> Gisela Richter: Der Krieg kam nach Berlin

Gisela Richter: Der Krieg kam nach Berlin

Dieser Eintrag stammt von Gisela Richter (1924* ) aus Bremen , Juni 2008 :

Der Moloch Krieg zeigte immer deutlicher sein wahres Gesicht. Freuten wir uns anfangs über die Erfolge der deutschen Wehrmacht, steckten Fähnchen oder bunte Nadeln auf Landkarten, verehrten die Helden wie den U-Boot--Kommandanten Kapitän Günter Prien oder die Fluggeschwader Kommandanten Mölders und Gallant, die sich durch spektakuläre Einsätze hohe Auszeichnungen verdienten. Wie waren wir stolz, wenn wir in den Wochenschauen diese gut aussehenden deutschen Offiziere in ihren schicken Uniformen bewundern konnten, die so viel für unser Vaterland taten. Selbstverständlich hatte auch in der Heimat jeder sein Bestes zu geben, um sich unserer Soldaten würdig zu erweisen.

Es war die hohe Zeit der Pilotinnen Elly Beinhom und Hanna Reitsch; letztere war Testpilotin. - Ich las alles was mir darüber in die Finger kam und konnte nicht genug Bilder von Flugzeugkanzeln betrachten. Ich kannte die gängigen "Messerschmits", "Heinkels" oder "Jus". Mein Hang zum Außergewöhnlichen ließ den Wunsch in mir reifen, auch Testpilotin zu werden! - Leider teilten meine Eltern meine Begeisterung überhaupt nicht. Gelinde gesagt waren sie entsetzt. Sie machten mir mit Nachdruck klar, dass sie eine Ausbildung für mich finanziert hatten und damit wären ihre Möglichkeiten erschöpft. Ich hätte ja noch kleinere Geschwister und außerdem wäre das eine Verrücktheit!!! So blieb ich eine brave Buchhalterin und der Firma Pertrix erhalten. - Es war also nichts mit meinem vaterländischen Einsatz. Aber meine Bewunderung für Hanna Reitsch blieb.

So langsam merkte es jeder, dass sich der Krieg nicht in weiter Ferne abspielte, sondern allgegenwärtig war. Die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs wurde schlechter. Die Zeitungen, das Schreibpapier etc. war von dünner und miserabler Qualität. Stoffe und Garne ebenso und ganz besonders schlimm stand es um Schuhe. Im letzten Kriegsjahr gab es welche mit ganz dicken Holzsohlen, die zwar fußgerecht geformt waren, mit denen man sich aber leicht die Knöchel aufschrammte. Fröhliche Feste und Lustbarkeiten waren nicht mehr angebracht, Tanzveranstaltungen wurden verboten. Anfangs durften noch die Tanzschulen unterrichten, aber das war dann auch bald vorbei. - Vati hat mal versucht, mir einen Wiener Walzer beizubringen. Aber das war auch von mäßigem Erfolg gekrönt. Tanzen war ja auch gar nicht so wichtig. Das konnte man nach der siegreichen Beendigung des Krieges immer noch tun. Für Leute meines Alters standen Pflichten im Vordergrund. Unbeschwerte Fröhlichkeit stellte sich immer seltener ein.

Im November 1941 fielen die ersten Bomben auf Berlin. In anderen Städten hatte es schon so etwas gegeben, aber das war ja weit weg. Jetzt also auch hier! Es waren nur wenige Häuser zerstört und wir fuhren hin um das staunend anzusehen, was die bösen Engländer mit der friedlichen deutschen Zivilbevölkerung machten. Dass schon Bomben über England abgeworfen wurden, fanden wir in Ordnung. Denn es wurden ja nur "militärische Ziele" getroffen.

In Deutschland wurde jetzt ein großer Plan realisiert: Kinder und Mütter (soweit letztere nicht im Kriegseinsatz waren) aus den großen Städten zu evakuieren, um sie in Sicherheit zu bringen. Anfang 1943 hörte in Berlin der Schulunterricht auf und die Lehrer wurden mit den Schülern in "bombenfreie Gebiete" verlagert. - Da Mutti nicht berufs-tätig war, konnte sie den Transport begleiten und bei meinen Geschwistern Isolde und Ekkehard bleiben. Die Schule Driesener Str. kam nach Ostpreußen in die Gegend von Labiau/Tapiau.

