> Hannes Bienert: Kindheit in Beuthen (Oberschlesien)

Hannes Bienert: Kindheit in Beuthen (Oberschlesien)

Dieser Eintrag stammt von Hannes Bienert (1928-2015) aus Bochum, Juli 2013:

Ich wurde am 12. Februar 1928 in Beuthen (Oberschlesien) geboren, das ist heute Polen. Laut Stammbuch – meine Großmutter war streng katholisch, überhaupt an der polnischen Grenze waren sie alle sehr gläubig katholisch – hat man mir den Namen der zwei Schutzpatronen Johannes und Antonius gegeben. Mein Vater war Buchhalter.

Ich kam 1934 in die Volksschule in Beuthen. Wir waren damals mehr als 50 Schüler, was heute ein Phänomen ist. Heute spricht man ja von 17 Schülern, das wäre ideal in der Klasse und vor allen Dingen gab es damals auch die ganz strenge Trennung zwischen katholischer und evangelischer Volksschule. Oberschlesien war ein streng katholisches Gebiet, das war ja schon fast an der polnischen Grenze und die Evangelen waren in der Minderheit. Wenn man aus der Schule kam, dann provozierten die evangelischen Schüler uns immer. Die riefen dann über die Straße: "Katholikken haben Nikken, wenn se in die Bibel kikken!" Und dann kam es immer zu Schlägereien. Ich wurde auch in Beuthen in der Hyazinth-Kirche getauft, und wenn ich so daran denke, an die Volksschulzeit, da mussten wir jeden Montagmorgen einzeln aufstehen und wurden abgefragt, ob wir auch am Sonntag in der Kirche waren. Wenn der Lehrer gemerkt hatte, dass man flunkerte, hat er gefragt, was in der Predigt vorkam, und davor hatten wir wirklich Schiss.

Es gab auch noch die Prügelstrafe in der Schule und wir hatten Lehrer, die gingen ziemlich rau damit um. Ein Lehrer war so ein kleiner mit einer Fistelstimme, dem haben wir den Spitznamen Pieps gegeben. Manchmal ärgerten wir den so, dass er zwischendurch weglief und sich ein paar getrunken hatte. Der roch dann immer nach Alkohol, wenn er wieder kam. Der hatte Probleme, aber wenn er losschlug, dann nahm er das Lineal mit der scharfen Kante. Du musstest die Hand hinhalten, stramm stehen und dann gab es 5 oder 10 Schläge und das wurde dann sogar noch ins Klassenbuch notiert. Ob du in der Kirche warst oder nicht, das zensierten die Lehrer dann auch. Es gab eine schlechte Note, wenn du nicht da warst. Einmal hatten wir, der Vater war gerade arbeitslos, beim Onkel am Sonntag im Schrebergarten bei einem Fest ausgeholfen in der Bedienung, Vater und Mutter. Dadurch kam ich nicht zur Kirche. Ich hatte Angst zu lügen und wir kamen erst abends um 10 Uhr nach Hause. "Hoffentlich fragt er dich nicht, was in der Predigt war," habe ich gedacht und bin dann, weil wir an der Kirche vorbei kamen, schnell ausgeschert, hab die Klinke genommen, zweimal runter gedrückt und dann wieder schnell zur Mutter zurück. So konnte ich mit reinem Gewissen sagen, ja ich war an der Kirche, aber nicht in. So streng war das damals bei uns nämlich mit der katholischen Kirche.

