Ella Spychalski: Da war der Krieg zu Ende

    Dieser Eintrag stammt von Ella Spychalski (*1928) aus Hattingen, November 2007 :

    Der Gründonnerstag 1945 ist ein strahlend schöner Vorfrühlingstag. Wie den ganzen Herbst und Winter über bin ich auch an diesem Morgen nach einem halbstündigen Fußweg pünktlich an meinem Arbeitsplatz in der kleinen Rüstungsfabrik weit draußen vor dem Städtchen erschienen. Der Betrieb ist im November 1944 wegen der pausenlosen Fliegerangriffe von Karlsruhe nach Möckmühl an der Jagst verlegt worden. Die gesamte Belegschaft wohnt seitdem in Zimmern oder Kammern, die das Wohnungsamt bei den Möckmühler Bürgern requiriert hat. Mich hat es in die enge Zweizimmerwohnung der Familie Schmitt verschlagen. In Friedenszeiten hat sich Herr Schmitt als Korbflechter betätigt, wenn er nicht zu müde war, um überhaupt aufzustehen. Seit einem halben Jahr tut er Dienst als Besatzer in Frankreich. Seine Frau Adelheid hat vor dem Krieg durch Schneckensammeln zum Familieneinkommen beigetragen. Jetzt bekommt sie Unterhaltszahlungen als Soldatenfrau. Sie bewohnt mit ihren drei Kindern, die alle total verlaust sind, die kleine, schmutzige Küche und das immer unaufgeräumte Schlafzimmer. Die Tage verbringen sie beim Großvater, der in einem baufälligen Häuschen am Ortsausgang wohnt und Ziegen, Gänse und Hühner im wilden Durcheinander seines Gartens hält. Mir ist das sogenannte Wohnzimmer, in dem das Bett des Familienvorstandes steht, zugeteilt worden. Adelheid hat sich nicht dagegen gewehrt. Sich zu wehren ist ihr fremd. Sie hat es wohl nie gelernt. Meine Beschwerden beim Wohnungsamt haben keinerlei Wirkung gezeigt. Es gibt einfach kein anderes Zimmer, und "der Endsieg erfordert eben von jedem einzelnen Volksgenossen gewisse Opfer!" Beim Gedanken an die russischen Zwangsarbeiterinnen und die Kriegsgefangenen, die unter primitivsten Umständen in Baracken hausen müssen und nie satt zu essen bekommen, vergesse ich mein Selbstmitleid.

    Adelheid beschämt mich vom ersten Tag an mit ihrer grenzenlosen Gutmütigkeit. Die Zeiten, zu denen ich mich am Spülstein in der Küche waschen darf, werden von ihr und den Kindern zuverlässig respektiert. Das ist auch gut so, denn die Küchentür kann nicht abgeschlossen werden. Auch für das stille Örtchen, das eine halbe Treppe tiefer zu finden ist, gibt es keinen Schlüssel. Alle drei Wochen bezieht Adelheid mein Bett frisch. Das würde ich lieber selber machen, denn jedes Mal lässt sie bei dieser Gelegenheit ein paar Flöhe zurück. Aus irgendwelchen Gründen mögen die Tierchen mich nicht. Aber ihr Krabbeln raubt mir den Schlaf, also muss ich sie fangen. Mit List und Tücke und meinem spuckefeuchten Zeigefinger ist mir das noch immer gelungen. Manchmal legt mir meine Zimmerwirtin einen Apfel oder ein paar Nüsse auf den Tisch. Sie treibt immer irgendwelches Heizmaterial auf, mit dem sie meine Stube für den Feierabend wärmt. So bin ich alles in allem relativ gut durch den Winter gekommen.

    Jetzt ist April, jeder in der Fabrik weiß, dass unsere Arbeit sinnlos ist, aber niemand wagt es, laut darüber zu reden oder der Arbeit fernzubleiben. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. An besagtem Gründonnerstag - es ist Frühstückspause, wir kauen an unserem Margarinebrot und trinken den üblichen lauwarmen Rübenschnitzelkaffee - gibt mir mein Vorarbeiter einen Wink. "Du sollst zum alten Rimmelsbacher kommen, und zwar schnellstens!" teilt er mir mit. Mir klopft das Herz bis zum Hals, als ich mich auf den Weg zum Personalbüro mache.

