> Elfriede Schulze: Flucht aus Niederschlesien 1944/45

Elfriede Schulze: Flucht aus Niederschlesien 1944/45

Dieser Eintrag von Elfriede Schulze (*1934) aus Berlin (elfischulze@web.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/schulze_01 Schwarz auf weiß konnte ich nicht beweisen, dass ich auf der Welt bin. Ich hatte keine Geburtsurkunde. Jedenfalls war es bis 1998 so. Nach der Wende ging es um den Vertriebenenstatus, den auch ich, da ich in Schlesien geboren wurde, beweisen musste, um in den Genuss der Vertriebenenzuwendung zu kommen. Also ging ich zum Standesamt I in Berlin, wo die Personenstandsbücher der aus Schlesien Vertriebenen lagern sollten. Die Jahrgänge meiner Geschwister waren da, denen ich einen Auszug besorgte. Nur mein Jahrgang 1934 war in Schlesien geblieben. Deshalb schrieb ich nach Breslau, die genaue Anschrift hatte ich mir beim Standesamt geholt, und forderte eine Geburtsurkunde an. Sie war sehr teuer und mit rechtschreiblichen und sachlichen Fehlern, was mir absolut nicht gefiel. Deshalb rief ich bei der polnischen Botschaft an und verlangte eine Korrektur, die ich von Grünberg bekam, wieder teuer bezahlen musste und auch mit zwei Fehlern in den Namen. Die Ablichtung vom Personentandsbuch, die noch verlangte und bekommen hatte, war am nützlichsten für mich, denn die Geburtsurkunden sind in polnisch.

Im Auszug des Personenstandsbuches zu Hammer, Kreis Grünberg, steht auf der Seite 42: "Das von der Johanna Emilie Margarete Becker, geborene Kern, Ehefrau des Bauern Wilhelm August Otto Becker, in Hammer bei ihrem Ehemann zu Hammer in der Wohnung ihres Ehemannes am 16.10.1934 nachmittags um sieben ein halb Uhr ein Mädchen geboren worden sei und dass das Kind die Vornamen Elfriede Berta Eleonore erhalten habe." Somit habe ich es schwarz auf weiß, dass ich als Erdenbürger aufgenommen wurde. Ob freudig oder nicht, das soll mir heute egal sein. Ich war das vierte Kind einer schlesischen Bauernfamilie. Das Elternhaus war arm, so beurteile ich es. Doch Vater und besonders die Mutter zeigten einen gewissen Stolz auf ihren Stand als Häusler im Dorf. Das vernahm ich als Kind mehrfach aus Unterhaltungen und hatte doch durch eigene Wahrnehmungen eine andere Meinung, die ich auch einige Male, wenn auch zögerlich, zum Ausdruck brachte.

Die Eltern hatten einen Dreiseitenhof, der zur Straße hin durch ein zweiflügeliges Tor geschlossen war. Stand man auf der Straße, so war links der Gemüse- und Blumengarten, an den sich das Wohnhaus anschloss. An dieses fügte sich etwas versetzt das Gebäude mit Waschküche, Schweinestall, Kuhstall und Strohschuppen an. Hier gab es einen Durchgang zum Hühnerstall, zum eingezäunten Schweineauslauf und zum hinteren Garten, wo es eine Johannesbeerplantage und den Spargelgarten gab. An dem führte ein Weg am Nachbargrundstück vorbei über den Graben zum Seitendamm der Oder. Als Kind fand ich diesen Weg so schön und bin ihn auch oft gegangen, weil der Graben eine kleine Brücke hatte und das Wasser quellklar war. Wenn man Glück hatte, saß da der Kater und wenn dieser wiederum Glück hatte, angelte er sich einen Fisch mit der Pfote aus dem Wasser. Meistens war ich allein bei solchen Beobachtungen als auch bei den Arbeiten, die ich zu erledigen hatte, wenn alle anderen auf dem Acker waren. /lemo/bestand/objekt/schulze_02 Unser Haushalt bestand aus 7 Personen und jeden Tag musste ich den gesamten Abwasch dieses Haushaltes in der Küche erledigen, wenn ich aus der Schule kam. Dazu kam noch das Fegen von Küche, Flur und Laube. Hausaufgaben machen oder gar spielen gab es wochentags und zur Feldbearbeitungszeit überhaupt nicht. Und wenn ich schon mal mir draußen mit Laub eine Wohnung baute, um darin spielen zu können, gab es Schelte, wenn die Mutter vom Feld nach Hause kam. Von Lob keine Spur. Einmal war ich auch ausgerückt vor der Drohung der Mutter, bin gerannt, so schnell ich konnte und das konnte ich gut, aber die Mutter kam mit dem Fahrrad hinterher, holte mich fast ein, da bin ich links in einen verwachsene Seitenweg eingebogen, wo sie mit dem Fahrrad nicht hinterher konnte. Ich hockte mich hin, war zunächst ratlos und blieb dort sehr lange sitzen. Ich glaube, Leute vom Dorf haben die Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass ich dort säße. Nach gewisser Zeit trottete ich gedankenlos wieder nach Hause, froh, dass der Zorn verrauscht war. Später meinte die Mutter, ich würde schon kommen, wenn ich Hunger hätte. Ich hatte zwar keinen Hunger, sah aber aus meiner Sicht auch keine andere Möglichkeit.

