> Horst Lippmann: Hitlerjugend 1943 - Meine Pimpfzeit

Horst Lippmann: Hitlerjugend 1943 - Meine Pimpfzeit

Dieser Eintrag stammt von Horst Lippmann (*1933 ) aus Hamburg , September 2006 :

Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges - bis 1945 - gab es die Hitlerjugend. Das waren Jugendgruppen in unterschiedlichem Alter, und der Stichtag für den Eintritt war der 10. Geburtstag.

Meinen 10. Geburtstag feierte ich im April 1943. Seit dem Tag war ich für die Jungvolkgruppe geeignet und bestimmt. An meine Eltern kam rechtszeitig die Aufforderung, dass ich mich im Nebenhaus der damaligen "Hermann-Göring-Schule", der jetzigen "Boveschule", melden müsse. Die Örtlichkeiten waren mir ja schon von meiner Schule bekannt. In der "Hermann-Göring-Schule" war ich schon drei Jahre und wurde jetzt in die vierte Klasse versetzt. Viele meiner Klassenkameraden und ich wussten es schon lange, dass in dem flachen Haus neben unserem Schulhof sich die Jugendgruppen in ihrem Gruppenraum trafen. Dorthin mussten sich natürlich auch mehrere aus meiner Klasse und einige andere Jungen aus der Umgebung melden. Der Tag und die Uhrzeit dafür wurden uns mitgeteilt.

Wir trafen uns also alle zu vorgegebener Zeit in dem flachen weißen Haus neben unserer Schule. Ich war doch etwas erstaunt, wie viele Jungen mit mir ungefähr um diese Zeit ihren 10. Geburtstag hatten. Meine Klassenkameraden kannte ich ja. Außerdem trafen wir auch viele andere Jungen aus unserer Gegend, die in anderen Schulen waren. Jede Gruppe wurde von einem Fähnleinführer geleitet. Unser Fähnleinführer begrüßte uns und rief unsere Namen auf. Er erklärte uns, dass wir eine Uniform tragen müssten, zum Zeichen der Zugehörigkeit in der Hitlerjugend. Wir mussten aufschreiben, woraus unsere Uniform besteht und welche Kleidungsstücke wir uns dafür kaufen müssten. Das alles bezahlten natürlich unsere Eltern.

Unser Fähnleinführer hielt uns einen kurzen Vortrag und erklärte uns die Wichtigkeit unserer Treffen und die Arbeit in der Gruppe. Er zählte die sportlichen Übungen und Spiele auf, die wir auf einem Sportplatz machen werden. Wir bekamen unseren Termin für das nächste Treffen, das erste Mal in Uniform. Mit sehr viel Information endete unser erster Nachmittag in der Jungschargruppe und wir gingen nach Hause.

Mein Vater hatte eine Zahnarztpraxis in der Dehnhaide. Da gab es einen Patienten, Herrn Tode in der Vogelweide, mit einem Geschäft für Oberbekleidung und auch Uniformen. Unterschiedliche Uniformen hatte er nur in begrenzter Stückzahl. Meine Mutter ging mit mir dort hin. Auf meiner Liste stand: eine schwarze Hose, kakifarbenes Hemd, schwarzes Vierecktuch, hellbrauner geflochtener Lederknoten, schwarzer Ledergürtel mit Koppelschloss aus Metall, ein Käppi in Kakifarbe mit rotem Band. Er sah nach, ob er alles in meiner Größe hatte, und fand Gott sei Dank alles.

Unser Dienst fand immer zwei- bis dreimal in der Woche am frühen Nachmittag statt. Als wir in der vierten Klasse schon viele Stunden Unterricht hatten, schafften wir es manchmal nicht mehr nach Hause zu gehen und uns die Uniform anzuziehen. Viele Jungschargruppen hatten zu verschiedenen Zeiten Dienst. So mussten aus meiner Klasse ein Jugendgenosse und ich schon eine halbe Stunde nach unserem Schulunterricht den Dienst antreten. Wir erschienen morgens in der Schule in unserer Uniform und alle wunderten sich: "Wie seht ihr denn aus, jetzt schon in Uniform?" Unsere Klassenlehrerin Frl. Sperling war entsetzt und empört über unseren Auftritt. Wir erklärten ihr alles. Trotzdem befahl sie uns, das gebundene Tuch mit Lederknoten abzunehmen. Weil es sehr warm war, durften wir den oberen Hemdknopf öffnen. Das fanden wir von Frl. Sperling wiederum sehr nett. So brauchten wir nicht zu schwitzen. Unser Tuch legten wir ordentlich zusammen und mit dem Lederknoten in unseren Ränzel. Dann konnte der Unterricht beginnen.

