> Edith Ruhöfer: Luftangriffe auf Duisburg

Edith Ruhöfer: Luftangriffe auf Duisburg

Dieser Eintrag von Edith Ruhöfer, geb. Mentges (*1930) aus Duisburg (ruhoeferetti@arcor.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

Nachdem ich ein halbes Jahr in der Kinderlandverschickung im Schwarzwald gewesen war, gab es gleich in der ersten Nacht meiner Rückkehr nach Duisburg Sirenengeheul. Such-Scheinwerfer am Himmel, und schon schoss die Flugabwehr (Flak) vom nahe gelegenen Schlackenberg ihre Salven in den Himmel - Wumm - Wumm - Wumm ...! Viel zu spät hatten die Sirenen geheult. Die schwerbeladenen Bomber waren schon zu hören. Der Versuch, noch die Unterführung zu erreichen, war riskant. Doch die Menschen rannten. Dann das unheimliche Singen einer Bombe … auf den Boden werfen … Detonation abwarten … aufstehen … weiter laufen, und wieder das Singen, und wieder hinwerfen … Detonation abwarten und weiter laufen … Erschütternde Schreie eines Nachbarkindes, das sich nicht auf die Erde geworfen hatte, als in der Luft der hohe singende Ton der herabsausenden Bombe zu hören war. Es hatte sich von der Hand seiner Mutter losgerissen und lief schreiend weiter, bis es von einem Bombensplitter tödlich getroffen wurde. In der Angst achtete kaum jemand darauf, jeder rannte um sein Leben, bis der schützende Stollen unter der Eisenbahnbrücke erreicht war.

Wie oft hockte ich mit meinen zwei kleinen Geschwistern weinend und mit blutenden Knien auf dem Boden des engen Stollens, alle drei die Gesichter in den Schoß unserer Mutter gedrückt. Bei jedem Pfeifen in der Luft drückte die schützende Hand der Mutter die Köpfe ihrer Kinder fester an sich. Wegen des Druckausgleichs in den Ohren sollte man bei den Detonationen den Mund geöffnet halten, Mutter sagte es immer wieder. Der Speichel von uns Kindern rann auf Mutters Rock und vermischte sich mit unseren Tränen. ...Nach Ostern 1943 ging wieder ein Transport in die Kinderlandverschickung, dieses mal in die Tschechei, und ich fuhr mit. Eine schlimme Fahrt - drei Tage und zwei Nächte, dritter Klasse auf Holzbänken. Am Tage wurde der Zug oft von Tieffliegern beschossen. Dann mussten alle unter den Zug kriechen. In Prag angekommen wurden wir in Gruppen aufgeteilt und in verschiedene Lager nach Podiebrad geschickt. Ich kam ins Haus Jelena. Wusste schon über das Lagerleben Bescheid und konnte mich gut einordnen.


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Podiebrad war ein kleiner Kurort, gleich an der Elbe gelegen, und hatte einen wunderschönen Kurgarten. Ich erinnert mich, dass in einer großen Wandelhalle das gesamte Großlager (das heißt: alle Kinder, die sich im Rahmen der Kinderlandverschickung in Podiebrad befanden) das Weihnachtfest feierte. Es war schon beeindruckend: der riesengroße Tannenbaum, die langen geschmückten Tischreihen und die Weihnachtslieder, gesungen von einem Chor von mehreren hundert Stimmen. Ein Eindruck, der sich mir eingeprägt hat. Ein ganzes Jahr verbrachte ich in Podiebrad, und dort wurde ich auch aus der Schule entlassen.

Zweimal hatte Mutter mich in der Zeit besucht, die Strapazen der langen Fahrt auf sich genommen, aber dieser Besuch galt nicht nur mir sondern auch einer Freundin meiner Mutter. Diese lebte mit Mann und Tochter (die beide der Duisburger Oper angehörten, der Mann dem technischen Personal, die Tochter dem Ballett) in Prag, nachdem das Duisburger Opernhaus durch Bomben zerstört worden und die gesamte Oper nach Prag umgezogen war. Für diesen Besuch durfte ich das Lager verlassen und mit Mutter ins 50 Kilometer entfernte Prag fahren.

Kurz nach Ostern 1944 kam ich nach Duisburg zurück, und gleich erlebte ich einen heftigen Angriff. Den Gang zum Tunnel konnte man nicht mehr wagen, weil die Sirene erst zu heulen angefangen hatte, als die Bomben schon fielen. Herausgerissen aus einem festen Schlaf und einem Traum von züngelnden Flammen, die unser Zuhause verwüsteten, fing ich an zu schreien. Mutter konnte mich nicht beruhigen, zerrte mich schließlich aus dem Bett und dann hinter sich her in den Keller. Nach der Detonation einer Bombe, dicht in der Nähe unseres Hauses, ging das Licht aus. Da ertönte plötzlich eine Stimme: "Mutter, Mutter hilf mir!" Und eine andere Stimme: "Wir brauchen Licht! Wo sind die Kerzen?" Dann das Aufflackern eines Streichholzes - der matte Schein einer Kerze verbreitete sich, der gespenstisch die Schatten der zusammengekauerten Körper an die Wand warf. Wie verlassen hatte ich mich mit den zwei Kleinen im Arm ohne den Schutz der Mutter gefühlt, die damit beschäftigt war, eine Decke von Wand zu Wand zu spannen, hinter der dann ungewohnt energisch ihre Stimme zu hören war: "Pressen! Pressen!" Dazwischen das Stöhnen einer Frau, und immer wieder: "Pressen!" Danach ihr Ausruf: "Eine Junge! Es ist ein Junge!"