Mein Vater wurde 1939 zum Polenfeldzug eingezogen. Kam aber bald wieder in die Heimat zurück. Dafür sollte mein ältester Bruder an die Front gehen. Die Bauernwirtschaft musste weiter bearbeitet werden, was für meine Eltern und auch für uns Kinder eine besondere Herausforderung war. Rund um die Uhr mussten die Tiere versorgt und die Ernte eingebracht werden. Im Jahr 1944 hob man am Ufer der Oder entlang Schützengräben aus. Männer, die für das Militär untauglich waren und nicht eingezogen wurden, so genannte "Schanzer", kamen in die an der Oder gelegenen Dörfer, wurden bei den Bauern einquartiert und mussten Gräben ausheben. Die Seiten der Gräben verstärkten sie mit Reisig, denn sie sollten ja halten, bis die Soldaten die Oder verteidigen mussten. Später stellte sich heraus, dass diese Maßnahme sinnlos war, denn die Frontlinie und die Rote Armee kamen hier nicht vorbei. Die Kämpfe fanden auf den Seelower Höhen statt.

In diese bedrückende Untergangsstimmung hinein kam eines Tages, es war Spätsommer 1944, ein kleines Orchester mit zwei Sängern in unser Dorf. Es war eine kleine Bühne gezimmert worden, wo Gartenstühle davor standen. Erschienen ist keiner der Dorfbewohner zu diesem Konzert. Wir Kinder hörten die Musik und rannten hin. Eine Sängerin trällerte gerade: "Ja, ja der Chiantiwein". Ich stand staunend da und trat einen Schritt näher an die Bühne heran, worauf die Sängerin sagte: "Dann singen wir eben für die Kinder". Das hatte mir gefallen und ich registrierte es als schönes Erlebnis. So hörte ich das erste mal klassische Musik und viel später erfuhr ich, was Chiantiwein ist.

Der Krieg nahm seinen Lauf und es kam der Tag, wo wir fliehen mussten, um nicht in die russische Frontlinie zu geraten. Der Vater hatte vom Volkssturm aus einen Zimmermann geschickt, um eine Plane über den Ackerwagen spannen zu lassen. So ging es los, das ganze Dorf im Treck auf die Irrfahrt der Flucht. Wir Kinder hatten die Tragik der Situation nicht erfasst, liefen und sprangen nebenher - freudig bewegt über das ungewöhnliche Aussehen der Zigeunerwagen. Die Straßen waren voller Flüchtlingstrecks, die sich alle in Richtung Westen bewegten. 14 Millionen Menschen waren in der Endphase des Krieges auf der Flucht in Richtung Westen, flohen, wurden vertrieben oder deportiert. Knapp sieben Millionen waren es aus den deutschen Siedlungsgebieten östlich von Oder und Neiße. Davon haben bis zu 600.000 Menschen Flucht, Vertreibung und Deportation nicht überstanden.

