> Hans Mendgen: Im "Heim für auslandsdeutsche Kinder" in Hohenelse bei Rheinsberg

Hans Mendgen: Im "Heim für auslandsdeutsche Kinder" in Hohenelse bei Rheinsberg

Dieser Eintrag von Hans Mendgen (1926-2023) aus Rosenfeld vom März 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb "Was für ein Leben!"

Als Siebenbürger Sachse bin ich u.a. in Kronstadt aufgewachsen auf. Zum Abschluss eines jeden Schuljahres fand dort das Honterusfest statt. Es war ein historisches Fest zu Ehren unseres Reformators, der gleichzeitig der Begründer des siebenbürgischen Schulwesens war. Dieser Tag wurde immer mit viel Pomp gefeiert und begann mit einem riesigen Festzug. Angeführt von den Schülern der Oberklassen des Gymnasiums in studentischem "Flaus", zogen die Schüler aller deutschen Schulen festlich gekleidet, oft in den farbenfrohen alten Trachten, in geschlossener Formation quer durch die ganze Stadt hinaus zur Honteruswiese.

Ehe aber das Zeichen zum Abmarsch gegeben werden konnte, wiederholte sich jedes Jahr das gleiche Ritual, nämlich die endlosen Gesuche und Debatten darüber, ob der Umzug nun stattfinden durfte oder nicht. Die rumänischen Nationalisten auf dem Bürgermeisteramt versuchten immer wieder ihn zu verhindern, da sie ihn als eine Demonstration gegen den Staat auffassten. An keinem anderen Tag im Jahr nämlich wurden die Straßen der Stadt so ausschließlich von den Sachsen dominiert wie an diesem. Schließlich aber führten die intensiven Verhandlungen doch jedes Mal zum Erfolg, und der Dirigent der Schülerkapelle konnte das Zeichen zum Abmarsch geben. Nach den obligaten Ansprachen und den Wettkämpfen vielerlei Art konnte sich jeder, seinem Alter sowie seinem Geldbeutel entsprechend, amüsieren und die zahlreichen Angebote an appetitlichen Speisen und Getränken genießen. Das allerbeste aber war der frisch gebackene Baumstriezel, nur vor diesem Stand bildeten sich Schlangen.

1940 war mein letztes Schuljahr in Kronstadt, denn meine Schwester und ich kamen nach Hohenelse bei Rheinsberg in ein "Heim für auslandsdeutsche Kinder" (eine Wortschöpfung der NS Zeit). Die Eltern der Zöglinge waren in der Regel Staatsangestellte und Kaufleute, die im Ausland arbeiteten und ihre Kinder in deutsche Schulen schicken wollten. Jetzt, während des Krieges, erweiterte sich der Kreis der aufgenommenen Kinder noch um einige andere Fälle. Wir hatten sogar uneheliche Kinder von Deutschen aus dem Ausland, die nach hiesigem Gesetz zwar deutsche Staatsbürger waren, aber kein Wort Deutsch sprachen. Die Mütter hatten sich um finanzielle Hilfe an das deutsche Konsulat in ihrem Heimatland gewandt und von dort wurden die Kinder dann, oft mehr oder weniger gewaltsam, einfach nach Deutschland geholt.

Letztendlich zählten Hanna und ich ja auch in diese Kategorie. Sowohl ihr als auch mir machte man von der Heimleitung gleich in den ersten Tagen den Vorschlag, zunächst ein so genanntes Pflichtjahr (für sie), beziehungsweise Landjahr (für mich) zu absolvieren. Hanna als Helferin in der Abteilung für Kleinkinder und ich in der Landwirtschaft des Hauses. Bei mir stieß dieses Ansinnen allerdings auf heftigsten Protest. "Uns hat man auf dem Konsulat versprochen, wir dürften hier weiter auf das Gymnasium gehen", räsonierte ich vehement und ließ mich durch keinerlei Argumente abweisen. Da wir ja den deutlich erkennbaren siebenbürgischen Akzent hatten, vermeinten die offensichtlich völlig inkompetenten Angestellten des Heimes, dahinter ein mangelhaftes Deutsch zu erkennen. Die Tatsache, dass diese Leute an meinen Deutschkenntnissen zweifelten, empörte mich dermaßen, dass ich umso energischer darauf bestand, die Oberschule weiterhin zu besuchen.