Die Unterbringung war denkbar primitiv in Häuslerwohnungen o.ä., denn man wartete hier nicht auf die Großstädter und außerdem lebte man hier auch noch ganz anders. Mutti bekam so eine winzige Wohnung ohne Strom und fließendem Wasser, mit Plumpsklo außerhalb des Hauses. Das Trinkwasser holte man mittels Eimerchen aus einem kleinen Erdloch, das mit einem Gitterrost abgedeckt war. Als ich anlässlich eines Besuches damit konfrontiert wurde, drehte sich mir der Magen um. Denn in dem von mir geförderten Wasser waren Blätter, Spinnen und Käfer!! Aber das hat die anderen schon nicht mehr sonderlich erschüttert. Das Motto war: Hauptsache ohne Fliegeralarm leben und vor allem: Überleben! Da unsere Eltern schon immer guten Kontakt zu unseren jeweiligen Lehrkräften hatten, führte Mutti dies in Ostpreußen weiter und kochte für zwei Lehrerinnen mit. Das erfreute die beiden Damen sehr. Außerdem war es rentabler und Mutti hatte ein bisschen mehr Anschluss.

Zurück in Berlin blieben Vati und ich, denn wir hatten ja in unseren Berufen unsere Pflicht zu tun. Die Familie war getrennt. Aus Ostpreußen kamen Wunschzettel. Wir nahmen jeden Brief von Mutti mit gemischten Gefühlen entgegen, weil das Verpacken der gewünschten Sachen immer schwieriger wurde. Die bessere Wäsche hatte Mutti gleich mitgenommen. Wir behielten die "fadenscheinige", denn wir mussten ja immer mit Ausbombung rechnen. Ebenso verhielt es sich mit dem Hausrat. Trotzdem brachte jeder Brief neue Wünsche. Ich weiß noch, dass wir einmal lange überlegten, wie wir Schrubber und Besen auf den Weg bringen sollten. Ich glaube, dass der Transport so lange zurückgestellt wurde, bis einer von uns hinfuhr und das sperrige Gut mitnahm.

Die Fliegeralarme in Berlin nahmen zu und raubten uns den so nötigen Nachtschlaf. Der Luftschutzkeller war noch weiter ausgebaut worden mit einer "Luftschleuse" zur Sicherung bei evtl. Einsatz von Giftgas. Zum Nachbarhaus wurde ein Durchlass eingerichtet und lose durch Steine wieder verschlossen. Damit konnte bei Verschüttungen zum Nachbarhaus ausgewichen werden. - Früher gehörten zu jeder Wohnung ein Keller- und ein Bodenraum. Die Keller wurden verkleinert damit der Luftschutzraum entstehen konnte. Die Böden wurden ganz geräumt und die Holzverschläge völlig abgebaut, um evtl. Feuer keine Nahrung zugeben. Das war eine gute Aktion, wie sich später herausstellen sollte.

Alle diese Arbeiten wurden von den Männern der Hausgemeinschaft erledigt und förderten die Gemeinschaft. Auf dem Boden blieb die Waschküche (die über unserer Wohnung lag) und es gab einen Trockenboden, der aber nicht mehr abschließbar war. Gestohlen wurde aber auch nicht! - Überall auf dem Boden wurden Eimer mit Sand und Schaufel aufgestellt, um sich gegen Brände wehren zu können. Außerdem gab es Eimer mit Wasser, kleine Handpumpen und 'Feuerpatsche', das waren längere Stiele mit angenagelten Feudeln, um Flammen ausschlagen zu können. - Auch dies bewährte sich in unserem Haus. Frau Schumm war unsere Luftschutzwartin die dafür zu sorgen hatte, dass alle Gerätschaften vorhanden und intakt waren, und dass bei Alarm alle in den Keller kamen. Sie organisierte evtl. Einsätze, kurz, sie war für alles zuständig, was mit dem Luftschutz zu tun hatte.

