> Ilse Schier: Kindheit in Ostpreußen

Ilse Schier: Kindheit in Ostpreußen

Dieser Eintrag stammt von Ilse Schier-Weimann (*1924) aus Berlin: ilseschier-weimann@web.de März 2011 Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Die Frau hinter der Theke. Lebensgeschichte einer Berlinerin" erschienen im Frieling-Verlag Berlin, 2008

/lemo/bestand/objekt/schier_002 Ich bin in Podszunen (Eichenheim) in Ostpreußen aufgewachsen. Meine Eltern waren mit Arbeit und neuen Zielen beschäftigt. Sie erwarben ein Grundstück neben dem meines Großvaters - 25 Morgen groß, mit Haus, Scheune, Stallungen und einem schönen, großen Garten. Die Vergrößerung war auch deshalb zwingend notwendig, weil sich der Klapperstorch angemeldet hatte und 1928 meine Schwester Gerda geboren wurde. Mit meiner Oma Else im Haus mussten nun fünf Mäuler gestopft werden; Arbeit gab's also genug, der Ertrag war aber gering. Meine Eltern suchten nach Mitteln und Wegen, ihr Einkommen zu verbessern. Sie zogen mit Pferd und Wagen an zwei Tagen in der Woche auf verschiedene Märkte, um mit Butter, Eiern, Wild und Geflügel zu handeln. Das Feld hat mein Vater dann nebenbei bestellt - was für eine Knüppelei! Aber wenn zwei an einem Strang ziehen, kann man viel erreichen und das taten meine Eltern.

Für mich begann in meinem 6. Lebensjahr die Schulzeit - mit einer Stunde Fußmarsch nach Ruddecken! Im so genannten "Insthaus" meines Großvaters, einer Unterkunft für Landarbeiter, lebte die Familie Mauritz mit vier Kindern. Denen schloss ich mich als kleine Kruke an und marschierte tapfer mit ihnen zur Schule. Die Mauritz-Kinder hatten immer Stullen, beschmiert mit billigem "Affenschmalz" und Salz. Die schmeckten mir besser, als das, was ich im Tornister hatte. Und sie tauschten gerne mit mir. Wenn es im Winter eisig wurde und stiemte, fuhr mein Vater uns mit Pferd und Schlittenwagen zur Schule. Bei klarem Wetter konnten wir allerdings große Strecken sparen und quer über weite Eisflächen (zuvor überschwemmte Wiesen) mit Schlittschuhen zur Schule gelangen.

/lemo/bestand/objekt/schier_004 In der Schule saßen die Mädchen rechts und die Jungs links, sechs bis vierzehn Jahre alt - die Anfänger natürlich ganz vorne. Das Schlimmste war für mich, wenn der Lehrer die Jungs zwischen seine Beine nahm und sie mit dem Rohrstock verprügelte; immer von oben drauf auf den Hosenboden, oder auch auf die Hand, die sie hinhalten mussten - vor unser aller Augen, es war sadistisch! Natürlich gab es einige Lausebengel, die immer etwas anstellten und sich den Hosenboden vorsorglich schon zu Hause auspolsterten. Aber es war für uns alle jedes Mal peinlich, dieser entwürdigenden Strafe zusehen zu müssen. Ob auch Mädchen "verkloppt" wurden, weiß ich gar nicht mehr...

Meine erste schlimme Erfahrung in der Schule war Mobbing. Ich konnte es nicht verstehen, warum gerade ich als Kleinste damals von den großen Mädchen gequält wurde, indem sie andere aufforderten, nicht mit mir zu reden. Ich wurde isoliert und wusste nicht mal, warum! Heute bastele ich mir eine Erklärung zusammen: In so einem kleinen Dorf wird innerhalb der Familien über Alles und Jeden geredet. Und meine Mutter war anders, denn sie hatte als junge Frau einige Zeit in der großen "sündigen" Stadt Berlin gelebt. Wer weiß, was die da so getrieben hatte! Sie besaß schicke Kleider und Hüte und sprach, auch mit ihren Kindern, nur Hochdeutsch, während sich alle anderen in ihrem ostpreußischen Dialekt verständigten. /lemo/bestand/objekt/schier_006 Natürlich bekamen diese Kinder deswegen im Unterricht Probleme - ich nicht. Und dann angelte meine Mutter sich auch noch den Sohn des angesehenen Großbauern! Solche Meinungen, auch Neid, wanderten leicht von zu Hause in die Schule.

Es gab aber auch Ereignisse, an die ich mich gerne erinnere, zum Beispiel Fastnacht in der Schule. Da war vielleicht was los! Unter dem Motto: "Fastnacht feiert Katz und Maus, Schuppnis (Bohnenpüree mit Speck) gibt's in jedem Haus - aus der Schule muss der Lehrer raus!" haben wir Herrn Broszehl, unseren Lehrer, wirklich ausgesperrt, die Türen mit Schulbänken verstellt und drinnen gewaltigen Radau gemacht. Die Schiefertafeln wurden bunt bemalt, mit schwarzen Raben dekoriert, Girlanden angebracht und natürlich haben die Mädchen mit den Jungs "rumbaldowert", wie es auf ostpreußisch heißt.