Zu meinen Geschwistern kann ich nicht viel sagen. Wir waren insgesamt 5 Geschwister, ich war der älteste. An zweiter Stelle, 3 Jahre später, folgte meine Schwester Marianne. 2 Jahre nach Marianne kam mein Bruder Wolfgang und wieder 3 Jahre später Susanne, wir nannten sie "Susi". Sie war sehr sensibel und mitfühlend und heulte bei jedem Ereignis, wenn es traurig war. Wir Geschwister beschimpften sie dann als "Heulsuse". Als letztes Kind bekam meine Mutter 1945, kurz vor Kriegsende (mein Vater war noch als Soldat im Krieg) unsere Kleinste, die kleine Heidrun (Heidi), die später auf der Rückkehr nach Beuthen, nach der Flucht nach Steyr an der Enns, im Viehwagen den Hungertod starb. Durch Susannes Geburt im Dezember 1938 galten wir bei den Nazis als kinderreich, und meine Mutter bekam das Mutterkreuz in Bronze. Das war ein Kreuz mit Schleife; ab sechs Kinder gab es das in Silber; ab 8 Kindern in Gold. Für sogenannte "Kinderreiche" gab es besondere Vergünstigungen. Die Nazis haben, wenn du schon drei Kinder hattest und noch ein viertes Kind wolltest oder es unterwegs war, am Stadtrand Siedlungen gebaut. So ein halbes Siedlungshäuschen hatten wir dann auch zur Miete, als wir dann kinderreich waren. Wir hatten dann eine schöne Wohnung. So ein halbes Siedlungshäuschen hatte immer vier Eingänge, hier zwei, dann war ein ganzer Häusertrakt, und am Ende wieder zwei. Das war eine schöne Zeit. Ein Garten war auch dabei. Das war damals viel wert, wenn du einen Garten hattest. Denn es gab alles auf Lebensmittelkarten, oft hatte man nichts zu "Fressen". Ich hab Mama auch ein paarmal gehört, dass sie statt Essen "Fressen" sagte. "Lass das so, Hannes. Wir haben das deshalb so gesagt, weil das ein richtiger Fraß war, manchmal."

Großartige Ereignisse vor dem Kriegsausbruch gab es eigentlich nicht. Auf der Seite meiner Großmutter, sie hatte eine Schwester, die eine Heringsräucherei hatte, waren alle Marktfrauen. Und deswegen fuhr ich als Kind in den großen Ferien immer auf die Märkte mit. Der Verkaufsstand war vorne mit einer Plane zu. Ich musste dann mit einer Bierflasche nach Tengelmann und für die 10 Pfennig Pfand eine Flasche Öl holen gehen. Dann saß ich da als 6-7 Jähriger unter dem Tisch, weil ich mit der Oma mitgefahren war und machte Kisten mit Bückling und Sprotten auf. Mit dem Pinsel übermalte ich die dann immer mit Öl. "Ganz frisch! Ganz frisch!" rief die Oma dann zu den Kunden. Ich war ein Rowdy. Ich war schon überall bekannt. Ich fiel mal die Steintreppen der alten Sparkasse herunter und schlug mir ein Loch in den Kopf, oder ich hatte sonst irgendetwas. In jeder Stadt war ich schon bekannt. Ich ging dann immer schnell zur Feuerwehr zum Verbinden. "Da kommt er ja schon wieder!" Hieß es dann jedes Mal, ich war Stammkunde. Das war auch so noch in Beuthen.

Beuthen lag ja an der polnischen Grenze. An der Grenze war ein Freibad und an der anderen Seite des Freibads ging die Böschung hoch. Oben auf der Böschung waren die Grenzsteine, da ging die polnische Grenzpolizei auf und ab. Davor war hohes Gras, und am späten Nachmittag kamen dann Schmuggler, die Waren über die Grenze schmuggelten. Die füllten Maggi in Schweinsblasen und schmuggelten das nach Polen. Wenn die dann Butter von uns in Beuthen nach Polen schmuggelten, oder etwas anderes, dann kriegten wir Kinder das spitz. Die brachten das ja nachts rüber. Also nach Sonnenuntergang, so gegen 18-19 Uhr, versteckten die schon die Sachen in der Nähe der Grenze im Schilf, damit die dann nachts schnell daran kamen, um Schwupp die Wupp, wenn die Grenzposten vorbei waren, über die Grenze zu entkommen. Zu Hause hatten wir ja auch wenig zu "fressen", auf gut Deutsch gesagt, und wir beobachteten die Schmuggler dann im Schilf. Wir klauten denen die Hälfte der Schmuggelware und brachten die dann nach Hause, damit die Mutter ein Stück Butter hatte. Ich war dann ganz stolz, der Familie wieder ein Stück über die Runden geholfen zu haben.

Mit meinen 3 Geschwistern musste ich mich morgens, wenn Wasser heiß gemacht und die Waschschüssel auf einen Ständer gestellt wurde, waschen. Ich kriegte dann morgens 50 Pfennig und musste noch schnell, bevor ich zur Schule ging, das Frühstück holen. Es gab für die 50 Pfennig 4 Brötchen, die kosteten das Stück 5 Pfennig, ½ Liter Milch, der kostete 10 Pfennig, das waren dann zusammen 30 Pfennig. Dann gab es noch aus so einem Fass Vierfruchtmarmelade, das war so ein Gematsche, da war alles durcheinander drin. Davon kriegte ich in ein Pergamentpapier ½ Pfund Marmelade für 10 Pfennig. Und für die 10 Pfennig dann, die übrig waren, musste ich noch ins Zigarettengeschäft. Da gab es in so einer kleinen Packung Zigaretten. Es gab zwei Sorten, 4 Lloyd oder 4 "Schwarz-Weiß" bekam ich für das Geld. Also wir kriegten Milch und ein Brötchen und die Mutter hatte 2 Zigaretten für sich und 2 für den Vater.

