> Ellinor Wohlfeil: "Pack eine Tasche für den Notfall!"

Ellinor Wohlfeil: "Pack eine Tasche für den Notfall!"

Dieser Eintrag stammt von Ellinor Wohlfeil (1925-2022) aus Bonn, Juni 2019:

Mein Name ist Ellinor Wohlfeil. Ich wurde am 8. April 1925 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer „arischen“ Mutter  geboren. 1933, als Hitler an die Macht kam, wurde ich 8 Jahre alt. Ich habe also meine ganze bewusste Kindheit und meine Jugend hindurch die Verfolgung der Juden durch die Nazis erlebt. Zunächst konnte ich gar nicht begreifen, was da vor sich ging. Was sollten diese Schilder an den Geschäften, Hotels und anderen öffentlichen Gebäuden: „Juden raus“, „Deutsche kauft nicht beim Juden“, „Für Juden verboten“ u.a. Was war das eigentlich, ein „Jude“? Wenn ich meine Mutter fragte, sagte sie nur „Das verstehst du noch nicht“.  Und ich verstand auch nicht, was anders sein sollte an meinem Vater. Er war doch ein Mensch wie alle anderen Menschen. Wir lebten wie alle, feierten Weihnachten und Ostern und andere Feste, wie alle Kinder machte ich meine Hausaufgaben, hatte Angst vor Klassenarbeiten und schlechten Noten und freute mich über gute. WAS WAR ANDERS??

Wenn an besonderen Tagen in der Schule alle Kinder draußen vor dem Gebäude antreten mussten, um die Fahne zu hissen und den Führer durch Lieder und Sprüche zu ehren, dann war das für mich wie ein Spießrutenlaufen. Alle Kinder hatten ihre Hitlerjugenduniform an, nur ich als einzige stand in meiner normalen Alltagskleidung da. Die Uniform durfte ich ja nicht tragen, weil ich nicht in der Hitlerjugend war. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle anstarren würden, mit dem Finger auf mich zeigen, als sei ich eine Ausgestoßene, eine Gebrandmarkte. Beim Theaterspiel durfte ich nicht mitmachen, beim Sportfest bekam ich die Auszeichnung nicht, obwohl ich die nötige Punktzahl erreicht hatte. Manche Kinder riefen mir „Judas“ und „Itzig“ nach und drohten, mich zu  verprügeln. Aber trotzdem hatte ich auch Freundinnen. Die Freundschaften wurden jedoch  getrübt, als sie in die Hitlerjugend kamen. Da konnte ich nicht mehr mitreden, und sie hatten auch weniger Zeit für mich, weil sie mittwochs und samstags „Dienst“ hatten. Im Unterricht hetzten die Lehrer immer wieder gegen die Juden. Eines Tages mussten wir einen Spruch auswendig lernen: “Gott schuf den Weißen, Gott schuf den Schwarzen, aber der Teufel schuf das Halbblut“. Ich fragte meine Mutter, was das ist, ein „Halbblut“. Aber sie erklärte es mir nicht, sondern meinte nur, wenn ich älter sei, würde ich es verstehen. Meine Mutter wollte uns Kinder von all diesen schrecklichen Dingen fernhalten, denn sie machte sich große Sorgen. Aber es konnte nicht gelingen, auf der Straße und in der Schule bekamen wir ja doch alles mit.

Als ich älter wurde, hatte ich mich schließlich daran gewöhnt, dass ich eine Außenseiterin war und einen jüdischen Vater hatte. Es war eben so. Aber ich lebte unter einem ständigen inneren Druck, ich wurde abgelehnt, nicht zugelassen zum Leben meiner Mitmenschen. Einen Vater zu haben, der Jude ist, war offenbar ein Makel. Ich verstand auch, dass es Hitler und die Nazis waren, die die Juden verfolgten. Aber warum? Das war immer noch eine offene Frage.

1938 im Zusammenhang mit der so genannten “Reichskristallnacht“ wurde mein Vater  verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Als ich aus der Schule kam, war er nicht mehr da. Ich fragte meine Mutter, was er denn getan hatte? Sie sagte mit einer fremden, ausdruckslosen Stimme: „Er hat nichts getan“. Das war wieder so ein unerklärliches Ereignis. Er hatte nichts getan und wurde verhaftet?? Ich wagte nicht, weiter zu fragen. Nach einigen Wochen wurde er jedoch wieder frei gelassen. Erst später habe ich den Grund dafür erfahren: Weil es die Konzentrationslager in Polen zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht gab, waren die Lager in Deutschland so überfüllt, dass sie Häftlinge entlassen mussten. Die so genannten privilegierten Juden – das waren Juden, die einen arischen Ehepartner hatten oder einen arischen Elternteil – wurden wieder nach Hause geschickt. Meine Mutter holte meinen Vater vom Bahnhof ab. Ich war dabei, als er aus dem Auto stieg und bekam einen Schock. Sein Gesicht war eingefallen, der Kopf kahl rasiert und bedeckt mit vielen kleinen blutigen Stellen. Ich bekam Angst, mich packte das Grauen.

