> Klaus Sommer: Erlebtes beim Endkampf um Berlin April/Mai 1945

Klaus Sommer: Erlebtes beim Endkampf um Berlin April/Mai 1945

Dieser Eintrag stammt von Klaus Sommer (1927 - 1994 ) aus Krefeld , November 2007 :

23. April 1945. Ich lag seit dem 11. Februar 1945 wegen einer Lungenentzündung im 122. Reserve-Lazarett in Berlin-Tempelhof. Der Kanonendonner, der schon seit Tagen aus der Ferne zu hören war und jetzt immer stärker wurde, weckte mich auf. Es musste etwa 5 Uhr morgens sein. Die Kameraden im Zimmer waren alle wach. Viele von ihnen hatten schwere Kampftage hinter sich. Es war allen klar, dass es nun ganz ernst wurde. Wir sprachen nur wenig und leise. In der Nähe des Lazaretts musste deutsche Flak stehen. Sie machte einen ohrenbetäubenden Lärm. MG-und Gewehrfeuer kamen hinzu. Ich hatte vorher noch nie Infanteriefeuer gehört. Ich war sehr aufgeregt. Die Scheiben klirrten. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Dunkle Vorahnungen erfüllten uns. Als ich um 9 Uhr in die Schreibstube ging, um mich um meinen Ausgang zu kümmern, erzählte mir ein freundlicher Kamerad, selbst ein Lichterfelder, dass vor wenigen Minuten ein Major berichtet hätte, in Lichterfelde sei bereits der Russe. Diese Nachricht stürzte mich in große Unruhe. Ich rief meinen Vater im Reichsluftfahrt-Ministerium (12hM) an, um ihm das mitzuteilen. Er war gefasst. Wenn ich zuhause Genaueres erfahren haben würde, wollte ich ihm mehr berichten. Eigentlich hatte ich keine Angst, dass irgendetwas Schlimmes bei uns geschehen sein könnte.

[...] Der geplante Ausgang fiel ins Wasser. Während der Visite stellte uns nämlich der Stabsarzt frei, ob wir, das heißt die Geheilten oder Genesenden, im Lazarett bleiben, oder nach Hause entlassen werden wollten. Ich wollte nach Hause. Ich erhielt mein Krankenblatt mit einem entsprechenden Vermerk und machte mich fertig, dem Lazarett, das ich mit der Zeit beinah liebgewonnen hatte, Lebewohl zu sagen. [...] Zuhause schließlich angekommen, befand ich mich inmitten der HKL [Hauptkampflinie, Red.]. In den Gärten schlichen SS-Soldaten umher, auf der Osdorfer Chaussee fuhren drei russische Panzer, und das Gebiet lag unter leichtem Artillerie-Beschuss. Unser und des Nachbarn Haus hatten Treffer erhalten. Der Schaden war jedoch gering. [...]

Um etwa 18 Uhr kam mein Vater begleitet von Leutnant Fischer. Ich legte wieder den "grauen Rock" an und fuhr im Auto mit den beiden los. Auf der Fahrt zum Potsdamer Platz war kaum etwas vom Gefechtslärm zu hören. Als wir uns jedoch dem Halleschen

Tor näherten, verwehrte uns eine dichte Qualmwolke den Blick in die vor uns liegenden Straßen. An der Sperre am Halleschen Tor wachte SS. Ich wusste schon vorher, dass Hitler in Berlin war und die Führung des Kampfes um die Reichshauptstadt übernommen hatte. Nach der Ankunft im RLM richtete ich mich im Zimmer meines Vaters ein. Es lag im 2. Stock. Ein modernes Doppelzimmer mit fließendem Wasser. In den ersten Tagen merkte ich vom Kriegslärm nur wenig. [...]

Mein Vater war Abschnitts-Kommandant und sein Verteidigungs-Sektor erstreckte sich von der Hornstraße über das Hallesche Tor zur Skalitzer Straße, weiter bis zum Görlitzer Bahnhof und vom RLM aus zum Spittelmarkt. Diese Kontrollgänge führten uns in die unmittelbare Nähe des Feindes. Es gab keinen festen Frontverlauf. Die Russen stießen irgendwo mit einigen Panzern durch, überall mussten wir mit ihnen rechnen. Mein Vater und Rust trugen außer ihren Pistolen auch Maschinenpistolen. Ich war mit einer Pistole, ein paar Handgranaten oder einer Panzerfaust bewaffnet. Wenn wir im PKW fuhren, mussten alle Insassen nach feindlichen Kampfflugzeugen Ausschau halten. Es kam nicht selten vor, dass wir scharf bremsten, die Türen aufrissen und uns mit größter Eile in eine Deckung warfen und dort verharrten, bis die Gefahr vorüber war.