    In der Fabrikhalle herrscht Weltuntergangsstimmung. Der Slogan: "Genießet den Krieg, denn der Friede wird fürchterlich!" wird schon lange Ernst genommen. Kaum eine Maschine läuft, man beschäftigt sich mit so sinnlosen Arbeiten wie Putzen, Maschinenölen oder Spänefegen. Die Russinnen stehen in Grüppchen herum und tuscheln. Die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die flintenbewaffneten Volkssturmmänner, die sonst die Kriegsgefangenen begleitet haben, sind gar nicht erst erschienen. Sie haben sich von ihren vaterländischen Pflichten verabschiedet und sind getürmt. Niemand verliert ein Wort darüber. Der Personalchef kommt gleich zur Sache: "Wir wissen alle, dass der Krieg verloren ist. Der Ami kann in ein paar Tagen hier sein, und wer weiß, was dann alles passiert!" Ich habe keine Ahnung, worauf er hinaus will. "Du fährst doch regelmäßig zu deiner Mutter in den Odenwald. Kurz, mir wäre es recht, wenn du morgen verschwinden würdest. Die fünfzig Kilometer schaffst du noch, und ich bin froh um jedes Mädchen, für das ich nicht mehr verantwortlich bin!" Ich stehe da wie vom Donner gerührt. "Aber mein Fahrrad geht nicht. Da ist die Vordergabel gebrochen!" stotterte ich. "Das wird heute noch bei uns geschweißt, und morgen will ich dich hier nicht mehr sehen!" schneidet er mir das Wort ab. Vor Aufregung bringe ich kaum einen Dank heraus. Mit einem väterlichen "Das schaffst du schon!" schiebt er mich zur Tür hinaus.

    Am frühen Morgen des Karfreitags 1945 nehme ich all meinen Mut zusammen und starte in Richtung Norden. An meiner Lenkstange hängt ein von Herrn Schmitt in besseren Tagen geflochtener Korb, den mir Adelheid zum Abschied geschenkt hat. Darin befindet sich ein stattlicher Vorrat an Waffeln. Die hat sie eigens für mich gebacken. Ich bin nicht zimperlich, aber beim Gedanken an Adelheids Küche graust mir vor der großzügigen Gabe. Mein Proviant wird gekrönt von einem hartgekochten Gänseei, das meine Wohltäterin ihrem Vater abgebettelt hat. "So was Gutes hast du noch nie gegessen!" versichert sie mir.

    Am seidigblauen Himmel ist kaum ein Wölkchen zu sehen. Das bedeutet Tieffliegerwetter! Die Angst, meine heimliche Begleiterin seit vielen Bombennächten, überfällt mich. Mein Magen krampft sich zusammen, meine Knie zittern. Am liebsten würde ich umkehren. Aber ich muss mich zusammenreißen, ich will und muss jetzt diese fünfzig Kilometer hinter mich bringen, ich will zu meiner Mutter! Die Landstraße in Richtung Odenwald mit ihren Steigungen und Gefällstrecken führt vorbei an Feldern, durch frühlingslichte Wälder und immer wieder kleine Dörfer. Irgendwann merke ich, dass ich in dieser Richtung alleine unterwegs bin. Mir entgegen kommen teils zu Fuß, teils motorisiert, auf dem "planmäßigen Rückzug" befindliche deutsche Soldaten. Im Stundenrhythmus donnern englische Jagdbomber über den Himmel. Dann heißt es, gemeinsam mit den müden feldgrauen Kriegern im Straßengraben Schutz suchen. Jedes Mal muss ich Fragen nach meinem Woher und Wohin beantworten. Durch Kommentare wie "Du bist verrückt!", "Das schaffst du nie!" oder "Da ist doch schon der Ami!" lasse ich mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Auf meine Gegenfragen nach dem Wohin weiß keiner der Männer eine Antwort. Sie sind am Ende ihrer Kraft und haben Hunger. Adelheids Waffeln verspeisen sie mit Hochgenuss. Ich bekomme im Gegenzug Schoka-Cola, die Durchhalteschokolade der Wehrmacht. Als eiserne Reserve habe ich das hygienisch einwandfrei verpackte Gänseei und die Feldflasche mit dem Pfefferminztee.

    Ein unbegreiflich schöner Sternenhimmel steht über dem schlafenden Land, als ich mein Fahrrad den alten Totenweg von Walldürn zum Dorf meiner Vorfahren hinaufschiebe. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich rechne damit , dass im nächsten Moment ein amerikanischer Panzer, ein "Tank", vor mir steht. Ein schwarzer Sergeant wird herunterspringen und mir sein langes Messer an die Kehle setzen. Die Propaganda in Wochenschau und Volksempfänger tut ihre Wirkung. Mitten in der Nacht klopfe ich an die Tür zum "Sauers-Haus", rufe: "Macht auf, ich bin's!" Todmüde und unendlich glücklich falle ich in die Arme meiner Mutter.

