> Jutta Miller: Kinderjahre oder: Berlin, Sarajewo und anderswo

Jutta Miller: Kinderjahre oder: Berlin, Sarajewo und anderswo

Dieser Eintrag stammt von Jutta Miller-Waldner (*1942 ) aus Berlin , Dezember 2006 :

Als ich noch ganz klein war, lag ich im Kinderwagen, und über mir schwebte das Gesicht meiner Mutter. Sie eilte mit mir in den Bunker am Hindenburgdamm. Im Bunker gab es Doppelstockbetten und kratzige Decken. Etwas später fiel ich mal im Kindergarten die Treppe hinunter und draußen im Garten ein andermal in den Matsch. Darüber lachten wir alle herzlich. Noch etwas später liefen wir stundenlang durch zerbombte Straßen, denn es fuhren keine Busse und Straßenbahnen, überhaupt keine Verkehrsmittel mehr. Als wir an eine Brücke kamen, wunderte ich mich, daß sie auf der einen Seite steil in das Wasser ragte und auf der anderen steil empor. Ich verstand nicht, wozu solche Brücken gut sein sollten. Damals sind wir überhaupt viel gelaufen. Seither gehe ich möglichst nur noch kurze Strecken zu Fuß.

Eines Tages machte meine Mutter ein wichtiges Gesicht, nahm mich an die eine Hand und ihre Handtasche und einen Hocker in die andere, und ging mit mir zu einem Laden, vor dem schon eine lange Schlange von Menschen stand. Das nannte sich Währungsreform. Ich fand das sehr lustig. Die Frauen, denn es waren fast alles Frauen, die da warteten, unterhielten sich angeregt miteinander, und es war etwas los. Später durfte ich mit alten Lebensmittelmarken spielen. Da mein Vater in Ostberlin arbeitete, bekamen wir jahrelang später noch Kleidung nur auf Punkten. Ich habe nie ganz begriffen, was die zu bedeuten hatten. Auf jeden Fall waren sie etwas Geheimnisvolles.

Bei einem Gespräch fiel einmal das Wort "Kopftausch". Ich fand das grauslich. Ebenso grauslich fand ich eine "vielköpfige Menge". Daß das eine bedeutete, daß jemand die Wohnung mit einem anderen tauschte, und das andere halt, daß die Menge offensichtlich noch größer war als eine Menge gemeinhin, wußte ich damals nicht.

Als ich klein war, fand ich alles aufregend, und alle Welt war nett. Als ich einmal vom Balkon schaute, muß ich einer Kolonne gefangener Franzosen, die zur Arbeit marschierte, so freundlich zugelächelt haben, daß sie mir einen Ball hochwarfen. Damals gab es keine Bälle zu kaufen. Die russischen Soldaten fanden mich niedlich mit meinen weißblonden Locken und blauen Augen und schenkten mir Schokolade.

Die gab es nämlich auch nicht. Allerdings wurden nach großen Bombenangriffen auf Berlin zusätzlich ein Pfund Fleisch und für die Kinder Bonbons ausgegeben. Und Schnaps und Zigaretten für die Erwachsenen. Die Berliner nannten das "Zitterprämie".

Meine Mutter lag Ende des Krieges mit Diphtherie auf der Seuchenstation im Krankenhaus, wo sich kein Soldat hin traute. Als sie entlassen wurde, waren die Russen gerade dabei, unsere Wohnung auszuräumen. Das hat sie nie verwunden. Aber nach Moskau und St. Petersburg reiste sie mit meinem Vater dann doch.

Nach dem Krieg, wenn meine Mutter mich mitnahm zum Kaffeekränzchen mit ihren Freundinnen und ich im Sessel saß und angeblich tiefversunken in einem Buch las, lauschte ich mit gespitzten Ohren dem Tuscheln der Frauen über ihre Erlebnisse während der letzten Kriegstage. Ich wußte schon früh Bescheid.

Als ich klein war, wäre ich fast ertrunken. Auf Zehenspitzen war ich einfach immer weiter in das Wasser gegangen. Plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen, und der Strand mit den vielen Leuten war weit, weit weg. Aber dann machte ich einige Bewegungen und fand wieder Grund. Seitdem weiß ich, daß ich mir selber helfen kann.

