> Horst Dehnst: Meine Erlebnisse während des Krieges in Kiel

Horst Dehnst: Meine Erlebnisse während des Krieges in Kiel

Dieser Eintrag stammt von Horst Dehnst (nms1936s@hotmail.de, *1936) aus Kiel, Februar 2012:

Den Kriegsanfang habe ich mit meiner Mutter im Urlaub in Ratibor am 01.09.1939 erlebt. Dort waren wir bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Es fuhren Panzer und Motorräder mit Soldaten durch das Dorf Richtung Polen. Mein erstes Erlebnis war, dass ein Motorrad mit Beiwagen vor meinen Augen eine Gans tot fuhr. Ich war kaum drei Jahre alt. Der Krieg brach mit Polen aus und so hat meine Mutter mit mir den Urlaub abgebrochen, um auf dem schnellsten Weg nach Kiel zurück zu fahren.

Mein Vater war auf einem Kriegsschiff stationiert. Das Schiff lief vor Norwegen auf eine Mine. Mein Vater zog sich eine schwere Knieverletzung zu und schwamm trotz dieser Verletzung an Land. Wegen dieser Knieverletzung kam mein Vater dann nach Hause ins Lazarett. Nach seiner Genesung wurde er in Kiel als Aufseher der russischen Kriegsgefangenen eingesetzt. Kurz vor Kriegsende wurde mein Vater noch nach Dänemark versetzt. Von dort nach Niebüll ins Lager der Engländer entlassen. Meine Mutter zog mit mir während der Bombennächte nach Bad Oldesloe zur Großmutter väterlicherseits. So war meine Mutter mit mir nicht mehr ganz alleine, denn meine um 12 Jahre älteren Zwillingsgeschwister waren auch in diesen schrecklichen Krieg gezogen. Mein Bruder war bei der Infanterie, und meine Schwester musste als Krankenschwester dienen. Mein Bruder hat den Krieg bis Russland mitgemacht.

Wenn die Bomben über Bad Oldesloe fielen, liefen meine Mutter und Großmutter mit mir in den Kartoffelbunker. Dieser war 3 Meter lang und 2 Meter breit. Diesen Bunker suchten wir auf, weil er nur 300 Meter von der Papierfabrik, wo meine Großmutter wohnte, entfernt war. In diesen Bunker fanden ca. 15 Menschen Platz. Wir nannten diese Schutzgebäude „Bunker“, denn dieses Schutzgebäude bestand nur aus Backsteinen. Meiner Mutter war der Kartoffelbunker unheimlich, und so zogen wir wieder nach Kiel. Da hat ein Schutzengel die Hände über uns gehabt, denn einige Tage später erfuhren wir, dass der Kartoffelbunker von einer Bombe der Engländer getroffen worden war. Ziel war es, die Bahngleise zu bombardieren. Diesen Angriff hat meine Großmutter nicht überlebt. Die Leichenteile der anderen Schutzsuchenden wurden bis in die Baume geschleudert. Bei diesen Umzug von Bad Oldesloe nach Kiel hat meine Mutter eine Wäschetruhe hinterlassen. Diese Wäschetruhe diente als letzte Ruhestätte meines Cousins, der gerade mal 9 Jahre wurde. Auch er hat diesen Angriff nicht überstanden.

Meine Mutter und ich waren wieder in dem uns vertrauten, aber nach und nach zerstörten Kiel in der Treppenstraße 5 wieder zu Hause. Bei jedem Angriff rannten wir in die Bunker, wo wir uns gerade aufhielten. Ich glaube kaum, dass wir einen Bunker ausgelassen haben. Zur Freude meiner Mutter war auch mein Vater mal für ein paar Tage auf Urlaub bei uns. Aber Freude und Leid liegen oft nahe beieinander, denn zur Zeit des Urlaubs meines Vater erreichte uns die Nachricht, dass mein Bruder am 10.06.1943 in der Nähe von Leningrad gefallen ist. Er wurde gerade mal 18 Jahre. Meine Eltern sind daran zerbrochen, denn mein Bruder ist bis zum heutigen Tag nicht gefunden, um seine letzte Ruhe zufinden. Der Urlaub meines Vaters dauerte nicht ewig. Die Trauer meine Eltern war groß, darauf nahm dieser irrsinnige Krieg keine Rücksicht, und so lief meine Mutter mit mir oft in Trance von einem Bunker zum anderen. Einmal waren die Bomber schneller als die Sirenen heulten. Auf dem Weg zum Bunker schlugen zwei große glühende Eisenstücke vor uns in den Boden. Unser Nachbar zeigte uns einen Tag später diese für mich riesengroße Bombe.

