> Hermann Panne: Erinnerungen 1939-1948

Hermann Panne: Erinnerungen 1939-1948

Dieser Beitrag stammt von Hermann Panne (*1937) aus Freiburg, 06.06.2000.


Ich wurde im Juni 1937 als fünftes Kind unserer Eltern in einer südwestfälischen Kleinstadt geboren. Mein Vater war im selben Ort Zahnarzt.

Meine erste Erinnerung, die indirekt mit dem bevorstehenden Krieg zusammenhängt, habe ich von einem Ferienaufenthalt unserer Familie im Sommer 1939 an der Ostsee. Dort wurden die Touristen eingeladen, ein stattliches Kriegsschiff zu besichtigen. An diese Besichtigung, die natürlich Propagandazwecken diente und die Kriegsbereitschaft schüren sollte, kann ich mich noch verschwommen erinnern. Den Kriegsausbruch kurz darauf habe ich nicht in meiner Erinnerung, die Einquartierung deutscher Soldaten in unserem Haus nur schwach. Von den folgenden Jahren bis zu meiner Einschulung im Frühjahr 1944 kann ich nur berichten, daß ab und zu eine gewaltige Bomberflotte der Alliierten in großer Höhe unsere Stadt überquerte. Diesem Schauspiel mit dem damit verbundenem Motorengesumm fand ich sehr eindrucksvoll. Unserer Stadt blieb glücklicherweise eine Bombardierung erspart, trotz größerer Industrieanlagen.

1944 wurde es brenzliger. Immer häufiger gab es Fliegeralarm, so daß wir oft nachts aus dem Schlaf gerissen wurden und hinab in den Keller stürzten. Allmählich wurde uns klar, daß der Krieg sich gegen uns wendete. Ich bin nachts oft heulend aufgewacht, so daß mich meine Mutter trösten mußte. Sieh mal, sagte sie dann, da ist doch noch der Onkel Max, der Onkel Heinrich, der Onkel Karl, der Onkel Heinrich ( Brüder von Vater und Mutter als Soldaten ). So getröstet konnte ich dann weiterschlafen.

Ende des Jahres wurde der Schulunterricht abgebrochen, da die Gefahr eines Bombardements zu groß wurde. In dem Zusammenhang muß ich eine Geschichte einflechten. Mit fünfzehn war Maria als Haushaltshilfe und Köchin bei meiner Familie eingestellt worden. Sie kam aus der kinderreichen Familie eines Kleinbauern, der am Stadtrand einen Hof bewirtschaftete. Unser Haus in der Stadt lag ganz nah an einer wichtigen Bahnlinie. Da meine Mutter befürchtete, diese Bahnlinie könne bombardiert werden, bat sie die Familie Dümpelmann um Unterschlupf. Dieser wurde gewährt, und ich habe kurzzeitig mit drei von meinen Geschwistern und meiner Mutter dort gelebt. Tragischerweise war es auch deswegen möglich, weil zwei von Marias Brüdern und ihr Mann im Krieg getötet wurden. Das war ein ganz schwerer Schlag für die Angehörigen.

Der Krieg ging dem Ende entgegen. Im April 1945 stand das amerikanische Militär vor den Toren der Stadt und begann mit Artilleriebeschuß. Die Stadt sollte durch den Volkssturm bis auf den letzten Blutstropfen verteidigt werden. Ein mutiger Bürger, ein angesehener Industrieller, versuchte, diesem Wahnsinn Einhalt zu bieten und ging dem amerikanischen Militär mit der weißen Fahne entgegen. Er hatte zum Glück Erfolg, und unsere Stadt trug fast keinen Schaden davon. Zu Recht ist diesem mutigen Mann heute im Stadtzentrum eine Gedenktafel gewidmet.

Zu diesem Zeitpunkt hockten wir angespannt und verängstigt im Keller. Es war nicht nur die Angst vor dem Beschuß, sondern auch Angst vor Gewalttaten von befreiten Zwangsarbeitern. Meine Mutter schlug vor, daß wir alle Puppen in den Arm nehmen sollten, um so rachelüsterne Gemüter zu besänftigen. Wir blieben glücklicherweise verschont. Vermutlich auch deswegen, weil meine Mutter und Maria den in der Nachbarschaft arbeitenden Zwangsarbeitern immer mal wieder Essen zugesteckt hatten, was natürlich streng verboten war. Wir waren sehr erleichtert, als die ersten amerikanischen Soldaten im Keller auftauchten, um nach versteckten deutschen Soldaten zu suchen. Der Alptraum war beendet.