Da mein Vater arbeitslos war, musste meine Mutter auch noch was dazu verdienen. Sie ging dann in die nicht bezogenen Neubauten um zu putzen. Dort waren noch keine Fenster und Türen drin; da wehte durch das noch nicht fertig gestellte Haus der eiskalte Wind. Sie musste von den Stufen den Dreck mit dem Spachtel herunter kratzen, im Sommer oder Winter. Es zog, es war eiskalt. Doch weil so viele Leute arbeitslos waren, war meine Mutter froh, dass sie diese Stelle hatte. Wenn du mal weg bliebst, war das fast so schlimm, wie heute. Auf die Arbeit wartete schon ein anderer. Manche Frauen machen heutzutage aus Geburt oder Schwangerschaft den totalen Krankheitsfall, obwohl es ein ganz normaler Vorgang ist. Es wird oft auch übertrieben. Meine Schwester Susanne, die Susi sagten wir, ist am 30. Dezember geboren. Dann kam ja der 31., Silvester, dann kam der 1. Januar, der war Feiertag, der 2. Januar war wieder ein normaler Arbeitstag. An dem ging meine Mutter, am dritten Tag nach der Geburt, wieder in das eiskalte Haus, um zu arbeiten. Wir hatten damals eine ganz beschissene Zeit, und die Menschen nahmen keine Rücksicht auf ihre Gesundheit. Sie hatten Angst, wenn sie nicht hingegangen wären, wäre die Arbeitsstelle weg; genauso wie heute. Das bedeutete wieder ein paar Pfennige weniger für die Familie, für die Kinder. Das war so in der Zeit.

Samstag, das war bei uns immer ein Feiertag. Es gab eine Brotschüssel, die war aus Bast, aus Stroh. Aus Sauerteig und Roggenmehl hat die Mutter ein Brot geknetet und in die Brotschüssel gepackt, das musste ich herüber tragen zum Bäcker, Sylvester Gmyrek, auf der Scharleierstraße. Am Nachmittag wurde ein rundes Holzfass aufgestellt in der engen Küche. Eine Decke diente dabei als Vorhang. Meine Mutter kochte am Ofen Wasser in dem großen Kessel. Dann mussten wir nackt in die Wanne und wurden abgeschrubbt. Danach musste ich zum Bäcker gehen, das Brot holen. Dann saßen wir da frisch gebadet, züchtig am Tisch, das frische Brot duftete am Wohnungstisch und dazu gab es Krakauer. Das war so eine polnische Knoblauchwurst, die wurde dann heiß gemacht. Jeder hatte so einen kleinen Zipfel, so ein Stück. Das war für uns dann der Feiertag und eine schöne Erinnerung trotz des Krieges. Dieser Samstag war wie ein Ritual. Die ganze Woche gab es nichts zu essen, aber dafür hatte die Mutter gesorgt: diesen Samstag, dieses selbst gebackene Brot und dieser ganze Ablauf.

Ich weiß damals, als wir in Ostpreußen einen sehr kalten Winter hatten, kamen russische Kriegsgefangene und mussten die Straßen vom Schnee befreien und Eis von den Bürgersteigen hacken. Sie guckten in jede Mülltonne, weil sie nichts zu essen hatten. Ostpreußen war ja direkt an der Küste, da gab es auch viel Fisch bei uns. Der Fisch hat auch Abfälle: Kopf, die Gedärme und so. Die waren in Papier eingepackt in der Mülltonne gelandet. Heute sehe ich noch, wie die armen Schweine – die Kriegsgefangenen – vor lauter Kohldampf das raus holten und die Gedärme von dem Fisch aßen, so runter schlangen. Auch heute schimpfe ich noch mit den Leuten, wenn ich bei uns in die Mülltonne gucke und schwupp, da liegt schon wieder ein halbes Brot drin, das zu hart ist. So etwas gab es gar nicht bei uns. Bis heute kann ich nicht begreifen und verstehen, was heutzutage an Lebensmitteln weggeschmissen wird, zum Beispiel Kinder, die ihr Pausenbrot wegschmeißen.

lo