Auch mein Geburtshaus wurde von den Bomben nicht verschont. Am 13 Dezember 1943 standen wir ausgebombt vor einem Trümmerhaufen. Uns wurde eine neue Bleibe in der Koldingstrasse beim Dreiecksplatz zugewiesen. In einen großen Bombentrichter auf der Kreuzung Koldingstrasse / Brunswikerstrasse wurden tote Pferde einfach entsogt. Diese toten Pferde stanken bestialisch, waren aufgebläht. Es dauerte einige Tage, bis man diesen Trichter zugeschüttet hat. Dabei muss ich erwähnen, dass wir Kinder dort gespielt haben – zwischen Leichen und toten Tieren. Wir spielten in den Ruinen der Häuser Koldingstrasse/Brunswikerstrasse. Dort lagen oft tagelang Leichen, die nicht beerdigt werden konnten, weil die Bombardierungen auf Kiel sich häuften. Als Kinder haben wir es als gegeben hingenommen, aber heute ist es eine grausige Erinnerung.

Wo heute der Westring in die Autobahnauffahrt führt, war früher eine Gartenkolonie, wo wir einen Schrebergarten hatten. Meine Eltern hielten dort einige Kleintiere: Kaninchen, Hühner, Gänse. Die Tiere mussten gefüttert werden. Diese Aufgabe mussten meine Mutter und ich übernehmen. Zur Zeit war mein Vater in Kiel zur Aufsicht gefangener Russen. 4 Russen wurden von meinem Vater abgestellt, um Baumstämme in unserm Garten zu zersägen. Wir hatten nichts anderes zum Heizen und Brennen. Mein Vater konnte diese Gefangenen nicht weiter beaufsichtigen, denn seiner Obhut waren wesentlich mehr Gefangene anvertraut. Somit war meine Mutter mit mir und den Gefangenen alleine im Garten. Wir hörten in der Ferne wieder Flugzeuge und bekamen Angst. Die Russen beruhigten uns aber und meinten, die fliegen über Kiel hinweg, die haben ein anderes Ziel. Meine Mutter lief trotzdem mit mir in den nächsten Bunker – Schützenpark – die gefangenen Russen behielten recht. Diese Bomber waren nicht für Kiel bestimmt. Nach 3 Stunden kamen wir in unseren Garte zurück. „Unsere“ Russen waren fleißig am Holzsägen. Keiner hat den Garten verlassen, bis mein Vater sie ins Lager zurück gebracht hat.

Ich erinnere mich, dass wir einmal 14 Stunden im Christiane-Bunker verbringen mussten. Das muss der 3. Mai 1945 gewesen sein. Die Angriffe auf Kiel waren so groß und heftig, dass wir glaubten, jetzt ist alles vorbei, unser Ende ist gekommen. Einige Leute hatten Streichhölzer bei sich, wollten diese Anzünden, aber es klappte nicht. Der Sauerstoff im Bunker war so sehr verbraucht, dass nicht mal mehr ein Streichholz zündete. Soldaten holten uns letztlich aus dem Bunker. Sie führten uns durch ein brennendes, zerbombtes Kiel – für mich ein Inferno. In der Holtenauerstrasse/Ecke Jungmannstrasse ließen die Soldaten uns alleine. Wir orientierten uns auf den Hohenzollernpark, wo sich schon viele Menschen versammelt hatten. Wir stiegen über Feuerwehrschläuche. Alte Menschen, Kinder ... fast alle waren obdachlos. Meine Mutter wurde von Unruhe überwältigt. Steht unser Haus, in dem wir wohnten, eigentlich noch? Dort angekommen, stellten wir fest, dass zum Glück nur die Fensterscheiben fehlten. Wir hatten zum Glück noch ein Dach über den Kopf.

