> Hermann Lohmann: Kämpfe bei Balga am Frischen Haff 1945

Hermann Lohmann: Kämpfe bei Balga am Frischen Haff 1945

Dieser Eintrag stammt von Hermann Lohmann (1925-2016) aus Deutsch Evern, Februar 2010.

Unsere "Panzer-Division Hermann Göring" hatte noch zu Jahresbeginn 1945 Einsätze in Ostpreußen, wo bald eine sowjetische Großoffensive begann. Am 14.1.1945 schrieb ich denn schon: "Liebe Eltern! Ihr meint, dass ich vielleicht in Kürze Urlaub bekomme. Nein, daran glaube ich nicht mehr, denn gestern hat der Iwan wieder 4 Std. getrommelt (Artillerietrommelfeuer) und wer weiß, ob es ihm doch noch gelingt durchzubrechen. Dann ist wieder Urlaubssperre." Und fünf Tage später: "Urlaub werde ich wohl sobald nicht bekommen, denn der Iwan greift von allen Seiten an und wer weiß ob er uns nicht noch eines Tages abschneidet, denn wir liegen gerade in einem Sack."

Zu diesem Zeitpunkt waren die russischen Armeen bereits im Norden bei Schloßberg und im Süden bei Goldap durchgebrochen und hatten die mit Waffen sehr gut ausgerüstete 2. Division des Fallschirmpanzerkorps H.G. einfach liegen lassen, um sie einzuschließen und so kampflos zum Rückzug zu zwingen. Das war eine kluge Taktik der Russen.

Mein Brief an meine Eltern vom 1.2.1945 lässt dann, wenn auch mehr zwischen den Zeilen, auf katastrophale Zustände in Ostpreußen schließen. Ich erinnere mich an das Flüchtlingselend auf den schneeverwehten, eisglatten Straßen bei bis zu 30° Kälte. Ich schrieb:
"Liebe Eltern! Heute ist endlich mal wieder Gelegenheit, dass ich Euch eine Nachricht von mir senden kann. Es muss ziemlich schnell gehen, denn um 9 Uhr geht die Post mit dem Sanitätsflugzeug weg und das ist die einzige Gelegenheit. Hier ist jetzt allerhand los, wie Ihr Euch wohl vorstellen könnt, wenn Ihr den Wehrmachtsbericht gehört habt. Ihr wisst wohl sicher, dass wir hier eingeschlossen sind, jedenfalls so fast bis auf einen kleinen Küstenstreifen. Mit dem Essen ist es noch immer recht gut. Nur das Brot wird etwas knapper, aber sitzt nicht zu Hause und macht Euch Sorgen, denn mir geht es immer noch sehr gut. Mit dem Wetter geht es auch sehr gut. Vor ein paar Tagen hatten wir fast 30° Kälte, dann gewaltiges Schneetreiben, so dass man schon gar nichts mehr sehen konnte und heute, am 1. Februar fängt es an zu tauen. Hoffentlich gibt es Matschwetter, dann kann der Iwan nicht so schnell voran. Nun wünsche ich Euch alles, alles erdenklich Gute und bleibt alle gesund und munter. Herzliche Grüße Euer Sohn Hermann.
Gott sei mit uns in aller Not und Gefahr!"

Dieser Brief war damals wohl eine Art Abschiedsbrief, denn wir befanden uns an der Front in Ostpreußen in einer sehr gefährlichen Lage. Wir waren in Schneesturm und Kälte auf vereisten Straßen auf dem Rückzug. Unser Lkw wurden wegen Benzinmangels zu mehreren hintereinander gehängt und so von Dieselfahrzeugen weitergeschleppt. So bewegten wir uns mühsam in Richtung Zinten. Wir wussten damals nicht, welches Schicksal uns erwarten würde.

