> Hans Mendgen: Rekrutenausbildung in Dänemark 1944/45

Hans Mendgen: Rekrutenausbildung in Dänemark 1944/45

Dieser Eintrag von Hans Mendgen (1926-2023) aus Rosenfeld vom März 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb "Was für ein Leben!"

Nach meiner Zeit im Reichsarbeitsdienst musste ich mich Anfang August 1944 zur Rekrutenausbildung in der Wehrmacht in einer Kaserne in Wien-Kagran melden. Unsere Grundausbildung spielte sich hauptsächlich in den nahe gelegenen Donauauen ab. Dort erhielten wir infanteristischen Drill, der bei dem schönen Wetter in diesem Jahr viele Schweißtropfen kostete. Glücklicherweise blieb Wien in dieser Zeit von Bombardierungen verschont. Während der trotzdem häufigen Fliegeralarme wurde die Stadt zwar von vielen Bombergeschwadern überflogen, die aber ihre todbringende Last an anderer Stelle abluden. Erst kurz nach unserer Abreise im späten Herbst war die Kaserne mit ihrem ganzen Umfeld Ziel eines vernichtenden Bombenangriffs.

Ende Oktober 1944 wurden wir verlegt. Weil Bahnlinien und Bahnhöfe tagsüber häufig das Ziel feindlicher Luftangriffe waren, konnten wir erst spät abends in unsere Viehwaggons verladen werden. Da wir voraussichtlich mehrere Tage unterwegs sein würden, versorgte man uns noch reichlich mit Verpflegung... und los ging's. Mit vier Waggons traten wir dann unsere lange Reise nach Dänemark an, wo unsere Ausbildung fortgesetzt werden sollte. Es sollte mehrere Tage dauern, bis wir in Dänemark, auf der Insel Fünen, am Ziel waren.

Inzwischen erfuhren wir von unserem Unteroffizier, was für ein Schlaraffenland uns dort erwartete. In Dänemark gab's nämlich damals noch keine Lebensmittelkarten. Er empfahl uns, gleich an der Grenze dänisches Geld einzutauschen, damit wir bei der ersten sich bietenden Gelegenheit einkaufen konnten. Als dann doch noch vor der Grenze ein längerer Aufenthalt kam, erbot sich der offizielle Begleiter des Transports, uns beim Umtausch behilflich zu sein. Er sammelte also das Geld, das wir umtauschen wollten, jetzt schon bei uns ein, damit wir dann an der Grenze schneller zu unseren "Kronen und Öre" kommen konnten. Alle fanden das sehr hilfsbereit von dem Mann und es klappte offensichtlich auch vorzüglich. Schon an der Zollstation befanden sich ein paar Läden, und wir deckten uns mit den wunderbarsten Sachen ein, die man alle schon seit Jahren in Deutschland gar nicht, oder wenn überhaupt, so doch nur noch auf Marken bekam: Weißbrot, Kuchen, Schokolade, Käse und, und, und...Viel Geld hatten wir ja gar nicht, also mussten wir sowieso aufhören mit kaufen, und glücklicherweise fuhr der Zug auch bald weiter.

Naiv wie wir alle waren, (fast alle, wie wir später merken werden!) akzeptierten wir unbesehen den Umrechnungsfaktor, den uns der hilfsbereite Feldwebel beim Geldumtausch präsentiert hatte. Einer aber, es war der Sohn eines Kaufmanns, erkundigte sich am Wechselschalter nach dem amtlichen Kurs. Prompt stellte er eine deutliche Differenz zu dem uns so hilfsbereit offerierten Faktor fest und verlangte die Rückzahlung des Unterschieds. Dummerweise stritt jener eigensinnige Geschäftemacher aber ab, uns übervorteilt zu haben, und hatte sich damit ein echtes Problem eingehandelt. Natürlich wurde er angezeigt, und im weiteren Verlauf der Nachprüfung stellte es sich dann heraus, dass er diese Aufbesserung seiner Löhnung schon praktizierte, seitdem er als Zugbegleiter abkommandiert war, und das war er schon seit fast einem Jahr. Üblicherweise kam so ein Fall vor ein Kriegsgericht und hätte schreckliche Folgen für den Betroffenen haben können. Unser Batteriechef löste diese Angelegenheit jedoch auf eine viel unauffälligere Art. So ganz beiläufig erfuhren wir schon am nächsten Tag, dass sich unser ehemaliger Zugbegleiter "freiwillig" an die Ostfront gemeldet habe und bereits dorthin unterwegs sei.