Bei seinen Kontrollgängen führte mein Vater oft seine Einheiten zu Gegenstößen. Ich war stolz auf ihn und bewunderte ihn, wie er seine Truppe kommandierte. Klar und umsichtig. Ein tüchtiger Offizier. Es machte ihm Spaß. [...] Mein Vater fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Einerseits glaubte er nicht mehr an einen für Deutschland günstigen Kriegsausgang. Auch die Überzeugung, für eine gute Sache zu kämpfen, war nicht mehr vorhanden. Andererseits führte er seine Aufgaben pflichtbewusst aus. Ein

Soldat muss gehorchen. Das war seine Philosophie. Was ihm Skrupel hätte bereiten können, verdrängte er.

Er war Major und nahm die Stelle eines Regimentskommandeurs ein. Etwa 2000 Mann unterstanden ihm. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen: Dolmetscher, Volkssturmmänner, Wehrmachtseinheiten; sogenannte Alarmeinheiten und Polizisten. Am zuverlässigsten waren seine Dolmetscher und die Männer der Alarmeinheiten. Mit den Polizisten war nicht viel los. Sie waren auch nicht beliebt. [...] Dazu kam, dass es an Waffen, besonders an Maschinenwaffen fehlte. Der Feind war uns in allem weit überlegen. Fast jeder Russe trug eine M-Pi. Manche unserer Leute waren nur mit ein paar Handgranaten ausgerüstet.[...]

Schon am Tage meines Einzugs ins RLM wurde mein Vater darauf hingewiesen, dass sich bald Feinddruck auf seinen Abschnitt bemerkbar machen würde. Wie wir vom Ic wussten, griff der Russe mit acht Armeen und 2000 Panzern die Reichshauptstadt an, unterstützt von einer starken Luftflotte. Unsere eigenen Kräfte waren dagegen lächerlich gering. Kaum eine Abwehr gegen Flugzeuge. Die wenigen Flak wurden im Erdkampf eingesetzt. Deutsche Jagdflugzeuge zeigten sich kaum. Die deutschen Truppen waren so zusammengesetzt wie die Einheit meines Vaters. Geschütze, Panzer und Flugzeuge gab es bei uns kaum noch. Ich weiß nicht, ob uns der Russe 20 oder 50 mal überlegen war. Jedenfalls bestand gar keine Aussicht, mit den geringen Mitteln eine erfolgreiche Verteidigung zu führen. So war also der Kampf idiotisch.

An eine Nachricht, die amtlich bekannt gegeben wurde, klammerten sich jedoch viele, bis zum Ende: Starke deutsche Entsatzarmeen sind vom Westen und Süden im Anmarsch. Es wurden sogar die Orte angegeben, in denen die Spitzen dieser Verbände stehen sollten. Immer näher kamen sie, so glaubte man. Jetzt mussten sie eigentlich da sein. Aber dann hieß es, die Truppen ständen doch noch weiter entfernt von Berlin. Bis zum letzten Tag erhielten wir solche Meldungen. Es ging das Gerücht um, wir hätten mit den Westmächten ein Abkommen geschlossen, nach dem wir unsere Truppen zurückziehen konnten, ohne dass uns die Engländer und Amerikaner folgen wollten. Unsere Stimmung war gemischt aus Verzweiflung, Hoffnung, Gleichgültigkeit. Wir klammerten uns wie kleine Kinder an diese Nachrichten. Wären tatsächlich deutsche Entsatztruppen in Berlin eingetroffen, hätten diese den Ausgang des Krieges auch nicht ändern, allenfalls um ein paar Tage verzögern können. [...] Wenn auch die militärische Kraft des Reiches längst gebrochen war, die Propaganda tat noch ihre verheerende Wirkung. Einsichtige Soldaten versuchten sich dem Kampf zu entziehen. Sie galten bei den Ausharrenden als Verräter. Der Russe fürchtete uns sehr. Offensichtlich überschätzte er unsere Kräfte. Die Eroberung Berlins kostete ihm viel Blut und Material. Unsere Opfer aber waren wohl noch größer.

[...] Etwa um 22 Uhr verließen mein Vater, ein Hauptmann, der Fahrer, ein Verwandter des Hauptmanns und ich mit unserem Opel das RLM. Wir fuhren durch stark zerstörte Straßen und mussten aufpassen, nicht in einem Bomben- oder Granattrichter zu landen. Ohne Zwischenfall gelangten wir an unseren Bestimmungsort. Der Gefechtslärm war schwach. Hin und wieder aus der Ferne eine Detonation. Die letzten Meter bis zur HIC, ging's zu Fuß. irgendwo ratterte ein MG. Die Häuser um uns brannten. Das Feuer beleuchtete die unheimliche Szene. Es schien nicht viel los zu sein. An unseren Sperren riefen uns die Wachen an und meldeten meinem Vater, nachdem sie ihren Kommandeur erkannt hatten. Mein Vater besichtigte die Stellungen, tadelte ein paar unvorsichtige Männer und ermahnte die Posten. So verhältnismäßig ruhig es auf der Erde war, so unruhig war es in der Luft. Einige zweimotorige feindliche Flugzeuge kreisten über dem Gebiet. Die Maschinen flogen sehr niedrig. Wir konnten sie deutlich erkennen. Sie tauchten plötzlich aus einer Wolke auf und verschwanden gleich wieder.