Schließlich erklärte man sich dazu bereit, vorausgesetzt, ich würde eine Schreib- und Leseprüfung bestehen. Das war nun allerdings das geringste Problem für mich, und offensichtlich zähneknirschend erlaubte man mir, mich am Morgen des ersten Schultages nach den Osterferien den anderen Schülern anzuschließen. Die nächst gelegene Oberschule befand sich in Neuruppin, der Kreisstadt, zu der auch Rheinsberg gehört. Dorthin mussten wir nun jeden Tag fahren. Morgens um 5 Uhr war die Nacht für uns schon vorbei. Es hieß ganz schnell sich waschen, anziehen und frühstücken. Pünktlich um dreiviertel sechs, fuhr doch schon der hauseigene Bus zum Bahnhof nach Rheinsberg, wo unser Zug, oft schon zischend, auf uns wartete. Asthmatisch zockelte die Lokomotive mit ihren wenigen Waggons von Haltepunkt zu Haltepunkt bis Herzberg, wo wir Richtung Neuruppin umsteigen mussten. Die häufigen Wartezeiten auf diesem Bahnhof waren schuld daran, dass wir fast regelmäßig zu spät zur Schule kamen.

Weil wir ja auch sonst immer erst spät zu unserem Mittagessen kamen, erhielten wir jeden Morgen ein reichlich bemessenes Stullenpaket, das uns die Wartezeit zu überbrücken half. Einmal hatten wir eine besonders lange Pause nach dem Umsteigen in Herzberg. An den Gleisen nebenan arbeitete ein Trupp französischer Kriegsgefangener. Einer unserer Mitschüler sprach perfekt französisch, so dass wir mit ihm als Dolmetscher bald in ein lebhaftes Gespräch mit den Leuten verwickelt waren. Wir waren ja alle im Ausland aufgewachsen, betrachteten darum Menschen anderer Nationalität durchaus als gleichwertig und hatten keinerlei Hemmungen oder gar Vorurteile. Die Kriegsgefangenen legten ihre anfängliche Zurückhaltung bald ab und berichteten unter anderem, dass sie nur sehr wenig zu essen bekämen. Das wunderte uns zwar sehr, aber spontan fiel uns ein, dass wir ja genügend dabei hatten. Schnell sammelte einer die bereitwillig gespendeten Brote ein und wir versprachen, morgen wieder etwas mitzubringen.

Dieses Versprechen konnten wir aber leider nicht einhalten, denn es kam etwas für uns völlig überraschendes dazwischen: Am selben Abend bestellte nämlich der Heimleiter alle Fahrschüler zu sich in sein Büro und hielt uns einen langen Vortrag über unser verbotenes Verhalten den deutschen "Erbfeinden" gegenüber. Gemeint waren die französischen Kriegsgefangenen! Unsere Gegenargumente, die wir zum Beispiel aus der Lektüre von Büchern bezogen, in denen der besiegte Feind ehrenhaft behandelt wurde, fruchteten nichts. Solche Verbrüderungen mit dem Feind wurden uns für die Zukunft strickt verboten. Leider konnten wir auch nie erfahren, wer dieses Ereignis so haarklein an höchster Stelle gemeldet hatte. Aber wir hatten immerhin dazu gelernt und wurden von da an vorsichtiger. Leider haben wir damit einen großen Teil unserer unbekümmerten Kindheit verloren. Ich wurde nicht nur vorsichtiger, sondern auch aufmerksamer beim Betrachten der Dinge, die um mich herum vorgingen. Und leider ereignete sich so mancherlei, was mich immer wieder an der Unfehlbarkeit des Nationalsozialismus zweifeln lies.

Zu Beginn unseres Aufenthaltes in Hohenelse trafen Hanna und ich uns noch fast jeden Tag, denn wir wohnten ja auf dem gleichen Gelände. Aber eines Tages mussten alle Buben, die zur Schule gingen, nach Schlaborn umziehen. Schlaborn war früher ein Gutshof, der aber schon vor vielen Jahren zum Kinderheim umgebaut worden war. Das ehemalige Herrenhaus, ein reizendes Schlösschen, war nun unser Zuhause, nur zwei Kilometer von Hohenelse entfernt und ebenfalls an dem schönen Rheinsberger See gelegen. Leider mussten wir nun noch früher aufstehen, um rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen. In der Schule von Neuruppin hatte ich den Anschluss bald gefunden, nur mit dem Leben im Heim hatte ich so meine Probleme. Zu Hause war ich eigentlich immer recht verwöhnt worden und das war keine gute Voraussetzung für diesen, dem Militär nachempfundenen Drill, der uns Buben zu zackigen Hitlerjungen erziehen sollte. Eigene Entscheidungen kamen nicht mehr in Frage, Befehle entgegennehmen und Jawoll sagen, war jetzt die Devise.