In jedem Haushalt stand nahe der Tür das Notgepäck". Das war ein Köfferchen oder eine Tasche mit Papieren, Geld und ein paar Wertsachen, das mit in den Keller genommen wurde. Später schleppte man auch einiges immer mit sich herum. Da unser Haus ein Eckhaus mit drei Aufgängen war, gehörten so etwa 30--32 Haushaltungen mit jeweils 2-5 Personen dazu. Wir waren anfangs also ein ziemlich großer Personenkreis, der sich allmählich durch Einberufungen, Evakuierungen oder Betriebsverlagerungen reduzierte. Im Aufgang um die Ecke wohnte Herr Rohdenburg mit seiner Frau. Er war pensionierter Feuerwehrmann und hatte sich schon beim Bau der Luftschutzmaßnahmen besonders eingesetzt. Ihm verdanken wir es, dass wir ein Dach über dem Kopf behielten. Während wir alle bei Alarm in den Keller gingen (gehen mussten, das war Pflicht), stieg er sogar aufs Dach, um den Luftraum zu beobachten, Und erst, wenn es zu mulmig wurde, stieg er etwas weiter abwärts. Wir anderen verharrten im Keller, hörten das Bellen der Flak (Flugabwehrgeschütze), das anschwellende Pfeifen der fallenden Bomben und spürten die Detonationen. Bei einem dieser Angriffe kam der laute und energische Ruf von Herrn Rohdenburg: "Alle Männer raus! Es brennt!"

Vati und ich sausten nach oben. Das Getöse um uns herum nahmen wir gar nicht mehr wahr und griffen nach Sand und Wasser. - In jede Wohnung im 4. Stock war eine Brandbombe gefallen, die wir durch den schnellen Einsatz löschen konnten. Im Treppenhaus bei Herrn Rohdenburg war eine Phosphorbombe eingeschlagen, die ihren Inhalt zischend über die Stufen ergoss. Sie durfte nur mit Sand abgedeckt werden und die so schön glitzernde Masse musste später mühsam abgekratzt werden. Im Seitenflügel war eine Brandbombe in die Federbetten gefallen und die Leute haben kurzerhand das ganze Bettzeug durchs Fenster auf den Hof geworfen. Dadurch haben sie ihre Wohnung gerettet. Aber auf dem Hof sah es lange Zeit wie bei Frau Holle aus. Vati und ich hatten unsere Wohnung abgesucht, nichts gefunden und dann bei den anderen mitgelöscht. Als dann alles unter Kontrolle war, haben wir noch einmal den Boden und die Waschküche durchgesehen. Und da fanden wir dann die uns zugedachte Brandbombe! Sie war als Blindgänger im Betonfußboden der Waschküche stecken geblieben!!!

Ein fragwürdiges Vergnügen (!) war immer das "Verpappen" der Fenster. Das Glas war bald entzwei gegangen und neues gab es nicht. Es wäre auch unsinnig gewesen neue Scheiben einzusetzen. Aber es gab "Igelit", einen licht-durchlässigen Kunststoff, hart und spröde, der zugeschnitten und auf die Holzrahmen genagelt wurde. Da das Material unelastisch war, riss es beim nächsten Luftdruck wieder aus. Dadurch waren die Holzrahmen der Fenster bald von Nagellöchern durchsiebt.

Die einzige Zerstreuung bot damals das Kino. Die Eintrittspreise waren niedrig, sodass man sich öfter einen Besuch gönnen konnte. Und was heute die Tagesschau im Fernsehen ist, das war damals die Wochenschau im Kino, in der man alle Neuigkeiten erfuhr. Natürlich braun eingefärbt! Auch der deutsche Film (ausländische gab es ohnehin nicht) hatte eine eindeutige Tendenz: Hetze gegen die Juden (Jud Süß), Stärkung des Durchhaltewillens (Kolberg, Friedrich der Große etc.) oder es waren Unterhaltungsfilme mit großer Ausstattung und Marika Rökk, Zarah Leander usw. Ärgerlich war es nur, wenn vor dem Ende des Films schon wieder Alarm gegeben wurde. Dann rannten wir aus der Zauberwelt des Films in die harte Realität: In den Luftschutzraum! - Um zu wissen, wie der Film endete, konnten wir es am nächsten Abend wieder versuchen in der Hoffnung, dass der Alarm erst später oder gar nicht kam. Mitunter sah man einen Filmanfang ein paar Mal, bis dann endlich das Ende erreicht war.