Wir standen gerade an einer Brücke und hatten soeben festgestellt, das ein Volkssturmführer mit dem größten Teil seiner Leute getürmt war, als wir von ein paar kurz aufeinander folgenden hellen Explosionen zu Boden gerissen wurden. Der russische Flieger, der irgendetwas Verdächtiges, uns wahrscheinlich, auf der Brücke bemerkt haben musste, warf Splitterbomben. Dieser Überfall richtete wenig Schaden an.

Einige Männer bekamen ein paar Kratzer. Wir setzten den Rundgang fort und kamen schließlich in eine enge, dunkle Straße. Inzwischen war der Mond durch die Wolken gekommen und schien auf die zerstörte Stadt. Gespenstisch ragten die Ruinen in den Himmel. Über uns brummten die russischen Flugzeuge. Wir bewegten uns an den Häuserwänden entlang, um nicht aufzufallen. Wie durch einen Blitz wurde die Straße plötzlich grell erleuchtet. Drei oder vier hellgelb strahlende Leuchtfallschirme machten die Nacht taghell. Man hätte ohne Mühe Zeitung lesen können. Etwas weiter vor uns starke Motorengeräusche. Jetzt das Pfeifen der Bomben. Die Erde zitterte, starke Explosionen. Dann Ruhe. Die Leuchtfallschirme verglühten.

Wir tappten weiter zu einer steinernen Brücke. Da wieder das helle Aufleuchten der Leuchtfallschirme. Diesmal aber direkt über uns. Die Luft füllte sich mit dem schrecklichen Dröhnen der Flugzeuge. Uns packte die Angst. In schnellen Sprüngen liefen wir in den Garten einer Gaststätte und warfen uns der Länge nach hinter eine Mauer. Und schon ging der Zauber los. Ich hatte während des Krieges schon viele Bombenangriffe erlebt und war manches gewöhnt. Dies aber übertraf alles. Damals saß ich in einigermaßen sicheren Unterständen. Hier aber lagen wir im Freien, fest an den Boden gepresst, über uns die unheilbringenden Bomber. Taghell. Mein Vater und ich lagen eng aneinander gekauert und erwarteten jeden Augenblick, dass eine Bombe im Garten einschlagen würde. Das war also das Ende! Die Ohren dröhnten. Schlag auf Schlag. Blitz auf Blitz!

Etwa 15 Minuten mochte dieses Inferno gewährt haben. Wunderbar. Keiner von uns hatte auch nur die kleinste Schramme abbekommen. Als sich die Einschläge entfernten, griffen wir unsere Waffen und sprangen über die unversehrt gebliebene Brücke. Wie es um uns aussah, weiß ich nicht. Ich hatte nur einen Gedanken: Schnell weg aus dieser ungastlichen Gegend. Kaum hatten wir die Brücke hinter uns gelassen, als neue Leuchtzeichen aufblitzten. Wir stürzten schnell in einen Keller und ließen das neue Bombardement über uns ergehen. Der Russe warf nicht so schwere Bomben wie seine westlichen Bundesgenossen. In ordentlichen Kellern war man deshalb ziemlich sicher. [...]

An jenem Morgen lag ich im Bett und ruhte mich von den Anstrengungen der Nacht aus, als ich durch einen gewaltigen Knall aufgeweckt wurde. Ein höllischer Lärm entwickelte sich da draußen. Einschlag auf Einschlag. Mich packte Schrecken und Panik. Der Kalk rieselte von den Wänden. Die Pappe flog aus den Fenstern und das Geschirr setzte sich klappernd in Bewegung. Ein Blick aus dem Fenster: Alles voll Qualm, beißender Gestank. Der Beschuss wurde immer stärker. Die Schränke wankten bedenklich. Mir wurde es ungemütlich. Ich hatte Angst. Mit war klar: Das RLM war das Ziel dieser Grüße. Mit einem athletischen Sprung wollte ich das Bett verlassen, vergaß aber in der Aufregung, dass ich in einem Bettbezug lag, der jetzt meine Bewegung zurückhielt. Der Länge nach stürzte ich auf den Fußboden und schlug dabei mit dem Rücken gegen eine Türkante. Aber da blieb keine Zeit, über das Missgeschick zu sinnen. Der Lärm wurde unerträglich.