Es war Winter, und als wir in Kleinragewitz bei Oschatz ankamen, hatte sich der Frühling angemeldet und wir standen in Wintersachen da. Freundliche Menschen gaben meiner Mutter Sachen für die wärmere Jahreszeit. Hier wurde auch ein Wehrmachtsdepot mit Lebensmitteln (Dosen mit Gemüse oder Fleisch und Fliegerschokolade) aufgelöst und an die Flüchtlinge verteilt. Die Schokolade war gesondert gut. Es waren runde Tafeln in Pappschachteln. Der Bürgermeister drängte alle einen Tagesmarsch weiterzuziehen bis Sitten, um dem Vorrücken der Roten Armee auszuweichen. Doch das war ein Irrtum. Ein Ausweichen war nicht möglich. Die russische Front war uns gefolgt, denn die Frontlinie zwischen Russen und Amerikanern hatte sich inzwischen verschoben.

Der Krieg war zu Ende - und was nun? Bald wurde der Treck zur Rückfahrt gerüstet. Doch wir hatten kein Pferd mehr. Unseres war in Kleinragewitz einer Kolik zum Opfer gefallen und musste zum Rossschlächter gebracht werden. Inzwischen befanden wir uns in Sitten, ohne Pferd und Wagen, einen Tagesmarsch von Kleinragewitz entfernt. Die Russen waren auch da, und die Front hatte sich aufgelöst und mit ihr alle gewohnten Strukturen. Menschen und Tiere irrten umher. Ein Mann machte meine Mutter darauf aufmerksam, dass auf einer Wiese ein herrenloses Pferd weidete, und er half ihr beim Einfangen. Das war nicht schwer, denn das Pferd war völlig abgemagert und sicher auch an die Nähe von Menschen gewöhnt. Der Ackerwagen wurde aus Kleinragewitz geholt und so hatten wir wieder Pferd und Wagen. Alle Menschen waren in Aufbruchstimmung. Die Kriegsgefangenen, die auf dem Gut als Landarbeiter arbeiten mussten, fanden sich in kleinen Gruppen zusammen, schnürten ihr Hab und Gut auf einen Handwagen und zogen los mit der Hoffnung, die Heimat zu finden. Auch wir wollten zurück. Zumal sich unser Dorf noch fast geschlossen auf dem Gutshof befand. Jede Familie war bei einem Bauern oder einer Landarbeiterfamilie unter gekommen.

So rüsteten sich alle zur Heimfahrt nach Schlesien, wieder im Treck, voran der Bürgermeister mit seinem Gespann. Doch an der Neißebrücke in Görlitz angekommen, stellte sich dieses Unternehmen als Irrtum heraus. Es gab kein Zurück. Stalin hatte längst anders entschieden. Nun folgte eine Reise ohne Ziel., die ständige Suche nach einer Bleibe. An einer Wegekreuzung fuhr manchmal der Bürgermeister voraus, um "Quartier zu machen", wie es genannt wurde. Wenn er achselzuckend zurückkam, wurde die nächste Richtung eingeschlagen. So ging es Tag für Tag. Meistens bekamen wir als Übernachtung eine Scheune zugewiesen. Tagsüber trotteten wir Kinder neben dem Ackerwagen her. Einmal, vor einem Wald angekommen, verbreitete sich das Gerücht, dass sich plündernde Russen im Wald aufhielten. Vielleicht waren es auch paramilitärische oder versprengte Gruppen in Russenuniformen. Jedenfalls machte der gesamte Konvoi in Hektik eine Kehrtwendung mitten auf einer Alleestraße mit abschüssiger Böschung an den Seiten. Beinahe wäre unser Wagen umgekippt und unser neues Pferd konnte den Anstieg der Böschung nur mit größter Kraftanstrengung schaffen. Ich sehe noch, wie es sich ins Geschirr legte und mit gebeugten Beinen den Anstieg erklomm.