Doch dann endete nach einem Jahr unsere schöne Zeit und sollte nie wiederkommen: Vati wurde eingezogen! Bis dahin war er kvH gemustert das bedeutete: "kriegsverwendungsfähig Heimat". Er war also bis dahin nicht für den Kriegseinsatz geeignet. Ob er darüber froh war, kann ich nicht sagen. Seine Konstitution und sein Gesundheitszustand ließen einen Einsatz bisher nicht zu. Aber jetzt, wo jeder, der noch auf zwei Beinen stehen konnte, einrücken musste, wurde er auch zum Soldaten gemacht. Und dazu noch zum "Flieger" (das war sein Dienstgrad). Diese Bezeichnung war blödsinnig, denn er hat nie ein Flugzeug von innen gesehen. Ich war sehr traurig, denn nun machte ich mir auch Sorgen um ihn. In seinen Feldpostbriefen schrieb er mir verschlüsselt, dass er Gefangenentransporte im Reichsgebiet begleitete. Das beruhigte mich etwas. Viel Zeit zum Nachdenken blieb auch nicht. Die militärische Situation hatte sich weiter zugespitzt. Die deutschen Truppen waren nur noch auf dem Rückzug, der uns aber als "Taktik" verkauft wurde. Da stellte der Reichspropagandaminister Goebbels im Berliner Sportpalast vor ausgesuchten Parteigenossen die schicksalsträchtige Frage: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Die Antwort ist hinlänglich bekannt. Keiner hatte eine Vorstellung, was das wirklich bedeutete. Nur soviel, dass wir dem drohenden Untergang entrinnen wollten und alle Anstrengungen nötig waren, um den "Endsieg" zu erreichen. Und das wollten wir natürlich. Denn was im anderen Fall sein würde, konnte sich keiner vorstellen und wollte es auch nicht. Die Schreckensmeldungen aus dem Osten waren hart genug.

Schon in den ersten Kriegsjahren wurde viel von Deutschlands Wunderwaffen gesprochen. Wir wussten ja, dass sie in der Versuchsanstalt Peenemünde entwickelt und erprobt wurden. Es waren die V-Waffen 1 und 2 (V = Vergeltung). Jetzt, 1944/45, wo sich die Lage so dramatisch verschlechterte, warteten wir sehnsüchtig auf den angekündigten Einsatz als Entlastung für das bedrohte Reichsgebiet. Aber er kam nicht! Ganz wenige V-2 Bomben wurden über England abgeworfen, den Krieg haben sie für uns nicht beeinflusst. Dafür nahmen die Luftangriffe auf Deutschland, und besonders auf Berlin, immer mehr zu. Es gab ja kaum noch Luftabwehr, dafür Alarme nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tage. Es war eine richtige Zermürbungstaktik. Ich habe die Fliegeralarme im Keller immer schwerer ertragen können. Die Nerven waren sehr angespannt. Vati war nicht mehr da und ich musste mit meiner Angst allein fertig werden. Man saß ja im Keller wie in einer Mausefalle, dem Bellen der Flakgeschütze und dem anschwellenden Pfeifen der fallenden Bomben hilflos ausgeliefert. Und wenn dann die Detonation kam, wenn das Haus bis in den Keller hinein erzitterte, stellte sich über das Ausgeliefertsein Beklommenheit ein. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, mich vorbildlich verhalten zu müssen, keine Angst oder Schwäche zu zeigen, sondern immer meine Pflicht zu erfüllen.

Im Radio wurde auf einer bestimmten Frequenz der "Drahtfunk" gesendet. D.h., waren feindliche Flugzeuge unterwegs, gab es ein Pausenzeichen das sich anhörte, als wenn man Möhren schrappt. Dann folgte die Meldung etwa so: "Feindlicher Bomberverband im Anflug auf das Reichsgebiet!" Nach einer Pause etwa: "Feindlicher Bomberverband im Planquadrat Gustav/Heinrich (G/H) im Anflug auf Emil/Nordpol usw." Für Berlin war immer G/H gefährlich. Wurden die Buchstaben genannt wussten wir, dass wir dran waren. Das Warnsystem wurde später noch "verfeinert". Gab es anfangs nur Alarm und Entwarnung, wurden die Signale jetzt auf "Voralarm" und "Vorentwarnung" ausgedehnt. Das bedeutete: Zweimal unterbrochener Heulton = Voralarm. Dann hatten wir immer noch die Chance, dass sich die Flugzeuge ein anderes Ziel suchten. In den Keller mussten wir aber schon jetzt. Folgte nach einer Weile der andauernde Heulton, dann gab es kein Entrinnen mehr. Ebenso verhielt es sich bei der Entwarnung: Wurde der gleichbleibende Signalton zweimal unterbrochen, dann hieß das: Vorentwarnung. Dann gab es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder es kam nach einiger Zeit die endgültige Entwarnung oder, es konnte durchaus noch einmal Vollalarm geben. - Dann kam entweder eine neue Angriffswelle, oder es waren noch einzelne Maschinen auf dem Rückflug, die noch ein paar übrig gebliebene Bomben abwerfen konnten.