[...] Schnell meine Stiefel gegriffen - die Hosen hatte ich sowieso angelassen - und ohne Jacke raus auf den Flur und etwas verschnaufen. Nachdem ich mich beruhigt hatte, lief ich ins Zimmer zurück, um meine übrigen Sachen zu holen. Der Kleiderschrank lag jetzt quer im Zimmer. Auf dem Hof sah ich einen getroffenen Munitionswagen, der wie Feuerwerk auseinander zischte. Flugzeuggebrumm. Kurz darauf kam der Segen auch von oben. Die Bomben regneten herab. Deutlich sah ich, wie die Bomben sich lösten und auf die Erde zukamen. Ich hatte große Sorgen um die Drei, die draußen ihren Besichtigungsgang machten. Ihnen war aber durch das Bombardement nichts geschehen. Als mein Vater zurückkam, machten wir uns daran, in den bomben- und granatsicheren Keller des Preußenhauses umzuziehen. Der Gefechtsstand - also der Arbeitsplatz meines Vaters - war dort schon seit langem untergebracht. Die Innenstadt von Berlin war nun Hauptkampflinie.

Mit wenigen Unterbrechungen lag von nun an unser Gebiet unter starkem Artilleriefeuer. Auch daran gewöhnten wir uns. Zu den Granat- und Bombeneinschlägen gesellten sich nun auch die Granatwerfer und Salvengeschütze, die sogenannten Stalinorgeln. Es war daher lebensgefährlich, vom Freudenhaus über den Hof zum RLM zu laufen. Arbeiter brachen deshalb die Kellermauer zwischen diesen beiden Häusern durch. Inzwischen war der größte Teil unseres Verteidigungsbereichs von den Russen besetzt. Hier und da kämpften die Deutschen in Häuserblocks. Mein Vater erhielt den Oberbefehl über die Verteidiger des Preußenhauses und des Hauses der Flieger, des ehemaligen Herrenhauses. Zu dieser Zeit wurde meinem Vater auch die Spange zum EK II von 1914/1918 verliehen. [...]

Auch an solche Bilder musste ich mich gewöhnen [...]: Eine Granate hatte einen Kellerraum, in dem der Brennstoff, vor allem für die Lichtmotoren, gelagert wurde, getroffen. Im Nu stand der Tank in Flammen. Als ich von meinem Gefechtsstand zum RLM lief, sah ich auf einem Handwagen zwei noch brennende Leichen, deren Gesichter bereits halb verkohlt und deren Kleider zu Asche geworden waren. Nie hatte ich zuvor etwas so Schauriges gesehen. Seltsam, diese Bilder berührten mich nur wenig. Alles war wie ein Traum. Körper und Geist passten sich den Umständen an.

[...] Katastrophal waren die Zustände im Lazarett. Jeden Tag strömten viele Schwer- und Leichtverwundete in die engen Kellerräume. Sie wurden behandelt, operiert und verbunden und irgendwo auf den Fußboden oder auf Stapel alter Akten gelegt,. Nur die schwersten Fälle kamen in Betten. Zuzudecken brauchte man die Verwundeten nicht, denn in diesen Höhlen war es unerträglich warm. Nur ein fahles Licht beleuchtete diese traurigen Bilder. In allen Kellerräumen des RLM, vollgestopft mit Menschen, war die Luft stickig und übel. Die Frischluftzufuhr reichte nicht aus. Jeder wird sich gut vorstellen können, wie es erst in den Krankenzimmern stank. Die Luft war verpestet durch die vielen Wunden, den Unrat und die süßlichen Medikamente. Drei tüchtige Ärzte, mehrere Schwestern und Hilfskrankenträger betreuten und pflegten in großer Selbstaufopferung die hilflosen Männer. [...]

Über die allgemeinen Vorgänge und über das Kriegsgeschehen wurden wir von drei Quellen unterrichtet. Einmal vom Ic [Abteilung Ic des Generalstabs, zuständig für Feindnachrichten und Abwehr, vertreten durch einen Nachrichtenoffizier - Red.], der seine Nachrichten vom Generalkommando erhielt und die wohl am seriösesten waren. Dann vom NSFO [Nationalsozialistischer Führungsoffizier - Red.]. Der erhielt seine Informationen auch vom Ic, frischte sie aber propagandistisch auf. Schließlich vom englischen Sender. Ich hörte BBC regelmäßig. Die Front in Berlin wurde nur durch die Hoffnung auf den gemeldeten Entsatz aufrecht erhalten. [...] Als die Soldaten merkten, dass sie angelogen wurden, verloren sie auch das Vertrauen zu ihrer Führung. [...] Was der Sender über Berlin sagte, konnte ich ja überprüfen. Ich muss zugeben, es entsprach alles den Tatsachen. Jetzt stellten wir uns um, denn jeder Zweifel an dem furchtbaren Ausgang des Krieges war beseitigt. Wir sträubten uns nicht länger gegen die Erkenntnis, dass uns die Führung in ein großes entsetzliches Unglück gestürzt hatte, dessen Auswirkungen nicht abzusehen waren. Mit Schmerz erlebten wir den Untergang Deutschlands. [...]