Eine unserer nächsten Stationen, wo wir Halt machten, war ein kleines Dorf in der Niederlausitz mit einem Gutshof. Doch da wollte niemand bleiben. Zu sehr hatte hier der Krieg gewütet. Auf dem Feld guckten Stiefel von notdürftig verscharrten toten Soldaten heraus und überall standen und lagen zertrümmerte Waffen und Geschütze herum. Der ganze Konvoi machte nach einer Beratung kehrt und suchte eine neue Bleibe zum wiederholten Male. Für die ansässigen Leute waren wir nirgendwo wirklich willkommen. Jeder hatte mit den Lasten des Krieges zu kämpfen und es waren ja auch so viele auf den Straßen, erst auf der Flucht vor der Front der Roten Armee und danach kamen die Trecks der Vertriebenen aus den ehemals deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße.

/lemo/bestand/objekt/schulze_04 Wir landeten in einem anderen Dorf in der Niederlausitz. Es gab da auch einen Gutshof und wir erhielten als Unterkunft ein Zimmer mit einer weiteren Familie zusammen. An den Weg dorthin habe ich keine Erinnerung. Ich weiß nur, dass ich immer hinter oder neben unserem Wagen hergetrottet bin, oft nur mit einer Schnitte Brot am Tag. Wir Kinder waren uns hier meistens selbst überlassen. Wobei jedes meiner zwei anwesenden Geschwister seinen Weg ging. Ich für meinen Fall sorgte schon früh für mich selbst, indem ich alles, was ich fand, auf den Gebrauchswert meinerseits hin untersuchte. Meine Strümpfe waren ständig durchlöchert und da ich es nicht leiden konnte, wenn die Zehen durchkamen, hielt ich Ausschau nach Wolle. Auf dem Boden des Gutshofes wurde ich fündig. Eine Handvoll verfitzte Wolle kam mir gerade recht. Mit Hilfe eines Stopfpilzes und einer Nadel zog ich die Fäden so lange durch die Fußsohlen meiner einzigen Strümpfe, bis sie wieder dicht waren. Das angenehme Tragegefühl hatte mich dafür belohnt. Auch hatte ich mir oft ein paar Kartoffeln in einem kleinen Topf auf dem Herd der Gutsküche gekocht, gestampft und als Rührkartoffeln gegessen. Meine Mutter sah das nicht gern, und als ich einmal ein winzig kleines Stück Butter von dem eingeteilten Stück entnahm, merkte sie es und es gab Schellte und Schläge auf den Mund, so dass meine Oberlippe anschwoll. Das erzeugte hilflose Traurigkeit in mir. Aber da ich nichts anderes kannte, nahm ich alles so hin, wie es war.

Für uns Kinder sollte jetzt die Schule wieder beginnen, im Nachbardorf, wieder einer Einklassendorfschule. Der Lehrer, Herr Müller, nahm die Flüchtlingskinder mit Skepsis auf, brachten sie ihm doch mehr Arbeit bei gleichem Verdienst. Einmal machten wir einen Ausflug auf den nahe gelegenen Flugplatz für Segelflieger. Die Jungen fanden dort einen eingegrabenen Metallkanister, in welchem sich Schokolade, Kekse und durchfeuchtete Geldscheine befanden. Das war wie eine erfolgreiche Schatzsuche. Kekse und Schokolade wurden verteilt. Davon hätte ich so gern mehr gegessen. Die nassen Geldscheine trocknete Lehrer Müller auf seiner Wäscheleine. Was weiter damit geschah, weiß man nicht.

Eines Tages sahen meine Mutter und ich einen Mann zum Torweg des Gutshofes hineinkommen. Es war unser Vater. Die Eltern liefen aufeinander zu, umarmten sich und ich stand daneben und schaute. Von meinem Vater wurde ich nicht beachtet, ja im Nachhinein meine ich sogar, nicht einmal begrüßt. Er hatte uns über den Briefwechsel mit Verwandten gefunden. Nun musste Platz für eine weitere Person in dem einen Zimmer, das zwei Familien bewohnten, geschaffen werden. Wenig später bekamen wir eine Dienstbotenwohnung, die aus zwei Zimmern bestand. Es wurden Matratzen hineingelegt für meine Schwester und mich. Da schliefen wir mit den Eltern in dem einen Zimmer und der Großvater und der Bruder in dem anderen.

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