aus dem Leben geschieden. Erich war mit seinem schwer beladenen Treck am 21. Januar nachmittags von der Ziegelei abgefahren. Leider hatte er, da die Leitung nach der Ziegelei schon unterbrochen war, nicht erfahren können, welcher Zielpunkt den Flüchtlingen festgesetzt war. Es ist anzunehmen, dass er bestrebt war, so bald wie möglich nach Marienburg zu gelangen, um dort die Weichsel zu überschreiten. Es fiel den Flüchtenden wohl auf, dass die Chausseen ganz leer waren. [Das ist ein gewisser Widerspruch zu den Berichten von Hellmut Käsler und Maria Scharnowski. Beide reden von verstopften Straßen] Das war kein gutes Zeichen. Sie fuhren so schnell sie konnten. Unsere Anne-Marie war in höchster Aufregung. Immer wieder rief sie verzweifelt aus: "Meine armen Eltern, meine armen Eltern!" [Oben wird geschildert, dass der Treck die Eltern nicht mitgenommen hatte] Der Treck fuhr ohne Halt zu machen Tag und Nacht vom 21.-23. Januar. Am Abend des 23. Januar waren sie in dem Dorf Schöneberg [Er schreibt zwar Schöneberg, es handelt sich aber unzweifelhaft um den Ort Schönberg, heute Zastawno] Es stellte sich heraus, dass die Pferde nicht im Stande waren, ohne längere Ruhepause weiter zu gehen. Anne-Marie war mit den Nerven völlig zusammengebrochen. Man hörte nur ihr Stöhnen und Wimmern. Immer wieder bat sie Erich flehend: "Lass mich nicht lebendig in die Hände der Russen fallen!" Die Leute, die mitgefahren waren, wussten, dass Erich eine Schusswaffe bei sich hatte. Sie baten ihn inständig, er möchte sie doch nicht benutzen [Herr Käsler berichtet hingegen, dass die Frauen erschossen werden wollten] Er versicherte immer von neuem: "Nein, nein, ich will es nicht tun." Was unsere Kinder in dieser Nacht an seelischen Qualen haben durchmachen müssen, dass kann sich keine menschliche Phantasie ausmalen. Waren sie doch noch so junge Menschen, die das Lehen liebten. Wie musste sie alleine der Gedanke an die beiden großen Söhne, Alfred und Jürgen quälen! Anne-Marie soll schließlich ganz teilnahmslos und völlig erschöpft dagelegen haben und ihre Bitte immer wiederholt haben: "Erich, lass mich nicht in die Hände der Russen fallen!" So verrann Stunde um Stunde in qualvoller Ungewissheit. Lastende Stille rings um her. Das Dorf war menschenleer. Nach Mitternacht dringen rasselnde dumpfe Töne durch die Stille der Nacht. Sie kommen langsam näher, werden immer stärker. Es kann kein Zweifel sein: russische Panzer sind im Anrollen!

Diese Gewissheit fällt wie ein Felsblock auf die Gemüter. Die Stunde der Entscheidung ist da. Erich wusste, was ihm bevorstand. Sollte er Anne-Marie der [...]vielfachen Schändung überlassen? Welches Schicksal stand dem armen kleinen Christian bevor? Die Russen würden ihn entweder töten oder nach Russland verschleppen und in eine kommunistische Erziehungsanstalt stecken. Qualvolle Erwägungen! Inzwischen kommt das dröhnende Geräusch der herannahenden Panzer immer näher, wird immer stärker. Da packt den armen, verantwortungsbewussten Erich die Verzweiflung. Es muss geschehen! Der kleine Christian liegt fest schlafend in einem Bettchen. Die Frauen, die ihn einige Stunden später gesehen haben, erzählten uns, er habe so still gelegen, als ob er tief schliefe [Wahrscheinlich haben die Frauen dies Ernst Wedemann erzählt, um ihn zu schonen. In Wahrheit war der Junge nicht gleich tot]. Anne-Marie und Erich sind in einer Scheune liegend in den Tod gegangen [Frau Scharnowski berichtet, dass sich Erich Lion im Freien erschossen habe]. Wer die Armen verdammen will, der mag es tun. Ich kann es nicht, und fühle mich auch dazu nicht berechtigt. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie. Unsere schwer getroffenen Herzen haben die Verzweifelungstat unserer lieben Kinder längst mit dem Mantel heißen Erbarmens und tiefsten Mitleides bedeckt, und sind je länger, um so gewisser geworden, dass Gott die gequälten Seelen mit seiner Gnade trösten und umfangen wird.