Der Gefechtslärm rückte unaufhaltsam näher. Es gab immer noch einige, die an eine günstige Wendung glaubten. Aber ohne Pause trommelten die Granaten der russischen Artillerie, Granatwerfer und Salvengeschütze auf die Häuser und Trümmer der Innenstadt. Ein Bomberverband nach dem anderen warf seine Last auf die eng zusammengedrängten Verteidiger Berlins. Wir saßen geschützt in unserem tiefen Keller. Über uns bebte es. Um die Verwundeten und Zivilisten, die zu Hunderten oder gar zu Tausenden in Kellern hausten, aus den bevorstehenden Endkämpfen herauszuhalten, sandten wir Parlamentäre zum Feind. Sie sollten über den Auszug der Wehrunfähigen verhandeln. Die Besprechungen schienen zunächst erfolgreich zu verlaufen. Eine von den Russen zu uns gelegte Telephonleitung ermöglichte einen dauernden Verkehr zwischen hüben und drüben. Ab und zu kamen auch Russen ins RLM und sprachen mit Oberst Seifert, dem Kampfkommandanten des Zentrums von Berlin. [...]

Im Laufe der weiteren Verhandlungen forderte uns das russische Oberkommando zur Kapitulation auf. Es versprach uns in diesem Falle gute Behandlung. Die Offiziere sollten ihre blanken Waffen behalten, und alle Soldaten hätten ihre Orden tragen dürfen. Das Angebot wurde unter der lächerlichen, aber auch merkwürdigen Begründung, die Reichsregierung sei nicht vollzählig beisammen, abgelehnt. Vielleicht war das ein Beweis für meine Vermutung, dass sich Hitler gar nicht in Berlin aufhielt. Er pflegte doch sonst alles selbst zu entscheiden. Die Verhandlungen wurden abgebrochen. Während der Verhandlungszeit hatte Waffenruhe bestanden. Nun ging es wieder los. Die Tragödie musste zuende gespielt werden. Unsere Stimmung war weiter gesunken und die letzte Hoffnung auf ein einigermaßen vernünftiges Ende war dahin. [...] Das war alles Wahnsinn, und es sollte nun noch alles schlimmer werden.

[...] Am Abend das 1. Mai wünschte Hauptmann Saalmann, der Adjutant des kommandierenden Generals, meinen Vater zu sprechen. Nach der Unterredung rief mein Vater Rust und mich zu sich und teilte uns einen ungeheuerlichen Plan mit: Innerhalb einer Stunde sollten sich alle kampffähigen Männer an bestimmten Stellen der Innenstadt versammeln, von dort aus nach Norden durchbrechen und sich schließlich mit deutschen Verbänden, die irgendwo nördlich von Berlin kämpften, vereinigen. Wir waren sprachlos. Der reinste Wahnsinn! Das musste zur sicheren Vernichtung der übrig gebliebenen Truppen führen. Das bedeutete doch, dass wir uns, schlecht bewaffnet, ohne schwere Waffen oder Panzer, vielleicht 100 oder 200 Kilometer durch ein Gebiet schlagen müssten, das von den Russen erobert und dicht besetzt war. Aber noch waren wir Soldaten und mussten gehorchen.

Um diese Zeit war meinem Vater auch der Tod Hitlers mitgeteilt worden. Wir sagten uns, dass wir jetzt, da der Führer tot sei, auch nicht mehr an den Fahneneid gebunden seien. Wir wollten also eine günstige Gelegenheit abwarten, um uns diesem Kampf zu entziehen. Aber, erstaunlich genug, die Soldaten fühlten sich untereinander kameradschaftlich verbunden. Keiner wollte den anderen im Stich lassen. So hielt alles noch zusammen, und die Befehle der Vorgesetzten wurden befolgt. Wir, von der Kampfgruppe Sommer, etwa noch 50 Mann, marschierten nun, oder besser gesagt, stolperten, schlichen, in dunkler Nacht hinter meinem Vater her durch die Trümmer der Wilhelmstraße und weiter zu dem bestimmten Sammelplatz. Mein Vater, Rust und ich hatten uns vorgenommen, wie Kletten beieinander zu bleiben. Jede Kampfgruppe hatte einen anderen Sammelpunkt.