Unterwegs irgendwo in Ostpreußen auf einer verschneiten, eisglatten Straße entdeckte Fritz Speckmann aus Schulzenhof bei Insterburg in einem Flüchtlingstreck plötzlich seinen Vater. Er zog in dem Elendszug bei Schneetreiben und Eiseskälte einen Kinderschlitten hinter sich her, auf dem er seine letzte Habe verstaut hatte. Es war wirklich ein Wunder, dass der Sohn seinen Vater in diesem winterlichen Chaos zigtausender von Flüchtlingen, die sich in riesigen Trecks in Richtung Küste des Frischen Haffs und Ostsee bewegten, zufällig gefunden hat. Die Familie war bereits früher geflüchtet. Der Vater musste noch beim Volkssturm bleiben und war dadurch ganz alleine auf der Flucht. Dem Sohn Fritz gelang es nun, seinen Vater erst einmal bei uns aufzunehmen. Als an der Front etwas Ruhe eintrat, konnte Fritz seinen Vater, nachdem Tauwetter eingesetzt hatte, an der Küste auf ein Schiff bringen. Die gesamte Familie konnte sich retten.

Am 21.2.45 schrieb ich an meine Eltern eine so genannte "Ostpreußen-Feldpost"-Karte:
"Liebe Eltern! Gestern bekamen wir diese Karten, um Euch in der Heimat möglichst schnell ein Lebenszeichen zu senden. Ihr braucht Euch um mich keine Sorgen zu machen, denn es geht mir sehr gut! Herzliche Grüße Euer Sohn Hermann."
Diese Karte mit einem markigen Spruch von Hitler und der Parole "Tapfer und Treu!" wird wohl besonders meine Mutter sehr traurig gemacht haben. Meine Mutter wird bitterlich geweint haben, als sie die Karte erhielt. Die Tränenspuren sind heute noch zu erkennen.

In Folge der Großoffensive der Russen am 13. März 1945 und der gewaltigen Übermacht des Gegners an Menschen (fast 1:10) und Material wurden wir immer weiter in Richtung Frisches Haff und Ostsee zurückgedrängt. Ich kann mich daran erinnern, dass wir im Bereich Ludwigsort lagen und uns dort aus Baumstämmen einen Bunker gebaut haben. In diesem Bunker bekamen wir alle vorbeugend eine Tetanusspritze gegen Wundstarrkrampf.

Ich sah irgendwann vom Haffufer aus die Elendszüge der Flüchtlingstrecks über das trügerische Eis des Frischen Haffs ziehen. Jeden Tag und auch nachts kamen russische Flugzeuge und warfen Bomben auf die Zivilbevölkerung und beschossen sie mit Bordwaffen. Auf dem Eis waren die Menschen den Angriffen schutzlos ausgeliefert. Das Eis war übersät mit toten Menschen, toten Pferden, zerbombten Fluchtwagen und verstreutem Hausrat. Es war ein furchtbarer Anblick.

Irgendwann im März 1945 taute das Eis auf dem Haff plötzlich auf und eines Morgens war das ganze schreckliche Elend verschwunden. Die Fluten des Haffs deckten es "gnädig" zu. Das Wasser des Haffs vermittelte fast einen friedlichen Anblick. Wenn wir nicht mit Grauen hätten daran denken müssen, was darunter verborgen war. Aus dem Raum Ludwigsort kamen wir irgendwann innerhalb des Kessels nach Heiligenbeil. Dort auf dem Flughafen haben wir uns eingegraben. Von Heiligenbeil aus haben wir uns damals über Gr. Hoppenbruch schließlich nach Balga zurückgezogen. Das war unsere letzte Frontstellung in Ostpreußen. Links und rechts eines Hohlweges zum Frischen Haff südlich Balga lag unsere Einheit. Schnell gruben wir uns ein, um uns vor dem dauernden Beschuss durch Artillerie und Stalinorgeln (Raketengeschosse) sowie den Bomben der russischen Schlachtflieger zu schützen.