Die kommende Zeit fand ich recht spannend. Wir konnten uns ohne Furcht frei bewegen. Die amerikanischen Soldaten, die einen Teil der vornehmeren Häuser okkupiert hatten, waren zu uns Kindern ganz freundlich und schenkten uns bisweilen Kaugummis oder Schokolade.

Daß man jetzt "guten Tag" sagte und nicht "Heil Hitler" war für mich keine einfache Anpassung. Als ich meinem ehemaligen Lehrer auf der Straße begegnete und ihn grüßte, hob ich den Arm und sagte immerhin guten Tag. Er belehrte mich, daß man den Arm jetzt nicht mehr heben müsse.

Nur zu Beißen und Brechen gab es wenig. Wir hatten glücklicherweise einen großen Garten neben dem Haus mit vielen Obstbäumen. Neben dem angebauten Gemüse versuchten wir mit Kleinvieh, die Kost aufzubessern. Hinzu kam ein Milchschaf, das wir Kinder hüten mußten, sowie ein "schwarzes" Schwein. Bei Schlachtung desselben mußte die Hälfte an die Behörde abgegeben werden. Das wollten wir natürlich vermeiden. Aber eines Tages ist das Tier aus seiner versteckten Umzäunung ausgebrochen und tobte durch den Garten. Im Zahnarztkittel, voll Panik, kam mein Vater angestürzt und versuchte, das Tier einzufangen, was ihm auch gelang. Ich war gerade im Garten und kümmerte mich um Gänseküken, die in einem selbst gebastelten Brutkasten ausgebrütet waren. War auch sehr erschrocken ob dieses Unfalls. Es gab aber keine unerfreulichen Konsequenzen, da der einzige Patient, der alles beobachtete, uns nicht verraten hat.

Aber der Hunger gehörte zum Alltag, zumal ich damals ein mehr aktives Kind war. Klebriges Maisbrot mit Rübenkraut war meist die Basisnahrung. Das Rübenkraut stellten wir selber her im Waschkessel im Keller. Die Rüben bekamen wir von Marias Eltern oder ein paar anderen Bauern, die meinen Vater kannten. Gelegentlich zahlten diese Bauern auch eine Zahnbehandlung mit Naturalien.

Mein Onkel Max kam ziemlich früh zurück aus britischer Kriegsgefangenschaft. Er spannte einen Klingelalarmdraht um unseren Garten. So wurde durch ein Alarmzeichen im Hause Diebe angekündigt. Nachts mußte immer jemand Wache schieben. Es gab auch einige Male Alarm.

Mein Onkel Max fand eine Anstellung bei einem Lebensmittelhändler, der in unserem Haus Räume angemietet hatte. Dieser Mann brauchte für seinen Betrieb ein Auto. Benzin gab es nicht, so wurde ein Holzgaser angeschafft, den mein Onkel wartete und fuhr. Ich war fasziniert von dem Gefährt und stand immer am Straßenrand, wenn mein Onkel losfahren wollte. Klappte alles mit der Feuerung und der Wagen sprang gut an, grinste mein Onkel über das ganz Gesicht und bedeutete durch ein Kopfnicken, daß ich mitfahren durfte. War ich glücklich!

Hochkonjunktur hatte natürlich auch das Pilze - und Beerensammeln sowie das Holzholen im Wald per Leiterwagen. Kohlen gab es noch nicht zu kaufen.

Folge der Unterernährung war, daß ich Anfang 1948 eine Tuberkulose bekam, wie viele meiner Altersgenossen. Ich mußte viel liegen, bekam eine Zusatzernährung und wurde fett wie ein Hefekloß. Zur Schule durfte ich nicht mehr gehen. Als mein Klassenlehrer kam, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen und ich ihm zufällig im Hausflur begegnete, fragte er mich, wie es meinem Bruder ginge. Er hatte mich nicht wiedererkannt.

Nach der Währungsreform Mitte 1948 kratzte mein Vater ein wenig Geld zusammen, und ich konnte mit meiner Mutter und zwei jüngeren Geschwister in die bayrischen Alpen fahren, zum Erholungsurlaub. Ein großes Ereignis. Die Hungerzeit war vorbei, es kam die Freßwelle.

lo