Draußen gaben die Sirenen Entwarnung, und in den Heulton hinein schrie das kleine Menschlein sein Recht auf Leben hinaus. Über Schutt und Geröll ging der Weg nach oben. Das Nachbarhaus war völlig zerstört. Still und gespenstisch ragten Eisenträger in den Himmel. Gardinen flatterten wie weiße Fahnen im Wind. In diesem Haus hatte niemand überlebt. Doch nur einen Steinwurf weiter war, wie ein Grashalm in verbrannter Erde, ein neues Leben entstanden ...

Für mich begann das Pflichtjahr, die erste Stufe zum Erwachsenwerden. Dabei hatte ich noch Glück: Statt in einer Fabrik arbeiten zu müssen, wurde ich als Helferin in einem von Nonnen geleiteten Kindergarten eingesetzt. Die Aufgabe und die Verantwortung für die Kleinen erfüllten mich mit Stolz. Die Schwestern schätzten meinen Arbeitseifer. So hätte ich einen leichten Start gehabt, wären da nicht die Bombenangriffe gewesen. Drei Angriffe in knapp vierundzwanzig Stunden. Schon morgens ging es los. In der Luft das Brummen der Flugzeuge, das Pfeifen der Bomben, die Einschläge ringsherum, das laute Beten der Nonnen, lauter und flehender nach jedem Einschlag. Die schreienden Kinder, die an mir hingen - an mir, der Fünfzehnjährigen, der selbst vor Angst zum Schreien zumute war. Aber ich versuchte, die Kinder zu trösten, während die Nonnen auf den Knien Gott um Schutz und Hilfe baten. Jede Detonation ließ das Haus erzittern. Putz fiel von Decken und Wänden, Staub machte die Luft zum Ersticken dick, und die schwarzen Hauben und Gewänder der Nonnen grau.

Irgendwann gaben die Sirenen Entwarnung. In Panik rannte ich nach Hause. Auf dem großen Platz vor dem Kindergarten lagen viele Bombentrichter dicht nebeneinander, durch die ich laufen musste, weiter durch Straßen voller Schutt, vorbei an zerstörten und brennenden Häusern. Auch mein Zuhause hatte gebrannt, doch das Feuer konnte von den Nachbarn gelöscht werden. Am nächsten Tag war der Platz vor dem Kindergarten weiträumig abgesperrt - Blindgänger mussten entschärft werden …

Bei diesen drei Angriffen im Oktober 1944 verlor meine Familie sieben Verwandte. Sie hatten auf ihrem Hof einen Erdbunker. Bis auf den Onkel, der außer Haus war, befanden sich acht Familienmitglieder in diesem Bunker, als eine Bombe ihn traf und sieben Leben auslöschte. Dich wie ein Wunder wurde das jüngste, ein Baby, vom Luftdruck der Bombe hinausgeschleudert. Noch eingewickelt in einer Decke lag es leise wimmernd und fast unversehrt hinter einem Betonbrocken …

Die Vorstellungskraft eines Menschen reicht nicht aus, nachzuempfinden, was im Inneren des Onkels vorgegangen sein muss, als er die Toten aus dem zerstörten Bunker holte, sie in die Wohnung trug und nebeneinander auf den Fußboden legte. Meine Mutter wollte Abschied nehmen von den Toten. Der Friedhof war übersät mit "Särgen" (längliche Kisten aus einfachen Holzbrettern). Als sie endlich die erfragte Feldnummer gefunden hatte, suchte sie nach sieben Särgen, fand aber nur einen mit sieben Namen. Sie wusste noch nicht, dass bei dem zweiten Angriff das Haus, in dem die Toten lagen, von einer Brandbombe getroffen worden und ausgebrannt war. So konnte Onkel dann nur noch die Überreste seiner Familie in die Sargkiste legen … Das Letzte, was wir über den Onkel erfuhren, war, dass man ihn in eine Nervenklinik gebracht hatte.

Bei diesen drei Angriffen auf Duisburg warfen die britischen Bomber in knapp 24 Stunden 9.000 Tonnen Brand- und Minenbomben ab. In diesem Bombenhagel starben mehr als 2500 Menschen. Das war zuviel für meinen Vater. Er bestand darauf, dass seine Familie mit dem nächsten Transport in die Evakuierung nach Biberach fuhr. Vater brauchte aus gesundheitlichen Gründen nicht an die Front. Er hatte in seinem früheren Beruf als Artist eine Menge Knochenbrüche erlitten. So war er denn beim Sicherheits- und Hilfsdienst' (SHD), musste nach Angriffen Tote und Verwundete aus den Trümmern bergen und Aufräumungsarbeiten verrichten. Oft, wenn er nach Hause kam, konnte er nichts essen, denn manchmal wurden nur Teile von Toten geborgen. Ich erinnere mich, dass er noch lange Zeit nach dem Krieg kein rohes Fleisch sehen konnte.


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