    Zwei Tage später rollen amerikanische Panzer durch das nahe Morretal. Wir auf dem Berg merken nichts davon. Bei uns kommen immer wieder deutsche Soldaten auf der Flucht - manche in den abenteuerlichsten Verkleidungen - an die Tür und bitten um Nahrung und einen Platz zum Schlafen. Meine Tante, die Bäuerin, hält nichts davon, wildfremden Menschen zu helfen.

    Am Morgen des Weißen Sonntags klopft ein amerikanischer Offizier an unsere Hintertür. Er ist mit einem alten Fahrrad unterwegs, sieht nach üppigem Essen und guter Seife aus und möchte "a cup of water, please!". Ich bin mit meinen Sprachkenntnissen aus zwei Jahren Englischunterricht (wir durften die Sprache des Feindes lernen, um ihn besiegen zu können) zur Stelle, soll ihm auf Geheiß der Tante Milch oder Kaffee oder Apfelmost anbieten. "water please, only water !" bittet er höflich. Den ersten Schluck aus seinem Glas soll ich trinken. Ich begreife, dass er uns misstraut, und schäme mich.

    Wieder ein paar Tage später eine abendliche Razzia. Alle männlichen Dorfbewohner zwischen sechzehn und fünfundvierzig Jahren müssen sich beim Milchhäuschen einfinden. Wer keine einwandfreien Entlassungspapiere hat, wird mitgenommen. Alle Radios müssen abgeliefert werden. Alle Häuser werden durchsucht. Tante Anna lässt sich nicht beeindrucken. Noch während zwei Amerikaner das Haus betreten, nimmt sie das Radio von der Eckkonsole in der Stube und steckt es zu ihrer achtjährigen Tochter Rita ins Bett. Ich kann die Situation nicht aushalten und schleiche mich weg in Richtung Dachgeschoss. Aber es passiert nichts. In meinem Kämmerchen steht auf dem wurmstichigen Nachtschrank mein ganzer Stolz, ein prächtig verziertes Schmuckkästchen. Einer der Amerikaner, ein baumlanger Farbiger mit einem breiten Grinsen im Gesicht, kippt sich den Inhalt des Kästchens in die riesige Pranke. Ich sehe staunend, dass die Innenseite seiner Hand fast rosa ist, und ich sehe meine bescheidenen Juwelen, ein paar Kettchen und Ringe, darin verschwinden. Das darf er nicht! Das sind meine Andenken von der Erstkommunion und vom Schulabschluss! Vor lauter Wut vergesse ich alle Angst, schreie ihn an: "You are a Chicaco-Gangster!" Er guckt mich verdutzt an, dann lacht er schallend und streut meine Reichtümer mit großer Geste auf mein kariertes Federbett.

    Am 8. Mai hören wir die Nachricht von der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Alle sind erleichtert, dass das sinnlose Töten ein Ende hat. Es gibt keine Zeitungen, und auch die Post funktioniert noch nicht. Das Radio meldet, dass Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt haben. Ich lebe mit meiner Mutter immer noch als geduldeter Gast im Elternhaus meines Vaters. Von dem haben wir seit seiner Einberufung zum Volkssturm im März 1945 keine Nachricht. Auch von meinem Bruder, der seit Januar 1945 vermisst ist, wissen wir nichts. Wir beide wollen nur noch eines: Zurück nach Karlsruhe, meinen Vater suchen. Wenn er zurück gekommen ist, wird er wie in den Monaten vor seiner Einberufung im Keller unseres unbewohnbaren Hauses leben und bei seinem alten Arbeitgeber als Lagerist beschäftigt sein. Es gibt einen weiteren wichtigen Grund für unseren mutigen Entschluss: Wir wollen unter der alten Adresse zu finden sein, wenn doch noch ein Lebenszeichen von meinem Bruder kommt.

    Die Tante macht keinen Hehl daraus, dass sie froh ist, uns loszuwerden. Sie schenkt uns sogar ein Stück Speck und ein halbes Brot für unterwegs. Am Himmelfahrtstag 1945 machen wir uns auf den Weg, wieder - wie bei unserer Flucht aus der zerstörten Stadt - mit unseren alten Herrenfahrrädern, wieder mit dem Persilkarton auf dem Gepäckträger. Vor uns liegen 160 km schlechte Straßen. Sorgen bereitet uns die Sperrstunde, die bedeutet, dass wir vor 19 Uhr eine Unterkunft haben müssen. Sorgen macht uns auch der Übergang von der amerikanisch besetzten Zone in die französische. Man hat da die wildesten Gerüchte gehört.