Wir lagen nun zwischen Häusertrümmern in der Friedrichstraße, Ecke Taubenstraße und warteten auf weitere Befehle. Es verging eine halbe Stunde, aber nichts rührte

sich. Mein Vater machte sich deshalb mit mir auf, um den kommandierenden Oberst in Nacht und Chaos zu suchen. Vergeblich. [...] Wir suchten auch in der Umgebung nach dem Vorgesetzten. Umsonst. [...] Mittlerweile war der Uhrzeiger auf 1 Uhr gerückt. Eine schaurige Nacht! Um uns brannte es in den Trümmern. Ab und zu Einschläge und das Pfeifen von Geschossen. Alles in allem aber beängstigend still. Mein Vater wusste nicht mehr, was er tun sollte. Auf eigene Faust versuchen, den Haupttrupp zu erreichen? Oder etwa mit diesem Häuflein allein einen Durchbruch versuchen? Das kam überhaupt nicht in Frage. Er kannte auch nicht die Stelle, an der dieser Ausfall geplant war. Er wollte aber auch nicht den Befehl geben, die Waffen fortzuwerfen und so für uns den Krieg zu beenden. Einem Rückzug ins RLM stand der Befehl des verschwundenen Obersten entgegen. Schließlich führte mein Vater seine Leute an den U-Bahn-Schacht

Kaiserhof und übergab den Befehl einem 60jährigen Major. [...]

Mit Rust und mir ging mein Vater daraufhin ins RLM zurück. So verließ mein Vater seine guten Männer. Diese Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Was kann ein Mensch in solcher Situation tun? Sollte er seine Soldaten auffordern, den Kampf als beendet anzusehen und sich davon zu machen? Die militärische Erziehung hinderte ihn daran. Oder etwa den Durchbruch wagen? Das war Wahnsinn. Jetzt dachte er auch an uns beide, an die Zivilsachen, die zur Flucht im RLM bereit lagen. Das war wohl auch der Hauptgrund, jetzt die Truppe zu verlassen. [...] Im RLM schaffte ich einen Rucksack, den wir vorher schon mit den köstlichsten Dingen gefüllt hatten, in das Zimmer, das Frau Dieselhorst mit ihrem verwundeten Sohn Joachim bewohnte. [...]

Zu der Zeit befand sich der Russe bereits im Haus. Durch den Mauerdurchbruch wollte ich in den Keller des Preußenhauses, um dort noch einige Sachen zu holen und nach Rust zu sehen. Ich hatte den Durchbruch hinter mir und war auf dem Wege zu unserem Geschäftszimmer, als ich beim Einbiegen in einen Gang von einem entsetzlichen Anblick erschreckt wurde. Auf einem Stuhl lag, die Beine den Weg versperrend, ausgestreckt ein deutscher Soldat. Über sein bleiches Gesicht zogen sich Blutsstreifen. Im Kopf ein kleines Loch. Die kalten Augen stierten gegen die Decke. Allem Anschein nach hatte er Selbstmord verübt. Ich kletterte über ihn hinweg und fand meinen Kameraden Rust. Er hielt vor einer Gruppe von Landsern eine Art Volksrede.

Nun zeigten sich auch schon die ersten Russen, junge Kerle. Sie riefen uns zu: "Nix schießen!" Kein Gedanke daran. Sie verlangten als nächstes unsere Uhren. Leider hatte ich keine Zeit mehr, meine erst jüngst erworbene Fliegeruhr zu verstecken. Der Ärmel meines Jacke war zu kurz und im Handumdrehen war das gute Stück in Feindeshand. Rust ließ sich meine Adresse geben, und an der Spitze der durch seine Rede begeisterten Soldaten zog er den Russen entgegen. Ich meldete das meinem Vater.

Wir warfen unsere Waffen fort und machten uns fertig, in die Gefangenschaft zu gehen. Mein Vorschlag, Zivilsachen anzuziehen, wurde abgelehnt. Bald kamen die Russen in unser Zimmer. Sie verlangten Schnaps, verhielten sich sonst aber friedlich. Ängstlich waren sie. Wir packten den Joachim auf eine Trage, legten darauf noch ein paar Koffer mit unseren Zivilsachen und verließen das Reichsluftfahrt-Ministerium. Auf meinem Rücken schleppte ich den, mit fünf Tafeln Schokolade, mehreren Paketen Kekse, zwei Büchsen Corned Beef, ein Stück Speck, Dauerbrote, Bonbons, Traubenzucker, Wurst, Käse, Butter, Zucker und Kunsthonig gefüllten Rucksack. Vor dem RLM fanden wir einen leichten Wagen, den wir mit dem Verwundeten und dem Gepäck beluden und schlossen uns einem langen Gefangenenzug an. Es ging in Richtung Spittelmarkt. Wir