Eine halbe Stunde später waren die Russen da. Die armen Frauen des Trecks wurden in ein Zimmer gesperrt, in dem sie sich noch etwa 1 Woche aufgehalten haben [Frau Scharnowski berichtet, dass man am folgenden Tag versucht habe, weiterzukommen]. Anne-Marie's prächtiges Hausmädchen A. H. wurde in der ersten Nacht etwa 10-mal geschändet. Man hat sie am nächsten Tage nicht mehr wiedererkennen können. Plötzlich war sie verschwunden. Die Frauen dachten, sie hätte sich ein Leid angetan. Nach etwa drei Jahren hat sie sich aus Russland gemeldet. Sie ist verschleppt und 1948 als Kranke entlassen worden. Nach einer Woche sagten mehrere von den Frauen: "Wir halten dies Leben nicht mehr länger aus. Wir fliehen." Sie benutzten eine passende Gelegenheit und gingen zu Fuß nach Braunsberg und von dort nach Danzig. Dort erreichten sie uns und meldeten das furchtbare Unglück. Es war geschehen am 24. Januar um 5 ein halb Uhr morgens. Die als Waisen zurückbleibenden Söhne Alfred und Jürgen erfuhren von dem traurigen Schicksal erst, als sie zu ihrer Tante Lisa Fehling nach Bayern kamen, wo sie ihre Eltern zu finden hofften. Frau Scharnowski versprach mir, bei nächster Gelegenheit eine polizeilich beglaubigte Aussage über den Tod von Erich und Anne-Marie abzugeben und mir zuzustellen. Die verwaisten Brüder brauchten diese Aussage unbedingt. Am Tage, nachdem wir die Hiobsbotschaft erhalten hatten, war Erichs Geburtstag, der 23. Februar. Furchtbarer Gedanke, dass er vielleicht noch unbeerdigt liegt!

I K., der Sohn von Marianna K., geb. Strycharski, schreibt an Jürgen Lion

[Dieser Text ist ein Auszug aus dem Brief. Der Originalbrief wurde von Kurt Spriewald, Kassel, aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt].

…Ein besonders dramatisches Ereignis war die Evakuierung vor der heranrückenden russischen Armee. Äußerst traumatisch war aber der Entschluss ihres Vaters. Die Geschichte, die meine Mutter erzählte, bedrohte ihrer eigene Würde und sogar ihr Leben. Ich habe aber auch an Sie und an Ihren Bruder Alfred gedacht. Ihr seid ja nicht bei ihrer letzten Fahrt dabei gewesen. Vorausgesetzt, dass Sie den Krieg überlebt haben, nahm ich an, dass Sie über die Ereignisse nicht Bescheid wissen. Dies war der Grund, warum ich Sie finden wollte. Ihr Vater plante bis nach Danzig zu kommen, so erinnert sich meine Mutter. Sie war damals 21 Jahre alt und war ein einfaches Landmädchen und nicht verheiratet. Die Straßen waren sehr schwierig, es schneite, und es wehte starker Wind. Dazu war es sehr kalt. Die wertvollen Sachen und alle Leute wurden auf fünf Pferdewagen verteilt. Die Abfahrt von Allenstein begann am Vormittag. Allgemein herrschte panische Angst. Alle waren davon überzeugt, dass die Russen in grausamer Weise die deutsche Bevölkerung behandeln werden. Gegen Abend ist der Treck in die Stadt (laut Aussage meiner Mutter soll das Heilsberg [Es muss Schönberg nicht Heilsberg sein. Die Ankunft erfolgte in Schönberg am 23.01.1945] gewesen sein) gekommen. Wenn das tatsächlich Heilsberg gewesen ist, dann hat man an dem Tag 46 Kilometer geschafft. Die Nacht verbrachte man in einem verlassenen Haus. Es war eine schlaflose Nacht. In dieser Nacht ist wahrscheinlich der dramatische Entschluss bei Ihrem Vater gereift. Als verantwortlicher Ehemann und Vater wollte er allen die angeblichen Grausamkeiten ersparen. Am Morgen hat er sich von allen verabschiedet. Außer meiner Mutter waren dort: eine Deutsche mit dem Vornamen A, Meister und Schmied, ein Arbeiter aus der Ukraine und ein Kollege meiner Mutter mit dem Namen Zygmunt Kaprowski aus Switow [Folgende Personen sollten zumindest auch noch anwesend gewesen sein: Maria Scharnowski, geb. Kewitz, Martha Siebert (Ehefrau des Ziegeleimeisters), Anna Todtenhöfer, geb. Kewitz, und Hans Todtenhöfer (Sohn). Diese haben später die Tat urkundlich bezeugt]. Die A. ahnte, was Ihr Vater vorhatte, und bat ihn um das gleiche Schicksal. Sie erhielt aber eine Absage. Es war ohne Zweifel eine schwere Entscheidung. Der Christian schlief noch, als der Vater den Schuss auf ihn abgab. Danach ist das Ehepaar seitwärts weggegangen, und dort haben sie sich von dieser Erde getrennt. Keiner war dabei. Nach den Schüssen wurden ihre Leiber auf dem Graben [im Straßengraben?] gesichtet. Als die Russen hereinkamen, ist der Christian gerade gestorben. Meine Mutter erinnert sich an die Empörung der Russen. Sie verfluchten diese grausame Entscheidung.