Später habe ich bei Eugen Kogon gelesen, dass es eine übliche Foltermethode war, den Juden die „Dornenkrone“ aufzusetzen, einen Metallkranz mit vielen kleinen Spitzen. Mein Vater hat nie etwas erzählt, das war den Häftlingen strengstens verboten worden.

1943 sollte mein Vater mit seiner 80-jährigen Mutter wieder in ein Konzentrationslager verschleppt werden. Das wäre endgültig gewesen. Sie haben sich beide das Leben genommen.

Den tragischen Tod meines Vaters habe ich nicht miterlebt. Ich war zu dem Zeitpunkt schon in Berlin, wo meine Mutter eine Privatschule ausfindig gemacht hatte, die bereit war, mich aufzunehmen. Ich war inzwischen 18 Jahre alt und hatte zwei Jahre vorher die Schule mit der mittleren Reife verlassen. Ich musste an meine Zukunft denken und einen Beruf erlernen. Den hatte ich mir allerdings nicht ausgesucht. Ich musste nehmen, was diese Schule anbot und machte eine Ausbildung zur chem.techn.Assistentin. Den Beruf habe ich später nie ausgeübt, aber in den schweren Jahren hat er mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich arbeitete als Spektralanalytikerin in einem Rüstungsbetrieb. Da kam eines Tages der Chef zu mir und sagte: „Ich werde Sie so lange behalten, wie es mir möglich ist, Sie sind unsere einzige ausgebildete Kraft. Aber wie lange ich das noch kann, weiß ich nicht“.  Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Kolleginnen, die in letzter Zeit so plötzlich verschwunden waren, sind das auch Verfolgte gewesen? Kurze Zeit später sah ich eine von ihnen bei Erdarbeiten auf der Straße. Sie trug den Judenstern. Mir blieb das Herz stehen. Das hätte auch ich sein können.

Das war zu der Zeit, als ich jeden Tag mit einer gepackten Tasche aus dem Haus ging. Meine Tante, bei der ich wohnte, hielt es für notwendig. Am 20. Juli war das Attentat auf Hitler gewesen, und es war damit zu rechnen, dass die Nazis sich an den Juden rächen würden. Es konnte sein, dass ich von der Straße weg verhaftet werden würde. Für den Fall war eine fertig geschriebene Karte in der Tasche, die ich in den Briefkasten stecken sollte, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte, damit sie Bescheid wusste. Mit einem mulmigen Gefühl verließ ich jeden Tag das Haus. Aber es kam nicht mehr dazu. Endlich ging der Krieg zu Ende, und die Naziherrschaft war Geschichte. Aber war sie es wirklich??

1945 haben viele Menschen zu mir gesagt: „Du kannst dich doch freuen. Du kannst jetzt frei leben. Es ist alles vorbei!“ Nein, es ist nicht alles vorbei, auch wenn es vorbei zu sein scheint. Kindheit und Jugend sind Phasen, in denen der heranwachsende Mensch sich entwickelt, seine Identität finden muss und ein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen. Ein junger Mensch, der unter solchen Verhältnissen aufwächst wie ich, der ist dazu nicht in der Lage. Er wird zutiefst verunsichert für sein Leben, hat nur ein schwaches Selbstwertgefühl, traut sich nichts zu und lässt sich von anderen bestimmen. Ich habe mein Leben lang immer wieder Depressionen gehabt. So etwas wie Psychotherapie für die Geschädigten  durch Krieg und Verfolgung gab es in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende nicht. Man war viel zu sehr auf den Wiederaufbau und die Verbesserung der Lebensumstände konzentriert. Der Gedanke an seelische Verletzungen wurde verdrängt. Eine Ärztin, die mir wirklich helfen konnte, habe ich erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts getroffen. Sie gab mir den guten Rat:“ Lesen Sie viel zu Ihren Problemen und schreiben Sie mal alles auf, was Sie erlebt haben“. Daraus sind drei Bücher geworden, mit denen ich auch öffentliche Lesungen mache. Ich habe oft geweint, als ich meine Bücher schrieb. Das waren wohl die Tränen, die ich als Kind nicht weinen konnte. Durch das Schreiben habe ich meine traumatischen Erlebnisse verarbeiten können.

lo