> Ingetraud Lippmann: Unsere letzte Weihnacht in Königsberg 1944

Ingetraud Lippmann: Unsere letzte Weihnacht in Königsberg 1944.

Dieser Eintrag stammt von Ingetraud Lippmann (*1936) aus Hamburg, April 2001:

Wie sonst immer hatte Mutti einige Wochen vor dem Fest von den gekauften Lebensmitteln unserer Lebensmittelmarken, einige Zutaten zum Backen von Keksen, aufgespart. Viele Tage vor dem Fest in der Adventszeit haben dann Mutti, mein Bruder und ich wohlschmeckende Kekstaschen, gefüllt mit Vierfruchtmarmelade, gebacken. Sie waren für den bunten Teller zu Weihnachten bestimmt. Der Duft zog durchs ganze Haus, und die Krümel oder die gemopsten noch heißen Kekse schmeckten so lecker, daß die Wartezeit bis Weihnachten uns immer viel zu lange vorkam. Mein Vater kam abends nach dem Dienst bei klirrender Kälte und tiefem Schnee aus der frischen Luft ins Haus, und ihm lief gleich das Wasser im Mund zusammen von dem lieblich süßen Keksduft. Papa schnupperte tief und kräftig mit der Nase und meinte: "0, welch schöner Duft, die Weihnachtsbäcker waren fleißig." Er durfte von den frischen Keksen natürlich auch zwei oder drei probieren, und dann mußte auch er bis Weihnachten warten, denn am nächsten Tage war das Gebäck verschwunden. Mutti hatte alles für Weihnachten, wie in jedem Jahr, auch jetzt wieder versteckt.

Der heilige Tag war gekommen und nachmittags kamen immer meine Großeltern und Muttis Schwester. Die Fahrt mit der Straßenbahn zu uns war schon sehr beschwerlich. In der Innenstadt war durch die Angriffe schon viel zerstört, so auch die Straßenbahnschienen. Am Nachmittag gingen wir immer alle gemeinsam zum Gottesdienst in unsere beliebte Ottokar-Kirche. Der Weg durch den tiefen Schnee war nicht weit, nur über die Straße und über den Kirchplatz. Die Glocken läuteten so schön wie immer. Der Pfarrer betete mit uns für den Frieden. Ich bemerkte, daß viele Erwachsene sich die Augen wischten. Das war nicht wie früher.

Nach dem Gottesdienst freuten mein Bruder und ich uns auf die Bescherung. Meine Puppe hatte wie jedes Jahr wieder ein neues genähtes Kleidchen bekommen, und für meinen Bruder stand ein neues selbstgebautes Holzauto unter dem Tannenbaum. Und endlich gab es unsere gebackenen leckeren Marmeladenkekse. Und doch war es in diesem Jahr etwas anders. Mir fiel auf, daß unsere Familie gar kein Lied vor der Bescherung gesungen hatte. Trotzdem genossen wir das Licht und den Duft der brennenden Kerzen am Tannenbaum und auf dem Gabentisch. Papa hatte manchmal einen kleinen Zweig in der Kerzenflamme schmöckern lassen. So duftete es immer nur Weihnachten. Vieles war wie früher, aber Einiges war doch irgendwie etwas anders. Sonst hatten wir uns über Schlittenfahren und über das Fest unterhalten. In diesem Jahr wurde nur über eine bevorstehende Flucht gesprochen.

Auch jetzt backe ich diese gefüllten Kekse immer wieder für meine Familie zum Weihnachtsfest. Für mich haben sie genau den Geschmack wie früher.

lo