Die sowjetische Artillerie war in der Lage, Punktfeuer auf jedes einzelne Ziel zu richten. Die Straße von Gr. Hoppenbmch und Keimkallen war bei Tage überhaupt nicht mehr passierbar und war ständig mit Wehrmachtsfahrzeugen verstopft. Der Frontverlauf war etwa folgender: Am 24. und 25. März 1945 drangen die sowjetischen Truppen von Heiligenbeil bis nach Rosenberg vor, und besetzten die Haffküste bis nach Follendorf. Der Küstenstreifen von Balga bis Kahlholz blieb zunächst noch in deutscher Hand. Die Zerstörung von Balga begann am 24. März 1945 nachmittags. Durch den Beschuss mit Brandgranaten und Phosphorbomben gerieten alle Gebäude in Brand, den der starke Weststurm zu einer Riesenfeuersbrunst anfachte. Was noch stehen blieb, wurde am 25.März 1945 durch Flieger- und Artilleriebeschuss vernichtet. Am 26. März schwieg die feindliche Artillerie, dafür griffen den ganze Tag Bomberverbände unsere Stellungen an und verwandelten den letzten kleinen, von uns besetzten Geländestreifen in eine Mondlandschaft. Als der Abend nahte, gab es keine organisierte Abwehr mehr. Es gab keine Einheit, nur noch Überlebende, die versuchten ein Deckungsloch zu finden oder zu graben.

Mit der Dunkelheit kamen die Nachtflugzeuge, die Rollbahnkrähen, wie sie genannt wurden und belegten mit gut gezielten Bomben die Haffküste. Als ich mein Deckungsloch westlich von Gr. Hoppenbruch verließ, um in Richtung Balga nach etwaigen Überlebenden der 14. Pionier-Kompanie HG zu suchen, rauscht eine Lawine von Granaten heran (Stalinorgel) und ließ die Erde wie bei einem Erdbeben erzittern. Ein schwarzgelber Qualm, in dem für Sekunden taumelnde Menschen sichtbar wurden. Vier der taumelnden Menschen kamen auf mich zu, ich schnellte hoch und zerrte sie zu mir in die Deckung. Es waren Flüchtlinge aus Zinten, die mich mit leeren Augen anstarrten, unverständliche Worte murmelten und ehe ich es verhindern konnte, aufsprangen und in Richtung Balga davonliefen. Sie hatten die nervliche Belastung nicht ausgehalten. Die ganze Gegend am Haff, die von den russischen Batterien wie auf einem Übungsgelände unter genaues Feuer genommen werden konnte, wurde zum Massengrab. Die vielen Toten sie wirkten wie Steine und niemand dachte an eine Bestattung.

Ich habe mein Deckungsloch damals rechts des Hohlweges unmittelbar an der oberen Kante des Steilufers gegraben. Ich hatte mir damals trotz aller Hektik überlegt, dass ich dort am sichersten wäre. Alle Artilleriegeschosse und Bomben, die unmittelbar links von mir oder direkt vor mir einschlagen würden, könnten mir nicht gefährlich werden, denn sie würden vor der Explosion die Steilhänge hinabstürzen. Nur unmittelbar hinter mir auf etwa 70° des Umkreises, also knapp ¼ des umgebenden Geländes konnten mir Artilleriegranaten, Stalinorgelgeschosse und Fliegerbomben gefährlich werden. Die von See her anfliegenden russischen Schlachtflieger konnte ich rechtzeitig sehen und vor den Bordwaffen schnell in Deckung gehen. Dieser strategisch gut gelegene Punkt im Gelände hat mir sicherlich geholfen, mein Leben zu retten.

Am 7.7.1996 habe ich mein altes Deckungsloch am Frischen Haff in Nordostpreußen noch einmal aufgesucht. Es war aufgrund der strategisch einmaligen Lage schnell gefunden. Es ist zwar zugewachsen und etwas zusammengefallen, aber es existiert noch und war noch 50 Jahren etwa knietief.

Ein weiterer Besuch meines Deckungsloches erfolgte am 22.8.2000 gemeinsam mit dem Redakteur des Deutschlandfunks Herrn Dr. Henning von Löwis of Menar nach der Einweihung des Deutschen Soldatenfriedhofes in Pillau. Darüber erschien im November 2000 ein Bericht im "Rheinischen Merkur" (Siehe auch das Hörbuch: "Der weite Weg zurück nach Balga).

Am 25.3.1945 wurde durch die Heeresführung endlich erlaubt, den völlig sinnlos gewordenen Kampf gegen die riesige Übermacht des russischen Gegners in Balga aufzugeben. Es wurde die Rettung über das Frische Haff erlaubt. Es hieß schließlich: "Rette sich wer kann!"

lo