Der Bombenkrieg war äußerst zermürbend, und das war wohl beabsichtigt. Für mich war der wenige und dann noch unterbrochene Schlaf eine Katastrophe. Mein sehnlichster Wunsch war es: Einmal unbeschwert hinlegen und die ganze Nacht durchschlafen können! - Nie hätte ich gedacht, dass Schlafen etwas so Köstliches sein könnte und wie der ganze Organismus leidet, wenn er nicht ausreichend zur Verfügung steht. Im Luftschutzkeller waren jetzt "Betten" angebracht. Das waren 1 x 2 m große Drahtgitter, die zu dritt übereinander mit Ketten an der Wand befestigt waren. Nicht jeder durfte so ein Bett nutzen, sie waren Berufstätigen vorbehalten. So bekam ich ein bestimmtes Bett zugeteilt und konnte bei Alarm schnell in den Trainingsanzug, besagtes Köfferchen in die Hand und Decke mit Kissen unter den Arm in Windeseile die vier Treppen plus einer Kellertreppe runter und mich auf meinem Bett wieder zusammenrollen. Nur wenn das Spielchen mit der Entwarnung begann, mussten wir wieder raus aus dem Keller. Untenbleiben durfte keiner. Unsere Luftschutzwartin, Frau Schumm, hatte so einige Probleme mit mir. In der Wohnung stand neben meinem Bett das Radio und war auf Drahtfunk eingestellt. Dann wurde ich schon mal durch die Luftlagemeldungen geweckt, schlief aber meist wieder ein. Dann kam der Alarm, den hörte ich, oder auch nicht, und konnte einfach nicht aus dem Bett kommen. Erst wenn die Flak anfing zu bellen, jagte ich angstvoll nach unten und wurde von Frau Schumm mit tadelndem Blick in Empfang genommen, denn sie hatte mich vom Hof aus schon ein paar Mal gerufen. Als sich mein Schlafentzug noch mehr auswirkte kam die nächste Phase. Dann stiefelte Frau Schumm die vier Treppen herauf und klingelte an der Tür. Ich meldete mich, gelobte zu kommen und . . . schlief wieder ein. - Im letzten Akt hatte Frau Schumm einen Schlüssel und kam bis an mein Bett, rüttelte mich wach und blieb so lange stehen, bis ich aus dem Bett war. Heute würde ich mich gern bei ihr entschuldigen für die Mühe, die sie mit mir hatte. Damals waren meine Nerven äußerst strapaziert und manchmal war es mir so egal was werden würde, nur schlafen wollte ich!!!

Als dann in späteren Jahren die Alarmsirenen in den Städten überprüft wurden, waren die Heultöne der wahre Horror für mich. Ich musste mich immer wieder sachlich mit ihnen auseinandersetzen. Diese schreckliche Zeit hat sicher nicht nur bei mir nachhaltige Spuren hinterlassen. Noch heute bin ich sehr ungern unter einer Brücke wenn ein Zug darüber fährt. Gewitter sind mir unheimlich und Feuerwerke aller Art brauche ich für mein Leben nicht mehr!!!

Wie gesagt, im Luftschutzkeller erlebte man die Angriffe hauptsächlich akustisch. Aber einmal war ich Zeuge eines schaurig-schönen Schauspiels. Es war der letzte Sonntag, den ich mit meinen Sportfreunden auf unserem Sportgelände in Oberschöneweide verlebte. Es war strahlend blauer Himmel mit Sonnenschein. Ein Bild des Friedens! Dann gab es Alarm, Wir waren ja in einem Außenbezirk und weitab von einem Bunker. Auf unserem schönen Platz hatte man inzwischen Splittergräben gezogen, die wenigstens etwas Schutz bieten sollten. Wir packten erst mal unsere Sachen zusammen und warteten ab. Doch dann kamen sie! Eine große Formation silbriger Fliegen so wirkten die Flugzeuge im Sonnenschein. Eben war noch sonntäglicher Frieden um uns und da oben flogen sie Tod und Verderben nach Berlin. Wir konnten die Maschinen noch längere Zeit verfolgen, sahen noch, wie die berüchtigten "Tannenbäume" gesetzt wurden und hörten das Bombardement. - Tannenbäume waren an kleinen Fallschirmen schwebende Leuchtbomben, die von vorausfliegenden Maschinen abgeworfen wurden, um den nachfolgenden Bombern das Zielgebiet abzustecken. Nicht nur unser Sportsonntag war damit zu Ende, sondern auch unsere wunderbare Sportgemeinschaft.

