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Richard Suchenwirth: Meine Luftwaffenhelferzeit

Dieser Eintrag stammt von Richard Suchenwirth (*1927) aus Herrsching, Mai 2011:

Das Gerücht war dem wochenlang vorausgegangen. Der Genosse meiner Schulbank Oskar Sturm, in der Klasse 6 a des Theresiengymnasiums, hatte mir erzählt, dass er es morgens bei der Milchfrau gehört habe, Schüler der oberen Gymnasialklassen würden zur Flak eingezogen. Mein Banknachbar hatte immer wieder solch neue Nachrichten von der Milchfrau, die sich später als erstaunlich zutreffend erwiesen. Das Eigenartige war, dass ich die gleichen Dinge am Abend vor dem Radio sitzend vom Sender Beromünster gehört hatte. In der Schule wies der Lehrer Dr. Schmid sachlich-kühl darauf hin, dass die großen Ereignisse in den letzten Monaten Stalingrad und Tunis, also die Kapitulation des Rests der deutschen Afrikaarmee waren. Es gab einen kleinen Aufschrei des Entsetzens in der Klasse, aber im Grund wusste jeder, dass der Krieg einen sehr schlechten Verlauf für Deutschland genommen hatte. So verdichteten sich unsere Vorahnungen.


Auf der Theresienwiese, 19. Februar - April 1943

Tatsächlich war es dann bald so weit. Am 19. Februar 1943 hatten wir uns mit dem nötigsten Gepäck auf dem Schulhof des Theresiengymnasiums einzufinden und in einer Marschkolonne aufzustellen. Wir waren insgesamt 40 Schüler der Klassen 6 a und 6 b des Jahrgangs 1926 und 1927. Einige Schüler hatten sich rechtzeitig irgendwie abgesetzt. Die Schüler des Jahrgangs 1925 wurden bald danach zum Reichsarbeitsdienst und dann zu Militär eingezogen und kamen nicht mehr zur Flak. Nur wenige haben den Krieg überlebt.

Ein klein gebauter Unteroffizier mit etwas herben, vernarbt wirkenden, Gesichtszügen begrüßte uns knapp und formlos. Dann hieß es "Guffa uffnehme". Der Unteroffizier Krüger stammte, was unverkennbar war, aus Sachsen. Und so marschierten wir, von einigen Eltern begleitet, ohne jede sonstige Formalitäten zur nahe gelegenen Theresienwiese, wo unser erster Einsatz stattfinden sollte. Einige Eltern gingen neben unserer kleinen Kolonne von 40 Schülern. Wir wurden schnell und ohne viel Aufhebens in eine Baracke eingewiesen, die zu besseren Zeiten, also des Oktoberfestes, zur Versorgung Angetrunkener und Verletzter ziemlich in der Mitte der Wiese lag. Von oben sah fast direkt über uns die Bavaria auf dieses Spektakel herunter.

Dann wurden wir 40 in den rund 6 Räumen der Baracke verteilt und bekamen in Doppelbetten übereinander jeweils ein Bett zugewiesen. Die Strohsäcke mussten wir uns selber füllen. Gleich danach gab es blaugraue Uniformen, die uns behagten, zusammen mit einer HJ-Armbinde, die uns weniger behagte, weil sie uns als Soldaten minderer Ordnung auswies. (Sie wurde später praktisch nur ausnahmsweise an der Ausgehuniform getragen, anfangs noch an der Wache der Batteriestellung, später überhaupt nicht mehr. Unseren Vorgesetzten war dies gleichgültig.)

Der Batteriechef, ein Leutnant Knauer, begrüßte uns, wir erhielten einen besonderen Betreuer, einen Wachtmeister Koch, der sich wohltuend zurückhaltend, herzlich wenig um uns kümmerte. An eine gezielte, gar strukturierte Ausbildung könnte ich mich nicht erinnern. Die schwere Flakbatterie 4/456 mit 6 8,8 cm - Geschützen, der wir zugeteilt worden waren, hatte als Leiteinrichtung ein Kommandogerät 42, ein wohl schon kurz vorher abgeschafftes Horchgerät, ein "FuMG", also Funkmessgerät, zur Ermittlung von Höhe- und Seitengraden, sowie der Entfernung auch sonst unsichtbarer Flugzeuge bei Nacht und Wolken, sowie ein Malsigerät in der "Umwertung", eine höchst simple Konstruktion aus Holz, etwas Blech, mechanisch geführten Zeigestäben und Bindfäden. Es diente dazu bei Ausfall des eigenen Kommandogerätes oder Funkmessgerätes Messwerte von anderen Flakbatterien zu erhalten und für unsere Position umzuwerten.