Wir Neuankömmlinge bezogen auch hier wieder Baracken, die aber den Vorteil hatten, keine Wanzen zu beherbergen. Sie gehörten zu einer ganzen Anzahl von Flakbatterien, die den Rand eines riesigen, noch im Bau befindlichen Militärflugplatzes säumten. Offensichtlich war dieses umfangreiche militärische Objekt von den Engländern und Amerikanern noch nicht entdeckt worden. Unsere Flugzeuge starteten deshalb von hier allenfalls bei Nacht, um ja nicht aufzufallen, und selbst wenn wir von ganzen Geschwadern feindlicher Bomber überflogen wurden, gaben wir keinen Schuss ab, um unsichtbar zu bleiben. Und es war beängstigend, wie viele über uns hinweg nach Deutschland hinein flogen!

Jetzt Ende 1944, Anfang 1945 war der Krieg in ein Stadium eingetreten, wo kein vernünftiger Mensch mehr an den "Endsieg" glaubte. Auch bei unseren Vorgesetzten merkten wir, dass sie ihre Ansichten nur mühsam kaschierten. Man tat seine Pflicht, verhielt sich unauffällig und ließ es sich, seinen finanziellen Verhältnissen entsprechend, gut schmecken. Mit dieser Auffassung war man bisher immer gut gefahren und in der Regel beschäftigte man uns ja fortwährend, so dass man sich schon aus Zeitmangel wenig Gedanken machen konnte. Wenn ich allerdings Nachtwache hatte, kamen sie zwangsläufig, dann konnte man sich ihrer nicht erwehren: Was kommt nachher, was ist nachher, wo ist nachher, gibt's überhaupt noch ein nachher?

Alle Zukunft liegt im Dunkel, aber dunkler als in diesem Winter war's nicht mehr vorstellbar. Ich erinnere mich, wie ich in solchen Nächten, während ich meine Runden drehen musste, die verschiedensten Möglichkeiten in Gedanken durchspielte, die mir denkbar schienen. Aber all meine Phantasie reichte nicht aus, mir ein Leben nach diesem Krieg vorzustellen. Gemeinsam mit vertrauenswürdigen Kameraden diskutierten wir darüber, was uns wohl erwartete, aber es waren fruchtlose Debatten, und höchst gefährlich waren sie außerdem. Auf die Idee, so etwas Explosives aufzuschreiben, wäre ich nie gekommen, aber was denkbar ist, geschieht auch. Einer unserer Kameraden führte tatsächlich ein Tagebuch, in dem er die Gedanken unserer Gespräche schriftlich festhielt. Glücklicherweise erwähnte er keine Namen, denn sonst wäre die Katastrophe total gewesen. So blieb er der einzige Betroffene. Eines Tages nämlich wurde er während einer Unterrichtsstunde plötzlich zum Hauptmann zitiert, von wo er nicht wieder bei uns auftauchte.