Ein anderes Erlebnis, das mich bis heute verfolgt, muss ich unbedingt noch zu Papier bringen. Soldaten haben stundenlang versucht, einen Mann aus den Trümmern Ecke Koldingstrasse/Brunswikerstrasse zu befreien. Er war unser Schuster. Nachdem dieser Mann endlich aus den Trümmern auf den eigenen Beinen stehen konnte, wurde er erschossen, einfach so. Später wusste ich warum: Er war ein Jude, ein Mensch wie Du und ich!

Die Schwester meiner Mutter erlebte alleine in Trier den Krieg. In ihre Angst bat sie meine Mutter, sie nach Kiel zu holen. Da meine Mutter mit mir auch alleine war, freute meine Mutter sich, dass ihre Schwester sie bat, sie nach Kiel zu holen. Der Schmerz um den gefallenen Sohn war immer noch sehr groß. Es war gar nicht ganz einfach für meine Mutter, die Fahrt nach Trier alleine zu wagen. Mich brachte sie erst einmal zur Großmutter nach Ellerbek. Die Reise meiner Mutter dauerte 14 Tage, bis sie endlich mit ihrer Schwester nach Kiel zurückkehrte.

In Ellerbek vor dem Haus meiner Großmutter standen 2 riesige Metallfässer. Bei Alarm kam ein Mann und öffnete diese Fässer. Daraus strömten große Nebelschwaden. Somit wurde Ellerbek eingenebelt und die Bomberpiloten konnten unsere Häuser nicht mehr sehen. Wir blieben dann von den Angriffen verschont. In der Koldingstrasse wohnte ein Ehepaar, der Mann war auf dem Flugplatz beschäftigt. Bei Bombenalarm hat er schnell seine Frau benachrichtigt. Diese lief dann mit einer Trillerpfeife durch die Strasse und kündigte so den Alarm an. Die Sirenen waren durch die zerbombten Häuser zerstört worden. In der damaligen Zeit waren die Menschen aufeinander angewiesen, obwohl sich wiederum jeder der nächste war, die Menschen rückten enger zusammen. Auch wurde vom Hafen ein Alarmsignal gegeben. Sie schossen zweimal, das bedeutete Voralarm. Bei 3 Schüssen war Vollalarm.

Meine Schwester kam hin und wieder mal in Urlaub nach Hause. Alarm war für sie als Krankenschwester nichts Ungewöhnliches. Meine Mutter war mit mir schon im Bunker, da hat meine Schwester immer noch nicht reagiert. Nachdem die Bomben dann fielen, da wollte sie auch zum Bunker laufen. Durch den Luftdruck der Bomben flog sie durch eine geschlossene Tür in den Keller des Nachbarhauses. Hier hatten sich Zwangsarbeiter versteckt. Meine Schwester ist von den Männern gut beschützt worden. Das war nicht immer so!

Die Erlebnisse des Krieges meiner Schwester müssen in ihren jungen Jahren seelisch schlimmes angerichtet habe. Sie musste mit 17 Jahren tote Soldaten ganz alleine im Fahrstuhl in den Keller transportieren. Bei ihren letzten Besuch aus den USA 2003 in Deutschland haben sie diese Erlebnisse noch stark beschäftigt. Der Krieg hat uns die Jugend genommen. Schulen waren kaputt, Unterricht gab es kaum. Nach dem Krieg hatten wir ohne Bildung keine Aufstiegsmöglichkeiten. Wir haben Deutschland wohl aufgebaut, aber viele Menschen nur als Arbeiter! Es waren überwiegend Frauen, die ihren Mann stehen mussten. Ihre Männer und Söhne hat der schreckliche 2. Weltkrieg einfach nicht mehr hergeben.

lo