liefen eine Straße hinauf und dann die selbe Straße wieder herunter. Die Russen schleppten uns kreuz und quer durch den Osten Berlins. An der Schmid-, Ecke Neue Jakobstraße wurden wir in einen engen Hof gedrückt. Die Mauern ausgebrannter Mietskasernen rahmten uns ein. Frau Dieselhorst und Joachim blieben mit dem Wägelchen, auf dem auch unsere Sachen lagen, draußen stehen. Der Himmel war grau verhangen. Leichter Regen. Trübe. Die Kameraden um uns herum blickten verzweifelt oder teilnahmslos. Als wir gefangengenommen wurden hatten uns die Russen gesagt, wir bekämen einen Stempel ins Soldbuch und könnten dann nach Hause gehen. Mein Vater sprach nun aber einen höheren Bolschewisten an. Der sagte ihm, dass wir in ein Lager, wahrscheinlich nach Russland, gebracht werden würden.

Während wir so in diesem Hof standen, forderten uns die Russen unter Drohungen auf, unsere Uhren abzuliefern. Gleichzeitig verkündete aber ein Sowjetoffizier in deutscher Sprache, dass es verboten sei, Gefangenen Uhren abzunehmen. Da die Russen wohl kein deutsch verstanden, gingen sie weiterhin durch unsere Reihen und nahmen den Deutschen weg, was ihnen gefiel. Mehrmals wurden wir abgezählt, dann marschierten wir schließlich wieder auf die Straße, Richtung Osten. Wir, d.h. Hauptmann Dieselhorst, mein Vater und ich jedoch stellten uns zu dem Wagen. Wir wollten ihn ziehen, sagten wir und uns an den Schluss des Zuges setzen.

Aber mein Vater hatte seinen Entschluss gefasst. Als er einen günstigen Augenblick erkannte, wenn es einen solchen überhaupt geben konnte, denn 'zig Russen standen um uns herum, sprang er plötzlich mit schnellen Sprüngen aus der Kolonne, über die Straße und hinein in eine Häuserruine. Er ist verschwunden. Ich greife den Koffer und eile meinem Vater wie besinnungslos nach, in die Haustrümmer. Der Rucksack mit den Leckerbissen bleibt zurück. Der Pfiff meines Vaters gibt mir seinen Standort an, Da will ich hin. Im Hauseingang sitzt ein alter, bärtiger Russe, der sich um nichts kümmert. Dann: "Stoi, stoi" ruft eine Stimme hinter mir. Ich lasse sie weiter Stoi rufen und eile mit dem hinderlichen Koffer hinter meinem Vater her, der durch ein Mauerloch auf eine zerfallene Treppe zuläuft, diese hinunterrutscht und in einem halb zusammengestürzten Keller verschwindet.

Der Lärm hinter mir verstärkt sich. Zu dem einen "Stoi"- Rufer gesellen sich noch weitere Towarischs. Ich stürze mit Gepolter die verschüttete Treppe hinunter und treffe endlich meinen Vater. "Kommandiri, hallo, Kommandiri", rufen die Verfolger in nächster Nähe. Mit klopfenden Herzen ziehen wir unsere Militärsachen aus. Bei jedem Geräusch, das wir dabei verursachen, zucken wir zusammen. Die Kerle da draußen, beruhigen sich nicht. Da, mehrere schnell aufeinander folgende, grelle Schüsse. Die Bolschewisten wollen uns mit der MPi entnerven und uns zwingen heraus zu kommen. Sie müssen eigentlich von der zerfallenen Treppe aus unsere Klamotten sehen können. Gerne würden wir sie etwas weiter in den Keller schieben. Aber wir trauen uns nicht. Es sind furchtbare Minuten. Gar nicht zu beschreiben. Wir hören, wie sie sich oben leise unterhalten. Dann schießen sie wieder. Ich halte es nicht mehr aus. Ich wage nicht einmal, den Kopf zu drehen. Ein Stoßgebet. Gott sei Dank für die wunderbare Rettung!