Ein Jahr nach dem Krieg nahmen mich meine Eltern zu einem ganz besonderen Besuch mit. In der Nähe vom Barbarossaplatz besuchten wir Freunde meines Vaters, Juden, die sich bis Kriegsende in einer Laube versteckt hatten. Mein Vater hatte es die ganze Zeit gewußt, es aber nicht meiner Mutter erzählt. Später war sie sehr traurig darüber, daß er kein Vertrauen zu ihr gehabt hatte. Die Freunde meines Vaters schenkten mir ein silbernes Armband, dabei kannte ich sie doch gar nicht. Einige Monate später wanderten sie - zwei Brüder und zwei Schwestern — nach Australien aus. Doch die eine Schwester kehrte Mitte der fünfziger Jahre wieder nach Berlin zurück. Sie hatte es vor Heimweh in Melbourne nicht ausgehalten. Von da an aß ich zu bestimmten Zeiten Matze, und ich wunderte mich immer, daß meine Tante sonnabends kein Geld anfaßte. Freitagabends setzte sie sich in ihren Sessel und betete. Das war ganz selbstverständlich. Ich habe sie sehr bewundert.

Als ich klein war, spielten wir in Ruinen. Das war strengstens verboten. Denn manchmal brachen die Häuser, die nur noch aus den Stützmauern und Zwischendecken bestanden, zusammen. Meine Mutter nahm mich dann an der Hand und zeigte mir das eingestürzte Haus und sagte: "Da siehst du, was geschehen kann, wenn du hier spielst!"

Überhaupt konnte man damals wunderschön spielen. Im Winter rodelten wir die Hügel in der Ebersstraße hinab. Denn damals lag im Winter immer Schnee, und die Sommer waren immer heiß. Später begriff ich, daß die Hügel Trümmerberge waren.

In der Ebersstraße war auch meine Schule. An einigen Kellereingängen wiesen riesige Pfeile auf Luftschutzbunker hin. Die Turnhalle war ausgebombt, und so hatten wir die Grundschuljahre über keinen Sport. Ich fand das sehr gut.

Einmal standen wir nach Schulschluß an der Feurig- Ecke Ebersstraße und unterhielten uns über den Krieg. Wenn nochmal Krieg ist, machen wir Selbstmord, sagten wir.

Wir mußten uns auf dem Schulhof immer in Zweierreihen aufstellen, bevor wir in die Klasse gingen. Mein Freund und ich standen stets in der ersten Reihe und spielten Brautpaar mit Gefolge. Aber vorher, ganz am Anfang des ersten Schuljahres, marschierte unsere Mädchenklasse eines Morgens gemeinsam mit unserer Lehrerin in den Jungenflügel der Schule. Das nannte sich dann Koedukation.

Und wir bekamen einen Lehrer. Er sang mit uns und spielte auf der Klampfe: Lustig ist das Zigeunerleben, Drei Zigeuner sah ich einmal, Erika, und viele andere schöne Lieder. Wir waren auch die erste Klasse, die in ein Schullandheim nach Wieda im Südharz fuhr. Dort war im angrenzenden Wald eine Versammlungsstätte, die unser Lehrer "Tingplatz" nannte. Ich habe meinen Lehrer sehr gern gehabt.

Die größte Enttäuschung während der Grundschulzeit hatte ich bei einer Weihnachtsaufführung. Ich stellte nämlich fest, daß die Engel ganz normale Kinder waren. Ich habe bitterlich geweint.

Als ich klein war, strickte mir meine Mutti aus aufgerubbelten Zuckersäcken Hemden und Schlüpfer, und ich trug ein Leibchen und Zöpfe. Die mußte mir aber meine Mutti jeden Morgen flechten, ich konnte das nicht. Wir aßen Trockenkartoffeln und Trockenkarotten und erhielten Care-Pakete mit Chesterkäse und Cornedbeef und Nestle-Schokolade von meinen Onkels aus Amerika. Bei der Schulspeisung bekamen wir Kakao mit Rosinenbrötchen oder Brühnudeln mit ekligen dicken Zwiebelstücken drin.

Als ich klein war, waren Geburtstage noch Geburtstage und Weihnachten war noch Weihnachten.

Seitdem ich klein war, hasse ich den Krieg.

lo