    Wir haben noch keine dreißig Kilometer hinter uns, da bricht am Fahrrad meiner Mutter die Vordergabel. Meine Gedanken gehen zu Herrn Rimmelsbacher, meinem Retter in ähnlicher Lage. Im nächsten Dorf finden wir einen Schmied. Der bekommt unseren Speck und schweißt im Gegenzug die defekte Vordergabel. Weiter geht's über den Katzenbuckel durch das Neckartal Richtung Heidelberg. Wir trampeln und schieben und trampeln, gönnen uns nur kurze Pausen. Gegen 19 Uhr sind wir 15 km vor Heidelberg in Neckargemünd. Wir klopfen an die Tür eines bescheidenen Hauses am Ortsrand und bitten um Unterkunft für die Nacht. Die Bewohner, Herr und Frau Huber, beide Mitte fünfzig, nehmen uns freundlich auf. Die Fahrräder werden in der Waschküche verstaut, Frau Huber führt uns in die Küche zum gemeinsamen Abendessen. Es gibt Suppe und Brot. Wir berichten von unserem Woher und Wohin. "Nehmt ruhig noch Brot, es ist genug da!" redet uns Herr Huber zu. Er ist Bäckermeister und arbeitet in einer Großbäckerei. "Immer nur Kommissbrot für die Wehrmacht!" stöhnt er. "Unser Willi hat Konditor gelernt!", schaltet sich die Hausfrau ein. Ihr Mann fällt ihr ins Wort: "Der backt die schönsten Butterkremtorten. Wenn er zurückkommt, bauen wir unser eigenes Geschäft auf. Bäckerei und Konditorei Huber, da kann der Willi ein reicher Mann werden. Hunger ham die Leute immer!" Frau Huber hat einen Umschlag mit Fotos aus dem Wohnzimmer geholt. Willi am ersten Schultag, Willi als Kommunionkind, Willi als Hitlerjunge, Willi als Gefreiter. "Der letzte Brief ist im November gekommen. Da war er noch bei der Flak in Norwegen, in der Nähe von Trondheim!" erzählt sie. "Der ist bestimmt in englischer Gefangenschaft," versucht meine Mutter zu trösten. "bei den Engländern soll es gar nicht so schlimm sein!". Die Beiden nicken. Man sieht ihnen an, dass sie das nur zu gern glauben möchten. Herr Huber sagt Gute Nacht. Für ihn beginnt die Arbeit morgens um vier Uhr. Frau Huber bringt uns in das Dachstübchen. Wir dürfen im blütenweiß bezogenen Bett ihres Sohnes schlafen.

    Am anderen Morgen fahren wir in aller Frühe weiter in Richtung Heidelberg, durchqueren die Stadt, auf die nie eine Bombe gefallen ist, und finden die Zufahrt zur Autobahn. Die linke Fahrbahn in Richtung Karlsruhe ist fast leer. Nur hin und wieder donnert ein Jeep mit khakifarbener Besatzung vorbei. Rechts bewegt sich ein stummer Zug von Radfahrern und Fußgängern mit Leiterwagen, Fahrradanhängern, Schubkarren und ähnlichen Behelfsfahrzeugen in Richtung Süden. Alle sind abgemagert, manche gehen an Krücken. Die Kleidung ist durchweg ärmlich und abgetragen. Am schlimmsten sehen die Schuhe aus. Die jungen Frauen mit ihrem Baby im gammeligen Kinderwagen und kleinen Kindern an der Seite haben es besonders schwer. Nach dreißig Kilometern zügiger Fahrt heißt es, die Autobahn zu verlassen und auf Nebenstraßen auszuweichen, bevor wir in die Nähe der französisch besetzten Zone kommen. In einem Dorf, das durch die Zonengrenze in zwei Hälften geteilt ist, kommen wir anstandslos an den amerikanischen Wachsoldaten vorbei. Die Franzosen, die zehn Meter weiter ihr Wachhäuschen haben, verweigern uns die Durchfahrt, weil wir keine Passierscheine haben. Sie lassen nicht mit sich reden. Wie auch? Die können kein Deutsch und wir kein Französisch. Ein Dorfbewohner gibt uns den Rat, ein paar Straßen weiter den nächsten Grenzposten anzusteuern. Dort sollen wir behaupten, dass wir zurück nach Karlsruhe wollten, weil uns die Amis nicht in ihre Zone reinließen. Der Plan erscheint uns wenig überzeugend, aber was bleibt uns anderes übrig? Mit bekümmerten Mienen und hilflosen Gebärden können wir die Franzosen davon überzeugen, dass wir auf Befehl der Amis zurück in unsere - die französische - Zone müssen. Sie winken uns durch, und mir fällt ein Zentnerstein vom Herzen. Am liebsten würde ich laut jubeln.

