> Hans Mendgen: Als Luftwaffenhelfer in Salzgitter 1943/44

Hans Mendgen: Als Luftwaffenhelfer in Salzgitter 1943/44

Dieser Eintrag von Hans Mendgen (1926-2023) aus Rosenfeld vom März 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb "Was für ein Leben!"

Für mich ging im Herbst 1943 in Blankenburg (Harz) die schöne Zeit als normaler Schüler endgültig vorbei, denn unsere komplette Klasse kam als Luftwaffenhelfer in die Nähe von Braunschweig zur Fliegerabwehr. Dort sollte zwar der Unterricht weitergehen, denn einige Lehrer wurden ebenfalls mit uns abkommandiert. Letztendlich aber war alles nur noch pro forma, zum richtigen Lernen kam man doch nicht mehr.

Unsere Flak-Batterie befand sich gemeinsam mit noch vielen anderen am Rande eines riesigen Industriekomplexes bei Watenstett-Salzgitter und sollte ihn gegen Luftangriffe schützen. Als wir dort am Bahnhof aus dem Zug stiegen, fingen wir allesamt auf einmal an zu husten. Wir kamen ja aus dem Harz, wohin man sogar Kranke der guten Luft wegen schickt, und jetzt atmeten wir hier ein Gasgemisch ein, das aus vielen hundert Schornsteinen ungefiltert in die Umwelt geblasen wurde. Über zwei Wochen brauchten unsere Bronchien, bis sie sich daran gewöhnt hatten.

Neben den Schulstunden wurden wir an den Kanonen und den verschiedenen Geräten zur Ortung und Erfassung feindlicher Flugzeuge ausgebildet. Vom heutigen Stand der Technik gesehen, waren es allerdings vorsintflutliche Maschinen. Erstaunlicherweise waren sie immerhin so wirksam, dass dieses Werk den ganzen Krieg über nie ernsthaft von den feindlichen Bomben beschädigt wurde. Der Aufwand, der zum Schutze dieser, "Hermann-Göring-Werke" getrieben wurde, war aber auch beträchtlich. Ich erinnere mich einer Nacht, als ein Anflug der englischen und amerikanischen Bombenflugzeuge auf das Werk offensichtlich wurde. Wir hatten bereits Flugzeuge im Visier, als völlig unerwartet und für uns zunächst auch unverständlich ein striktes Schießverbot erfolgte. Plötzlich sahen wir, in gar nicht so großer Entfernung, aber deutlich außerhalb der Werkanlagen, so genannte Christbäume aufleuchten. Das waren Schwärme von Leuchtraketen, die an Fallschirmen langsam herabsanken. Normalerweise, wurden sie von einer Vorhut der angreifenden Bomber abgeworfen, um den nachfolgenden das Zielgebiet zu markieren. Hier jedoch waren sie von einer Anlage neben den Fabriken vom Boden aus hoch geschossen worden und simulierten so ein Angriffsziel. Automatisch feuernde Flakgeschütze täuschten dort heftige Abwehr vor und die Flugzeuge luden ihre gesamte Bombenlast auf einem leeren Gelände ab. Die HGW, wie man diese Rüstungswerke abgekürzt titulierte, waren mal wieder unbeschadet davongekommen und die Kommandeure der Bombergeschwader konnten daheim eine "erfolgreich" abgeschlossene Aktion melden.

Abgesehen von den interessanten technischen Geräten, die wir zu Beginn kennen lernten, lebten wir eigentlich hauptsächlich von Urlaub zu Urlaub. Natürlich versuchten wir das Bestmögliche aus unserer Lage zu machen. Wir hatten auch einige Sonderrechte, um die uns die richtigen Soldaten beneideten. Aber letztendlich waren wir mit unseren 16 bis 17 Jahren noch Kinder und benahmen uns oft auch so. Unser Batteriechef, ein von unserem Standpunkt aus alter Hauptmann, fand dauernd Gründe, sich über uns aufzuregen. Er fühlte sich immer verpflichtet, uns in seinem Sinne erziehen zu müssen. Als er uns einmal dabei überraschte, als wir Roulette spielten, glaubte er uns natürlich nicht, dass es um Knöpfe und nicht um Geld ging (selbstverständlich hatte er recht, er kannte seine Pappenheimer) und wähnte uns schon dem Spielerteufel verfallen.