Nach den großen Sommerferien bekamen wir einen neuen Erzieher. Mit diesem Neuen hatten wir endlich ein "unverschämtes" Glück. Mit Doktor Kuhlmann kam der erste wirkliche Pädagoge zu uns. Wie dieser Mann das anstellte, ist mir bis heute noch ein Rätsel. Von der allerersten Minute an hatte er nicht nur den Respekt und das Vertrauen, sondern auch die Liebe aller gewonnen! So hatte ich mir immer einen Vater vorgestellt und jetzt durfte ich das ein paar Monate lang selbst genießen. Unser Doktor, wie wir ihn liebevoll nannten, war nicht verheiratet und kam aus Brasilien. Er war Doktor der Geologie und hatte dort sehr erfolgreich in seinem Beruf gearbeitet bis der Krieg ausbrach. Als überzeugter Patriot konnte ihn jetzt nichts mehr so fern der Heimat zurückhalten. Er nutzte die erstbeste Gelegenheit die sich bot, um nach Deutschland zu kommen und meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst. Kuhlmann hatte als junger Offizier schon am Ersten Weltkrieg teilgenommen und war nach Kriegsende als Hauptmann der Reserve entlassen worden. Nun hoffte er, seiner Heimat auch diesmal wieder "als Soldat, dienen zu können". Zu seiner großen Enttäuschung wurde er aber wegen seines Alters nicht mehr zum Wehrdienst angenommen. Stattdessen kam er zu uns nach Hohenelse-Schlaborn, wo er selbstlos wie ein guter Vater, bis lange über die Kriegs- und NS Zeit hinaus, für seine Kinder sorgte.

Als der Krieg Anfang des Jahres 1945 zu Ende ging, hatte Doktor Kuhlmann aus Berichten durchziehender Flüchtlinge aus den Ostgebieten Deutschlands von den Schikanen und Gräuel durch erfahren, der die Zivilbevölkerung durch Angehörige der russischen Armee ausgesetzt waren und beschloss daher, die letzten dreißig Kinder, die noch mit ihm im Heim lebten, dieser Gefahr nicht auszusetzen. Jedes Kind bekam einen Rucksack, und bepackt mit dem Nötigsten kamen sie irgendwie schließlich bis nach Dänemark und von dort aus verständigte Kuhlmann seine Schwester, die in Schweden lebte. Diese Frau muss ein ähnlich großes Herz gehabt haben wie ihr Bruder. Außerdem, was für die damalige politische Situation besonders wichtig war, hatte sie wohl einen ungewöhnlich guten Draht zu den Behörden. Denn sie konnte ihrem Bruder umgehend eine Schiffspassage nach Schweden ermöglichen, zusammen mit allen dreißig Jungen!

Diese Kinder, die schon seit Jahren keine Nachrichten, geschweige denn irgendwelche Zuwendungen von ihren Eltern erfahren hatten, waren ja Vollwaisen. Was sollte jetzt mit ihnen geschehen, wo sollten sie bleiben? Fragen über Fragen kamen auf die Kuhlmanns zu. Aber sie ließen sich nicht abschrecken, gemeinsam gingen sie ans Werk und verschafften einem großen Teil ihrer Schutzbefohlenen Adoptions- oder Pflegeeltern. Als sechs der Buben nach über einem Jahr noch keine neue Heimat gefunden hatten, verschaffte der Doktor für sich und diese sechs einen Platz auf einem Frachtschiff Richtung Brasilien. Dort angekommen, konnte er bald wieder in seinem Beruf arbeiten und außerdem auch für seine Kinder so lange sorgen, bis alle bei deutschen Brasilianern untergekommen waren. Alle haben es zu etwas gebracht und blieben ihrem Doktor Zeit seines Lebens, wie einem Vater eng verbunden.

Lieber Leser, sicher kommt dir das alles recht kitschig und einer Schnulze ähnlich vor, wahrscheinlich vermutest du, dass jetzt Dichtung und Wahrheit ganz schön vermischt worden sind. Aber, es hat sich tatsächlich alles so abgespielt, und wie es der Zufall manchmal so will, stammen meine Informationen aus drei voneinander völlig unabhängigen Quellen. Über sein aufopferndes Verhalten in dieser turbulenten Zeit erfuhr ich erstmals Jahre später von einem der Jungen, die bis zum Schluss mit ihm zusammen gewesen sind. Ich selbst verließ das Heim schon im Spätherbst 1940. Zunächst kam ich auf eine Schule in Liegnitz in Schlesien, seit 1941 lebte ich mit meiner Mutter, Großmutter und Schwester in Blankenburg im Harz.

lo