Die Stimmen entfernen sich, wir ziehen uns fertig um, lassen alles liegen und schleichen den Keller entlang, einer finsteren Öffnung entgegen. Ich stoße an einen Blechtopf. Vor Schrecken fange ich an zu zittern. Regungslos lauschen wir. In der Nähe Stimmen, russische Lieder. Die ahnen also nichts von unserer Gegenwart. Wir schieben uns auf allen Vieren in das Dunkel hinein. Unsere Augen müssen sich erst an die Finsternis gewöhnen. Durch unsere Bewegung bröckelt Kalk von den Wänden. Ein entsetzlicher Lärm! Wir setzen uns auf einen Schutthaufen, neben einen Kessel. Zu unserem Schrecken stellen wir fest, dass wir nicht die einzigen Menschen im Keller sind. Eine eingestürzte Decke trennt uns von vergnügt singenden Russen. Wir verharren mucksmäuschenstill, und mein wild schlagendes Herz beruhigt sich. Mir wird kalt. Es müssen etwa zwei Stunden vergangen gewesen sein, als sich mein Vater entschloss, unsere Uniformen in unser Versteck zu schaffen und einen Fluchtweg zu erkunden. Während er seine Sondierungen durchführte, zerriss ich alle Papiere, außer meinem Notizbüchlein und warf die Schnipsel fort. Mit schlechten Nachrichten kehrte mein Vater zurück. "In allen Ausgängen hocken Russen'".

Wir kauerten uns also zunächst wieder in unsere Ecke. Schließlich wurde uns der Aufenthalt doch zu langweilig. Mein Vater ging voran, ich mit dem nun erheblich leichteren Koffer hinterher. Mein Vater blieb stehen. Vor uns versperrten Sowjets den Weg;. Wir machten kehrt, gingen auf die andere Seite des Hofes, kletterten über einen Schutthaufen - immer in Furcht ertappt zu werden- und gelangten schließlich an einen anderen Ausgang. Hier stießen wir auf mehrere Russen. Aber erstaunlich genug, sie zeigten überhaupt kein Interesse an uns. Wir kamen auf die Straße. Ein sehr lebendiges Bild bot sich unseren Blicken dar. Ein Russenfahrzeug nach dem anderen fuhr an uns vorüber, Autos und Pferdewagen. In normalen Zeiten hätte ich mit meinem Kostüm auf den Straßen Berlins einen Menschenauflauf hervorgebracht. [...]

In diesem Aufzug wollten wir nach Hause wandern. Aber dazu kam es noch nicht, denn ein alter, bärtiger Russe trat nämlich auf mich zu und fasste meinen Arm. Ich wusste nicht, wie mir geschah. In meiner Verzweiflung fiel mir nichts Besseres ein, als ihn plump vertraulich um Schnaps zu bitten. Ich wollte ihm damit irgendwie imponieren und hoffte, er würde mich laufen lassen. Er lachte jedoch nur, ließ mich nicht los, sondern führte mich zu einer Gruppe schippender Zivilisten. Er drückte mir eine Schaufel in die Hand, und erleichterten Herzens arbeitete ich mit. Mein Vater, der dem Russen wohl zu elegant für eine solche Arbeit erschienen sein mochte, wollte nicht zusehen und machte auch mit. So räumten wir eine Zeit lang den Trümmerschutt von der Straße, immer jedoch dabei nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau haltend. Ein paar Mal riskierten wir eine Flucht, wurden aber von den Russen zurückgeholt. Schließlich gelang es uns aber doch.

Wir verschwanden in Richtung Alte Jakobstraße. Diese Gegend bestand nur aus Trümmern. Wir trugen unseren leeren Koffer, den wir über einen Knüppel gehängt hatten, auf der Schulter und wanderten so der Heimat zu. [...] Unterwegs hatten wir uns ausgemalt, wie sehr sich meine Mutter über unsere Rückkehr freuen würde. Wir wurden aber seltsam überrascht. Von Freude keine Spur! Mit entsetzten Blicken sah sie uns an. Was war die Erklärung? Kurz vor unserem Eintreffen hatten die Russen behauptet, sie hätten in unserem Haus einen deutschen Soldaten gesehen. Mit der Drohung, drei Männer aus unserem Haus zu holen, falls sich der Soldat nicht innerhalb einer Stunde stellt, waren sie gegangen. Zu dieser Zeit wohnte die halbe Nachbarschaft bei uns, insgesamt 14 Menschen. Ihre eigenen Wohnungen waren von den Russen beschlagnahmt worden. In unserem Haus fanden die Nachbarn nicht nur Unterkunft, sondern auch durch meine Mutter Schutz. Denn sie war mutig und konnte sich in polnisch mit den Russen verständigen. Noch klangen meiner Mutter die Worte der Sowjets in den Ohren, als wir auftauchten. Aber alles ging gut. Nach unserer Rückkehr ließ sich kein Russe mehr in unserem Hause blicken, und nun konnte sich auch meine Mutter ihrer Freude über unsere glückliche Heimkehr hingeben.

Einige Tage nach der bedingungsloser Kapitulation Deutschlands fuhr ich mit dem Rad zur Schmidstraße und holte aus dem Keller unsere Uniformen und mein Notizbüchlein und brachte alles nach Hause.

lo