Zunächst erfuhren wir lediglich, dass er im "Bau" sei. Darauf konnten wir uns aber überhaupt keinen Reim machen, was für ein Grund lag denn dafür vor? Von seinem Tagebuch wussten wir damals noch nichts. Beim Umherstreifen in der Umgebung eines Gebäudes,

das als "Bau"(Gefängnis) benutzt wurde, hatte ich erst kürzlich einen verdeckten Zugang zu dessen vergitterten Fenstern auf der Rückseite entdeckt. Schon am ersten Abend, nachdem bekannt geworden war, wo sich unser Kamerad befand, schlich ich gemeinsam mit noch zwei anderen dorthin. Ohne Mühe fanden wir sogar das Fenster seiner Zelle und konnten uns leise mit ihm unterhalten. Erstaunlich gefasst erzählte er, was passiert war: der für die nationalsozialistische Schulung zuständige Feldwebel hatte in unserer Abwesenheit die Stuben inspiziert und dabei auch die privaten Bereiche nicht ausgelassen. Prompt war er auf das Tagebuch unseres Zimmergenossen gestoßen und hatte natürlich auch darin gelesen. Unverzüglich sei er damit zum Hauptmann gerannt und habe verlangt, den Schreiber wegen Defätismus (Schwarzseherei) vor ein Kriegsgericht zu stellen. Man muss nämlich wissen, dass "nicht-an-den-Sieg-zu-glauben", eine strafbare Handlung war!

Sogar während der Anwesenheit unseres Kameraden, dort im Büro des Hauptmanns, sei es zwischen den beiden zu heftigem Streit gekommen. Unser Chef wollte auch diesen Fall so lösen, wie seinerzeit bei dem Mann mit dem falschen Wechselkurs. Auch unseren Tagebuchschreiber wollte er "freiwillig" an die Ostfront schicken. Der Feldwebel war aber strikt dagegen, es müsse hier ein Exempel statuiert werden, verlangte er, und wenn der Herr Hauptmann sich weigere, sehe er sich gezwungen, auch ihn anzuzeigen. Noch zweimal besuchten wir unseren Freund, dann war er verschwunden. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Offiziell tischte man uns eine plausibel klingende Geschichte auf und ging zur Tagesordnung über.

In die Zeit unseres Aufenthaltes in Dänemark fiel auch Weihnachten und Neujahr. An beiden Terminen fanden Veranstaltungen statt, die von uns Lehrgangsteilnehmern selbst organisiert wurden. Besonders an Sylvester gab es dann zahlreiche heitere Darbietungen von talentierten Kameraden, die uns den Ernst dieser Zeit vergessen ließen. Wir waren allerdings immer froh, wenn unser Hauptmann entweder gar nicht erschien oder wenigstens frühzeitig das Lokal verließ. Er konnte offensichtlich nie abschalten, ich habe ihn nicht einmal lachen sehen. Und darum konnte auch nie Ausgelassenheit aufkommen, solange er dabei war.

Ursprünglich hätten wir im Anschluss an diesen Lehrgang auf eine Offiziersschule kommen sollten, aber in der gegenwärtigen Situation waren andere Prioritäten maßgebend. Fronteinsatz war angesagt, denn von allen Seiten näherten sich die Kampflinien zusehends dem deutschen Reichsgebiet. Unser Hauptmann hatte Listen auslegen lassen, in denen die Orte der Einheiten vermerkt waren, bei denen man sich zum Frontdienst melden konnte. Seine Absicht war, uns die Möglichkeit zu verschaffen, unsere unmittelbare Heimat zu verteidigen. Oder andersherum betrachtet, gleich daheim zu sein, wenn alles aus war!

Aber so eine Version las man allenfalls zwischen den Zeilen, selbst wenn sie tatsächlich so gemeint gewesen sein könnte. Zu dem Zeitpunkt lag der Harz, die Gegend, die ja jetzt meine Heimat war, glücklicherweise so weit weg vom Schuss, dass ich mich bei der Wahl meines zukünftigen Fronteinsatzes von anderen Argumenten leiten lassen musste. Ich hatte ein paar Kameraden, die am Rhein in der Nähe Mannheims zu Hause waren, und denen schloss ich mich an. Wir waren dann eine Gruppe von etwa 15 Leuten, die sich dorthin gemeldet hatten. Ohne Kommentar wurde das auch genehmigt. Auf dem Bahnhof bestiegen wir gemeinsam mit einem älteren Unteroffizier, der uns bis zu unserem Ziel begleiten sollte, einen Viehwaggon mit der Aufschrift: Mannheim.

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