> Dr. Siegfried G. Lion: Volksabstimmung in Allenstein 1920

Dr. Siegfried G. Lion: Volksabstimmung in Allenstein 1920

Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried G. Lion aus Wienhausen, Dezember 2011:

Dies ist ein Auszug aus den Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters Ernst Wedemann (1867-1958), Pfarrer in Kairo von 1893-1903 (geschrieben 1948-1953):

Die Lage unserer Kirche war durch den radikalen Umsturz der staatlichen Verhältnisse recht kritisch geworden. Wir hatten unseren Summus episcopus, das Oberhaupt unserer Kirche verloren. Wer sollte an seine Stelle treten? Die Sozialdemokraten wollten alle leitenden Stellen an sich reißen. Bei der Besetzung des Postens des Staatsvertreters für die kirchliche Verwaltung haben sie sich damals vor der ganzen Welt lächerlich gemacht. Sie fanden dafür keinen besseren Mann, als den s. Z. berühmten sog. "Zehngebote-Hoffmann". Das war ein waschechter Berliner Sozialdemokrat, der wohl ein recht kluger Mann war, mit Berliner Mutterwitz begabt, der aber bei seinen öffentlichen Reden stets im Kampf lag mit "mir" und "mich". Natürlich war er den damaligen Verhältnissen entsprechend ein geschworener Feind der Kirche und des Christentums überhaupt.

Dieser Mann, der die Religion nach dem Vorbild seines geistigen Vaters Marx "Opium für das Volk" nannte, der nicht richtig deutsch sprechen konnte, war ausgesucht und sollte die Stelle des bisherigen Summus episcopus einnehmen! Konnte man sich noch einen stärkeren und beleidigenderen Ausdruck der Missachtung unserer evangelischen Kirche seitens der damaligen Machthaber denken? War doch Hoffmann dadurch berühmt geworden, dass er den 10 Geboten des christlichen Glaubens seine 10 Gebote des materialistischen Unglaubens entgegengestellt hatte. Es war ein Glück, dass dieser unsinnige Zustand nicht sehr lange anhielt. Der neue kirchliche Würdenträger hat sich wohl in seiner neuen Haut nicht wohl gefühlt. Als er nach seiner Abberufung die Räume der kirchlichen Verwaltung verließ, soll er die klassischen Worte gesprochen haben: "Meine Herren, mir sehen sie in diese Räume nie wieder!" Als sich die neue deutsche Republik in Weimar ihre Verfassung gegeben hatte und Fritz Ebert Präsident der Republik geworden war, traten ruhigere Verhältnisse ein. Es muss gesagt werden, dass die Machthaber des Staates damals der Kirche gegenüber Zurückhaltung gezeigt haben. Sie hüteten sich vor Eingriffen und ließen die Gemeinden ihre Angelegenheiten selbst regeln.

Wir hatten in Allenstein das große Glück als Patronatsvertreter einen Oberregierungsrat im Gemeindekirchenrat zu haben, der ein treuer Kirchenbesucher und überzeugter Christ war, Herrn Brandies, einen Hannoveraner, der getan hat, was er tun konnte, um das kirchliche Leben zu fördern. Aber Gott hat uns in jenen stürmischen Tagen einen deutlichen Hinweis gegeben, dass die Zeit gekommen war, um die Kirche ganz von ihrer Bindung an den Staat zu befreien. Es bedurfte dazu freilich noch eines stärkeren Ansturmes. In dem Schand-, Hass- und Friedensvertrag von Versailles war eine Bestimmung enthalten, von der auch Allenstein betroffen wurde. Die Bevölkerung sollte darüber abstimmen, ob sie zu Deutschland oder zu Polen gehören wollte. Diese Abstimmung hat am 11. Juli 1920 stattgefunden. Sie gehört zu den großen Erlebnissen, die wir in Allenstein hatten. Es war eine Fehlrechnung unserer Feinde, dass sie in die Vorschriften für die Abstimmung auch die hatten aufnehmen lassen, die im Abstimmungsgebiet geboren, später aber verzogen waren. Sie durften an der Abstimmung teilnehmen.

Die Feinde hatten gehofft, dass die vielen Tausende von Masuren, die alljährlich nach Rheinland und Westfalen ausgewandert waren, für Polen stimmen würden. Da die Masuren einen polnischen Dialekt sprachen, meinten sie, sie müssten auch polnisch gesinnt sein. Einige Monate vor der Abstimmung, für Juli festgesetzt, wurde das Abstimmungsgebiet dessen Grenze etwa von dem damaligen Margrabowa, später Treuburg, westwärts zwischen Heilsberg nach Deutsch-Eylau bis zur Weichsel verlief, von Alliierten Truppen besetzt. Unser Militär musste abrücken, die leitenden Beamten, Regierungspräsidenten, Bürgermeister, Landräte u.s.w., mussten das Gebiet verlassen. Lück wurde von Italienern, Allenstein von Iren besetzt. Ein Schwarm von ausländischen Offizieren aller Art und aller feindlichen Nationen tauchte auf und musste untergebracht werden. Die Grenze nach dem deutschen Ostpreußen wurde streng bewacht. Wenn ich nach Königsberg zum Konsistorium fahren wollte, dann musste ich von Büro zu Büro laufen, um endlich von einem Italienischen Offizier die Genehmigung zur Fahrt zu erlangen. In einem den Polen gehörenden Hotel hatten die Herren von der Kontrollkommission ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Man konnte, ohne zu lächeln an diesem nicht vorüber gehen. Rings um das Gebäude war der Bürgersteig durch spanische Reiter und dichtmaschigen hohen Stacheldraht abgesperrt, ganz kriegsmäßig, als hätten wir harmlosen Allensteiner Aufruhr und Mord im Sinn. Die Polen hatten in den Monaten vor der Wahl mit allen Mitteln für Polen geworben. Besonders hatten sie es auf die Masuren abgesehen. Sie suchten ihnen klar zu machen, dass sie doch polnischen Stammes wären, dass der König von Preußen sie mit Gewalt durch die Union von der lutherischen Kirche losgerissen habe. Sie hatten meist kein Glück mit ihren Werbeversammlungen.