    Hinter dem nächsten Dorf müssen wir über eine Behelfsbrücke fahren. Der ursprüngliche Brückenbogen ist einer Sprengung zum Opfer gefallen. Die Sieger haben eine Hilfskonstruktion gebaut. Als Fahrbahn dienen diagonal verlegte Balken. Wir sind mitten auf der Brücke, als hinter uns ein Mannschaftswagen mit einer Meute grölender französischer Rekruten über die Planken rumpelt. Die meinen mich mit ihren eindeutigen Angeboten, und sie kommen immer näher. Ich kriege Panik, will Tempo machen, verliere die Gewalt über mein Fahrrad, gerate mit dem Vorderrad in eine Lücke zwischen den Balken, fliege über den Lenker und das Brückengeländer und lande etwa zwei Meter tiefer kopfüber im Bachlauf. Der führt kaum Wasser. Aber ich habe Glück. Sand und Kies und Schlamm federn den Aufprall ab. Die Franzosen haben angehalten, zwei von ihnen helfen mir über den provisorischen Unterbau hinauf zu meinem Fahrrad und zu meiner Mutter. Die steht kreidebleich bei unseren Drahteseln. Wir umarmen uns und weinen miteinander. Meine Retter stehen sichtlich verlegen dabei. Schließlich steigen sie auf und fahren weiter. Die Maulhelden von vorhin sind mucksmäuschenstill. Wir schieben unsere Räder von der Brücke und setzen uns auf die nächste Böschung. Ich zittere am ganzen Leib, meine Nase schwillt an, die Abschürfungen an Gesicht und Händen brennen. Mutter nimmt den Deckel vom Persilkarton und sucht trockene Kleidung für mich heraus. Sie wischt mir sorgfältig die Reste von Moos und Sand aus dem Gesicht, hilft mir beim Aufstehen und Umziehen, murmelt etwas vom guten Schutzengel, der wieder mal zur Stelle war. Ich habe immer noch weiche Knie. Am liebsten möchte ich mein Fahrrad bis Karlsruhe schieben. "Es hilft alles nichts, wir müssen aufs Rad, sonst kommen wir nie heim!" wird Mutter energisch, und ich muss das einsehen.

    Am späten Nachmittag erreichen wir die Stadtgrenze von Karlsruhe. Auf schattigen Wegen fahren wir durch den Hardtwald in Richtung Schloss. Leute, die zum Holzsammeln unterwegs sind, geben uns in der so lange vermissten behäbigen Karlsruher Mundart den Rat, kurz vor dem Schlossplatz die Luft aus unseren Fahrradschläuchen zu lassen. Freigelassene Zwangsarbeiter und "sonstiges Gesindel" würden den Deutschen jedes halbwegs funktionierende Fahrrad wegnehmen. Ganz wild seien die da drauf. Also schieben wir unsere Räder mit Plattfuß vorne und schwerem Persilkarton hinten am Schloss vorbei über den von Ruinen umsäumten Adolf-Hitler-Platz, der jetzt wieder Marktplatz heißt, bis in unsere Südstadt. Das ist bei schleifenden Reifen und herausgequollenen Schläuchen ein hartes Stück Arbeit. Es kostet unsere letzte Kraft. Der Arbeitsplatz meines Vaters ist unser Ziel. Auf den letzten hundert Metern sagen wir kein Wort mehr, wagen auch nicht, uns anzusehen. Es ist später Nachmittag, als wir auf den Hof der Firma Eugen von Steffelin einbiegen. Und da, auf der Rampe vor seinem Lagerhaus, da steht unser Papa in seinem grauen Kittel, als sei er nie weggewesen. Wir lassen unsere Räder fallen, sind bei ihm, können nicht aufhören, uns zu umarmen und zu weinen und zu lachen. Da ist der Krieg für uns zu Ende.

lo