Ein anderes Mal stellte er auf einem Kontrollgang während der Putzstunde fest, dass wir unsere Uniformen mit Kaffee reinigten. Dass wir ein Nahrungsmittel zum Reinigen verwendeten, erregte ihn dermaßen, dass wir größte Mühe hatten, ihn wieder zu beruhigen. Erst nach dieser Aufregung, die uns völlig überzogen schien, klärte uns ein Leutnant über den Grund seiner leichten Erregbarkeit auf: Unser Hauptmann war während eines Einsatzes an der Ostfront mit seiner Einheit in einen Hinterhalt geraten und hatte, wie durch ein Wunder, als einziger überlebt. Er fühlte sich aber danach so schuldig am Tod der Leute, die ihm anvertraut gewesen waren, dass er anfing, überall nach ihnen zu suchen, man musste ihn gewaltsam davon abhalten. Daraufhin, war er dann eine längere Zeit in psychiatrischer Behandlung und eigentlich nicht mehr kriegstauglich. Aber auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde er dann wenigstens bei der Heimatflak eingesetzt. Seit wir diese Vorgeschichte kannten, brachten wir mehr Verständnis für ihn auf, und unser Verhältnis besserte sich zusehends. Mit der Zeit wurde er uns ein väterlicher Freund und niemand ärgerte ihn mehr.

Zu den Sonderrechten der Luftwaffenhelfer gehörten zwei wichtige Dinge, die uns vieles erträglicher erscheinen ließ. Das eine war der Wochenendurlaub, der uns fast jeden Monat zustand, und das andere, dass wir nach einem nächtlichen Fliegeralarm Anspruch auf längeres Schlafen hatten. Gerade dieses Ausschlafen brachte aber den normalen Dienstplan völlig durcheinander. Damals gab es bei der Fliegerabwehr ein Prinzip, das unserer Ansicht nach nur am grünen Tisch entstanden sein konnte: Wenn irgendwo im Reichsgebiet ein unbekanntes Flugobjekt registriert wurde, mussten sofort alle Flakstellungen, vom äußersten Norden bis tief in den Süden in Alarmbereitschaft versetzt werden. Dort, an ihren Geschützen und den sonstigen Geräten, mussten die Mannschaften nun ausharren, bis endlich feststand, was da wohin geflogen war. Das dauerte manchmal Stunden, und so lange standen auch wir uns die Beine in den Bauch, verfolgten aufmerksam die Meldungen in den Funkgeräten und sehnten uns nach unseren Betten.

Alles das, war aber schlagartig vergessen, wenn es hieß: "Mendgen, sie dürfen heute in Urlaub fahren". Gleich nach Dienstschluss wurde das bisschen gepackt, was ich mitnehmen wollte, hauptsächlich schmutzige Wäsche, und gemeinsam mit den anderen Glücklichen fuhr ich per Omnibus zum Bahnhof. Jetzt hieß es nur noch hoffen, dass keine großen Verspätungen unsere Heimfahrt behinderten. Zweimal mussten wir umsteigen bis nach Halberstadt. Gegen 10 Uhr, wenn unser Zug dort einfuhr, suchten wir mit den Augen gespannt den gegenüberliegenden Bahnsteig ab. "Sind noch Leute in festlicher Kleidung unterwegs?" Wenn das zutraf, dann war unser Blankenburger Zug noch da. Der wartete zwar allabendlich auf die Theaterbesucher, die um diese Zeit von der letzten Vorstellung kamen, aber leider nie auf unseren Zug, der war ihm komischerweise egal.

War der Zug noch da, konnten wir noch am gleichen Abend zu Hause ankommen, aber einmal war er halt doch schon abgefahren, weil die Theatervorstellung etwas früher zu Ende war, - da standen wir nun. "Der Warteraum ist geheizt, ihr könnt die Nacht dort verbringen", verkündete uns der Rotbemützte. Wir aber fingen an zu rechnen, 6 km schaffen wir pro Stunde, vielleicht auch sieben und das mal vier. Wenn wir stramm marschierten, könnten wir die 28 Kilometer bis Blankenburg in dieser Zeit geschafft haben und um 2Uhr daheim sein. Der nächste Zug würde erst morgen Früh um sieben fahren. Bei wunderschönem Mondschein war es dann zwar eine anstrengende, aber schöne Nacht. Unsere Rechnung ging auf, wir waren pünktlich um zwei Uhr zu Hause, wo ich die ganze Familie aus den Federn scheuchte. Alle wollten ja wissen, was denn passiert sei, wenn ich mitten in der Nacht heimkomme.

Schon im Frühjahr 1944, ging meine Zeit als Luftwaffenhelfer zu Ende, denn ich erhielt meine Einberufung zum "Reichsarbeitsdienst" nach Stendal.

lo