Damit wir nach Schulschluss unseren Dienst in der Jugendschargruppe korrekt gekleidet in Uniform antreten konnten, banden wir unser Tuch ganz schnell wieder um, bevor wir den Gruppenraum betraten. Wir meldeten uns folgendermaßen: Einer von uns beiden klopfte an, ich öffnete die Tür und trat einen Schritt in den Raum, dann Strammstehen und den Hitlergruß rufen und: "Jugendgenosse Horst Lippmann bittet eintreten zu dürfen." Der etwa fünf bis sechs Jahre ältere Fähnleinführer rief: "Bitte eintreten." Er las uns dann über Adolf Hitler und von der Entstehung des Dritten Reiches vor. Das Wichtigste war die Wehrertüchtigung. Deshalb mussten wir oft auf dem Sportplatz Friedrichshöh mit Turnzeug erscheinen. Nach dem Umziehen in der Umkleidekabine war erst Warmlaufen angesagt, dann standen Übungen wie Springen, Laufen und Werfen auf dem Programm. Öfter machten wir Wanderungen und Kriegsspiele im Wohldorfer Wald, natürlich alles in sauberer Uniform. Die Kriegsspiele bestanden aus Verstecken hinter Bäumen und im Gebüsch, aus Tarnung und Beobachtung, und auch das Heranschleichen gehörte dazu. Wir übten Gefangene zu nehmen. Dem gefangenen Feind wurde das Koppelschloss umgedreht. Weil sich die im Spiel Gefangenen immer wehrten, wühlten sich einige von uns haufenweise im Dreck und Matsch auf dem Waldboden. Dadurch wurden unsere guten Uniformen bald so schmutzig, bis sie die natürliche Tarnung hatten. Trotzdem fanden wir diese Spiele eigentlich bei jedem Wetter immer ganz prima.

In den Sommerferien 1943 fuhren mein Vater und ich nach Hollenstedt in die Lüneburger Heide zu meinen Großeltern. Ich wusste nicht, dass wir auch in den Ferien zum Jungschardienst antreten mussten. Am zweiten Ferientag erschien ein Jungschargenosse bei meiner Mutter zu Hause. Er führte den Befehl aus, meiner Mutter zu sagen, dass ich pünktlich 16 Uhr zu meinem Dienst zu erscheinen hätte. Meine Mutter schickte an uns sofort ein Telegramm, was wir am frühen Nachmittag erhielten. Die Zeit war trotzdem zu knapp, um überhaupt noch rechtzeitig in Hamburg anzukommen. Um 17 Uhr erschien der Jungschargenosse wieder bei meiner Mutter und wollte mich abholen. Meine Mutter erklärte ihm, dass sie sofort nach seinem ersten Erscheinen ein Telegramm nach Hollenstedt geschickt hätte. Er war mit der Begründung zufrieden und ging wieder zu seiner Gruppe zurück. Wie die ganze Sache ausgegangen war, haben wir nie erfahren.

In der Nacht darauf fand in Hamburg der erste große, schwere Bombenangriff statt. Mein Vater und ich wohnten im Hollenstedter Hof. In der bewussten Nacht war ein starkes Gewitter. Deshalb konnte man den Angriff nicht richtig wahrnehmen. Gegen Morgen, etwa vier Uhr, trafen die ersten Flüchtlinge im Hollenstedter Hof ein. Sie waren ausgebombt, hatten alles verloren und suchten jetzt Unterschlupf in der Heide. Durch die große Unruhe im Hotel stand mein Vater auf und erkundigte sich nach dem Grund. Die Flüchtlinge kamen aus Wandsbek. Aufgeregt kam mein Vater zurück zu mir und berichtete, dass die Wandsbeker Kirche weg ist und viele Häuser in Schutt und Asche liegen.

Schnell zog auch ich mich an, dann gingen wir zu meinen Großeltern in ihr Gartenhäuschen und erklärten, dass ich bei ihnen bleiben würde und Papa nach Hamburg fährt, um nachzusehen, wie es bei uns zu Hause in der Goßlerstraße aussieht. Außerdem musste er Mutti abholen. Von der Zeit an durfte ich bei Oma und Opa in einem Besucherbett in der Küche schlafen. Ich wartete natürlich sehnsüchtig auf meine Eltern. Zwei Tage später kamen sie und berichteten über alles, was in Hamburg stattgefunden hatte. Unser Haus stand noch, Mit dem Zug mussten meine Eltern oft umsteigen. In Harburg durften die Züge nicht mehr weiterfahren. Es kam der nächste Angriff, und alle Fahrgäste mussten schnell in den Bunker der Deutschen Reichsbahn am Harburger Bahnhof laufen. Da auch viele Schienen beschädigt waren, ging die Fahrt mit öfterem Umsteigen voran. Mutti und Papa berichteten uns, dass einige Straßen und Grundstücke gesperrt waren. Die Blindgänger von den letzten Angriffen mussten erst geräumt werden.

Dann wurde ganz Hamburg als Sperrgebiet erklärt, weil auch die Versorgung nicht mehr gewährleistet war. Wir wurden gleich von Hollenstedt per Bahn und Bus nach Mittwitz in Oberfranken evakuiert und waren dort etwa drei Monate. Unsere Jungschargruppe hatte sich inzwischen aufgelöst. Es gab keine Hitlerjugend mehr. Ich habe nie wieder einen Jungschargenossen getroffen.

lo