Mein heimatliches Platt bring ich jetzt kaum mehr zustande, hier eine kleine Probe: "Der Friiieling kommt mitem Dampfer! Mit Brunnenkresse und Sauerampfer, mit Bliiiemchen allerlei..., und de Meisen singen ihre Weisen… und legen Ei auf Ei! Oder meinste nei?"

Es gibt übrigens von der Autorin Auguste Oschkinat urkomische mundartliche ostpreußische Geschichten - ich gab sie weiter an meine Tochter Ingrid.

Die Gerüche aus meiner Kindheit kann ich nicht vergessen. So sind Erinnerungen haften geblieben an die Zeit, in der ich öfter bei Evchen Klemm, einer Dorffreundin, zu Gast sein durfte. Im Kolonialwarenladen ihrer Eltern duftete es nach Dillgurken, Bonbons und Schokolade, Früchten, Kräutern, Zwiebeln, Bier, Öl, Getreide und Brot sowie nach Leder-Zubehör für die Pferdegespanne. Und Evchens Oma kochte die besten Königsberger Klopse der Welt mit herrlicher Schmantsauce, mit Eigelb verfeinert! Evchen fuhr jeden Tag zur "Hohen Schule" nach Tilsit. Das war ganz was Großes und Besonderes zu der Zeit, aber mit vielen Strapazen verbunden. So fuhr sie mit dem Bus nach Szillen, von dort mit der Bahn weiter nach Tilsit.

In den Ferien durften wir Kinder manchmal unsere Eltern auf ihren Marktfahrten begleiten. Ich erinnere mich zum Beispiel an Kraupischken. Wenn es losging, knarrten die Wagenräder und die Pferdchen wieherten: Endlich raus aus dem Stall! Das war immer ein Abenteuer für uns. Wir erlebten, wie die Bauersfrauen Butter, Eier, Hühner, Enten, Gänse, Puten, Speck und Schinken anpriesen - natürlich wollten sie höchste Preise erzielen und feilschten entsprechend. Landfrauen mit kleinsten Anwesen bis hin zu Besitzern großer Bauernhöfe boten Waren von unterschiedlicher Qualität feil. Meine Eltern hatten im Laufe der Zeit schon ihre festen Kunden für die beste Butter und die übrigen Erzeugnisse. Allen Bauern konnte man aber nicht trauen, der Beschiss ist keineswegs erst heutzutage erfunden worden! Einmal fand mein Vater doch tatsächlich in einem Stück Butter einen Stein - die Bezahlung erfolgte schließlich nach Gewicht!

Wir Kinder krümelten umher auf dem Marktplatz. Wenn wir einmal einen Groschen für Johannisbrot, Süßholz oder Weintrauben bekamen, waren wir selig. Auf der Heimfahrt am Nachmittag schliefen wir meist. Die Pferde Liese und Lotte wollten schnell nach Hause, denn während der Marktzeit nur angebunden rumzustehen, machte ihnen keinen Spaß. So trabten sie flott dahin - den Weg kannten sie ja genau.

Im Winter war die Fahrt zu den Märkten bei Eis und Schnee und Minustemperaturen unter 30 Grad viehisch, hundekalt und sehr anstrengend. Meine Mutter hüllte sich in einen weiten Schafpelzwollmantel ein. Vater schützte sich auch entsprechend, er musste ja noch die Pferde an der Leine halten. Losgefahren wurde nachts um drei Uhr, da befroren ihre Gesichter schnell und die Pferde hatten Eiskrümel an ihren Leibern. Meiner Mutter erfroren dabei ihre Hände, sie blieben dick angeschwollen ihr Leben lang. Das Verdienen war schon sehr hart damals, doch die Eltern wollten etwas schaffen und sich hocharbeiten. Was sie wohl von fester Arbeitszeit oder gar Urlaub hielten, kann man sich vorstellen...

In der Erntezeit halfen alle verfügbaren Leute den Großeltern. Die "große Oma" (die zweite Frau meines Großvaters, meine Stiefoma) sorgte für das Mittagessen. Schnell noch aus dem Garten Pflücksalat geschnitten, gewaschen, mit saurem Schmant übergossen, dann versammelten sich Familie und Erntehelfer um den großen Holztisch und langten kräftig zu. Es gab gebratenen Schweine-Spirgel (Bauchfleisch), dicke geräucherte Blutwürste, ein deftiges Kraft-Mahl eben. Doch was zeigte sich denn dort?! Am Salatschüssel-Rand klammerte ein kleiner Frosch und rieb sich den Schmant aus den Augen!!! Großes Gelächter der Tischgesellschaft - die "große Oma" nahm es gelassen. In der Eile kann schon mal so ein kleines "Gehopse" übersehen werden...

Auf solche herrlichen Erlebnisse können viele Kinder heute wohl schon neidisch werden und nur davon träumen! Ich staune wirklich über mich, wie stark sich die Erinnerung an Podszunen bei mir eingebrannt hat. 1935 zog unsere Familie dann nach Szillen.


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