Ich habe in dem katholischen Marienkrankenhaus, dem einzigen Krankenhaus, das es damals in Allenstein gab, bei meinen Besuchen evangelischer Kranker auch einen jungen lutherischen polnischen Pastor mit dich verbundenem Kopf angetroffen, der bei einer Versammlung in Bischofsburg zwischen heftig kämpfende Gruppen geraten war und dabei Bekanntschaft mit kräftigen deutschen Fäusten hatte machen müssen. Die Kämpfe wurden noch lebhafter und durchschlagender als kurz vor der Wahl in Hunderten von Extrazügen die im Abstimmungsgebiet Geborenen anrollten. Als die hörten, dass die Polen mit ihren Stimmen rechneten, erfasste sie eine große Wut. Was? Wir sollen für Polen stimmen? Sie krempelten die Ärmel auf, gingen in die Versammlungen und ruhten nicht eher, als bis der letzte Pole ans dem Saale herausgeflogen war. Die sprachen eine derbe, aber verständliche Sprache. Die Polen mussten bald einsehen, dass ihre Aussichten schlecht standen. Bei der Vorbereitung der Wahl und bei der Heranführung der Wähler aus allen Teilen Deutschlands haben sich besonders verdient gemacht unser Allensteiner Oberbürgermeister Zülch, Direktor Czwalina und Herr Worgitzki, die Tag und Nacht gearbeitet haben.

Als der Tag der Abstimmung anbrach, befanden sich die Polen in etwas gedrückter Stimmung, die Deutschen in freudiger Erwartung. Wir verlebten den Tag wie einen Festtag. Den ganzen Tag hindurch wurden die Wahlresultate durch Lautsprecher bekannt gegeben. Die Begeisterung war in stetem Wachsen. Dass in Allenstein und Umgebung verhältnismäßig viele Stimmen für Polen abgegeben waren, überraschte uns nicht. Waren doch im Volksmund katholisch und polnisch die gleichen Begriffe. Man wusste, dass das Marienkrankenhaus, das damals mit den ganz polnisch gesinnten Vincentinerinnen besetzt war, ein Brennpunkt der polnischen Propaganda war. Einige Zeit vor der Wahl tauchte in diesem Krankenhaus ein hoher katholischer Würdenträger auf, der heute den päpstlichen Stuhl innehat. Die Schwestern erstarben vor Ehrfurcht und Begeisterung. Der Besuch konnte in jenem Augenblick ja keinen anderen Zeck haben, als im Auftrag der höchsten Kirchenleitung ein gutes Wort für das liebste Kind des heiligen Stuhles einzulegen. Aber selbst dieser Trumpf stach nicht. Es war damals noch ein anderer in Allenstein, der von Stunde zu Stunde bitterer enttäuscht wurde. Das war der Franzose in der Kontrollkommission. Polen als das gezückte Schwert Frankreichs im Osten gegen Deutschland war ja immer Frankreichs bester Freund. Gespannt verfolgte der französische General die Wahlmeldungen. Von Stunde au Stunde verfinsterten sich seine Züge. Als die Zahl der für Deutschland abgegebenen Stimmen längst mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten betrug, da stand er mit einem Fluch auf, und verließ sein Zimmer. Er wollte nichts weiter hören.

Als am Abend bekannt gegeben werden konnte, dass eine überwältigende Mehrheit für Deutschland gestimmt hatte, da brach der Jubel bei den Deutschen los. Endlich erlebten wir nach dem Elend des Kriegsendes eine Hochstunde vaterländischer Begeisterung. Die ganze Nacht hindurch waren die Gaststätten von begeisterten Menschen gefüllt, die gleichzeitig das Beisammensein mit Zugereisten Verwandten und Bekannten feierten. Bis in die Morgenstunden hinein zogen Gruppen fröhlicher Menschen durch die Strassen und sangen vaterländische Lieder oder Soldatenlieder. Das herrliche Ergebnis dieser Abstimmung wurde bald darauf auf dem Abstimmungsdenkmal für alle sichtbar gemacht und festgehalten. Dieses Denkmal stand in wundervoller malerischer Lage im Stadtpark am Rande des Waldes. Heute haben die Polen, denen fast 1/4 von Deutschland geschenkt wurde, natürlich dieses Denkmal mit Stumpf und Stiel ausgerottet.

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