Eine - trotz aller Belastungen durch den Krieg - so fröhliche Zeit war unwiederbringlich dahin. Es war eingroßer Angriff auf Berlin und wir machten uns beklommen auf den Heimweg mit den bangen Fragen: Welche Verkehrsverbindungen würden intakt sein und was wird jeder zu Haus vorfinden? "Die schönste Nebensache der Welt" wurde für uns nun auch vom Krieg verschlungen!

Die Bombardements nahmen immer mehr an Aggressivität zu und fanden bei Tag und Nacht statt. Die Alliierten wollten den Krieg beenden und mit ihren Luftangriffen die vom Osten anrückenden Russen unterstützen. Die Arbeit in den Betrieben wurde immer komplizierter. Für sie gab es einen Warndienst der es uns ermöglichte, schon vor dem eigentlichen Fliegeralarm wertvolle Maschinen und wichtige Unterlagen rechtzeitig in die Sicherheitsräume zu bringen. Die eigentliche Arbeitszeit wurde immer kürzer, die Wege zum und vom Arbeitsplatz immer beschwerlicher. Als ich einmal nach einem Tagesangriff auf dem Heimweg war, gab es in meiner Richtung keine Verkehrsverbindung. Also hieß es laufen! - Ich hatte einen weiten Weg, wusste zwar die große Linie, musste aber immer wieder die Richtung ändern, weil ganze Straßenzüge brannten. Es war unheimlich! Der heulende Feuersturm schleuderte brennendes Holz, Papier, Pappe und Stoffe auf die Straße. Mauern stürzten ein und nirgends war Sicherheit. Als ich dann - nach endlos erscheinender Zeit - müde zu Haus ankam war hier, bis auf die rausgerissene Fensterabdeckung, alles in Ordnung. Aber ich hatte eine Rauchvergiftung und fühlte mich elend. Alles an mir roch nach Qualm und noch tagelang schmerzten mir die Luftwege.

Ich hätte mich gern trösten lassen, aber es war niemand da. In der Firma durften jetzt diejenigen, die so weite Wege hatten, später kommen und früher gehen, um noch einkaufen zu können. So war an effektives Arbeiten gar nicht mehr zu denken. Die russische Armee bereitete jetzt ihre letzte große Offensive vor. Sie sammelte sich östlich von Berlin bei den Seelower Höhen. Und dann kam der Tag, an dem wir vormittags in der Ferne dumpfes Grollen hörten, das wir erst nicht zu deuten wussten. Das Pertrix-Werk lag ja im Südosten Berlins, und das war die Richtung, aus der die Russen kamen. -Am nächsten Tag war das Grollen lauter geworden und wir konnten Gefechtslärm ausmachen. Uns allen war sehr beklommen zumute als uns Herr Matthes sagte, dass wir morgen erst mal zuhause bleiben sollten und abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Und jetzt musste doch endlich etwas geschehen! Wo war der Führer? Warum sagte er uns nicht, wie es weitergehen würde? Und wo blieben die gepriesenen V-Waffen?

Ich wusste nur eins: Die Russen kommen!!! Ihnen wollte ich nicht in die Hände fallen! Aber wohin sollte ich gehen? Wer kann mich beschützen??? Es war eine entsetzliche Situation. Am nächsten Tag war das Grollen auch in der Driesener Str. als Geschütz-donner zu hören. Ich kaufte alles, was ich auf meine Lebensmittelmarken bekommen konnte. - Papiere, Wertsachen und mein Bettzeug schaffte ich in unseren privaten Keller. Denn vielleicht konnten wir uns bald nur noch hier aufhalten. Die anderen Hausbewohner taten ähnliches und dann fanden wir uns im Luftschutzraum zusammen, weil der Gefechtslärm immer lauter wurde und auch schon Einschläge zu hören waren. Und hier packte mich das Grauen! Es waren ja nur noch alte Leute, hauptsächlich alte Frauen, da die anfingen laut zu jammern, auf die Knie fielen, um zu beten. Hier die lamentierenden Leute, da die anrückende russische Soldateska und ich allein dazwischen. N e i n , das hielt ich nicht aus! - Da kam mir ein Aufruf zu Ohren, dass Freiwillige für den Volkssturm gesucht wurden, Frauen wie Männer, um sich für das Vaterland einzusetzen. Da stand mein Entschluss fest: Nicht in Angst verharren, bis der erste Russe im Keller erscheint mit der eindeutigen Aufforderung: 'Frau komm!', sondern mich lieber noch irgendwo nützlich zu machen.

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