Ich wollte Ihnen diese Details ersparen, aber deswegen versuchte ich Sie ja zu finden. Meine Mutter weiß nicht, was weiter mit der A geschehen ist. Sicherlich wurde sie ihrer Wertsachen beraubt. Das hat man ja in erster Linie gemacht. Meiner Mutter wurden die Dokumente weggenommen. Während der nächsten Kontrollen konnte sie nicht beweisen, welcher Volkszugehörigkeit sie angehörte. Dank der Schlauheit und Besonnenheit des schon vorher genannten Kollegen Zygmunt ist sie glücklicherweise in das Elternhaus zurückgekehrt. Der Zygmunt hat einen Schlitten organisiert. Mit Hilfe eines Pferdes von dem Treck Ihres Vaters, begleitet mit großer Angst in der winterlichen Zeit und hungrig, trafen sie zu Hause [In der Nähe von Plock, Polen] ein. [...]

/lemo/bestand/objekt/hof_fritz_lange0601 Der Hof in Zastawno/Schönberg, auf dem die Tragödie geschah, gehörte damals dem Landwirt Fritz Lange. Der Hof existiert heute noch. Andere Höfe im Ort wurden nach dem Krieg abgetragen und die Steine zum Wiederaufbau beispielsweise nach Warschau geliefert [Mündliche Auskunft von Walter Neuber, Lübeck].

Auf dem Hof wird heute keine Landwirtschaft mehr betrieben. Zwischenzeitlich hat mindestens ein Besitzerwechsel stattgefunden. Auch das ehemalige Haus des Straßenwärters, in dem bis zum Januar 1945 die Krankenschwester des Ortes wohnte, gibt es heute noch. Nachdem die Toten zuletzt im Straßengraben gesehen worden sind, erscheint es kaum wahrscheinlich, dass eine Beerdigung durch verbliebene Treckteilnehmer auf dem Hofgelände stattgefunden hat. Vielmehr ist ein späterer Abtransport in ein Sammelgrab zu vermuten, vielleicht auf dem nahe gelegenen Friedhof oder anderswo.

/lemo/bestand/objekt/scheune_hof_lange0601 Nach dem Krieg wurde der Friedhof, der neben der Kirche lag, von den Polen eingeebnet. Ein neuer Friedhof wurde außerhalb des Ortes angelegt. Von den Ereignissen im Januar 1945 ist auf dem Hof und im ganzen Ort nichts mehr bekannt [Die Recherchen auf dem Hof wurden im Sommer 2006 von Frau Christel Becker, Nettetal (Redaktion der Stadtgemeinschaft Allenstein e.V. Gelsenkirchen), durchgeführt]. Die Toten bleiben bis heute verschwunden.

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