Der Beginn unserer Tätigkeit war eher idyllisch. Ich war als Flugmelder eingeteilt und sah mit dem Fernrohr auf einem Stativ in den Himmel, studierte die Silhouette von München und unterhielt mich mit den verbliebenen Flaksoldaten, die ihren Dienst auch nicht allzu schwer nahmen. Die weitere Einteilung bei der Umwertung bedeutete, dass wir lediglich Werte ablesen und mit Kehlkopfmikrophonen weitergeben mussten, dies in einem kleinen Bunker. Ein wenig Aufregung oder eigentlich mehr Abwechslung vermittelte der erste Stubendurchgang durch einen Wiener Stabswachtmeister Unger, der uns ein wenig die militärische Art der Sprache, vor allem auch durch Lautstärke beibrachte. Wir hatten bald den Eindruck, dass er einer der hellsten nicht war und auch kein gutes Gedächtnis hatte. Beim ersten Stubendurchgang, der natürlich unerträgliche, unmilitärische Zustände in den Spinden und beim Bettenbau ergab, regte er sich besonders beim Mitschüler Hillreiner auf. Als er rund 30 Minuten später auch beim Mitschüler Hilpoltsteiner nicht eben ideale Verhältnisse vorfand fauchte er: "Hilpoltsteiner, bekannte Nummer das" weil er ihn offenbar wider bessere Logik und ohne Erinnerung mit dem im Gedächtnis gespeicherten Hillreiner verwechselte.

Im Übrigen war bei halbwegs vertretbarem Bettenbau und halbwegs angepasstem Verhalten der Ton bei der "4/456" eher gemütlich. An den Geschützen und Geräten fanden nur einfache Einweisungen und gewisse Übungen statt. Der Krieg schien in weiter Ferne. Am Sonntag hatten wir Gelegenheit von unserer Baracke aus das Pferderennen auf dem hinteren Teil der Theresienwiese - gegen Sendling gelegen - zu beobachten. Die laute Marschmusik zur Unterhaltung des Publikums .besonders die "Amboss-Polka" klingt mir heute noch im Ohr. Einen Ausgang benutzte ich um ins Theater zu gehen, ich sah Ibsens "Nora" mit Anne Kersten in der Hauptrolle. Da ich, ohne äußere Anregung, damals ganz versessen auf Ibsen war, war ich sehr erfreut darüber. (In meines Vaters Bibliothek hatte ich viele Ibsen-Bändchen in Reclam vorgefunden und nach und nach geholt. Mit der "Frau vom Meer" hatte es begonnen, die meisten Dramen der späteren Zeit folgten nach und nach während der Luftwaffenhelferzeit. Mich interessierten dabei vor allem die großartig dargestellten psychologischen Entwicklungen.)

Am Sonntag war uns freigestellt in die St. Paulskirche zu gehen, die ja in nächster Nähe zur Theresienwiese lag und in der ich gefirmt worden war. Dies haben aber wohl nur ganz wenige wahrgenommen. Auf der Theresienwiese konnten wir auch noch einmal wöchentlich im öffentlichen Bad in Nähe der Kirche zum Duschen gehen. Sonst hatten wir in der Baracke nur kaltes Wasser zur Verfügung, was der Körperpflege nicht eben förderlich war.

Dann allerdings kamen die nächtlichen Fliegerangriffe. Aus irgendeinem Grund, ohne feste Einordnung an ein Gerät, verließ ich nachts am 9. 3. beim Signal "Edelweiß", dem Deckwort für schnellste Herstellung der Abwehrbereitschaft, mit dem, an einer Nebenhöhlenentzündung erkrankten Kurt Müller unsere Baracke. Wir waren reine Zuschauer. Zunächst hörte man nur das Brummen von Flugzeugen, dann kamen die Scheinwerfer, die mit ihren langen weißen Armen den Himmel absuchten, bis sie sich überkreuzten und an einem Flugobjekt hängen blieben. Danach setzte das Feuer der schweren, bald auch das Bellen der leichten Flakbatterien mit Leuchtspurmunition ein. Etwas zuvor hatten englische Flugzeuge an verschiedenen Stellen des Himmels absinkende Leuchtraketen abgesetzt, die wir "Christbäume" nannten und ein buntes Bild boten. Kurz danach hörte man die Sprengbomben. Sie schlugen relativ weit entfernt ein. Es war ein Höllenspektakel, zumal auch die eigene Batterie immer wieder schoss. Nicht lange dauerte es, da brannten rings um uns überall Häuser, so dass die ganze Theresienwiese hell erleuchtet da lag. Um uns klackerten Granatsplitter zu Boden. Ein eigenartiger Geruch teils nach Schießpulver, teils ein Brandgeruch lag in der Luft. Die Feuer ringsherum brannten noch lange weiter, auch als man längst keine Flugzeuge mehr hörte. Ich muss gestehen und möchte mich keineswegs dessen rühmen, dass wir bei alledem keinerlei Angst hatten, eher Neugierde und danach von dem Feuerwerk fasziniert waren. (Etwas beschämt dachte ich an Kaiser Nero und verstand, dass er beim Anblick des brennenden Roms in Ekstase geraten sein soll.) Es war der erste, schwere Fliegerangriff auf München, bei dem wie man später erfuhr, mehrere hundert Menschen, teilweise unter entsetzlichen Qualen ( verbrannt!) gestorben sind! Über 70.000 Bomben sollen von den englischen Flugzeugen abgeworfen worden. Aber daran dachte man in diesen Stunden nicht.

Am nächsten Morgen wurden alle Luftwaffenhelfer heimgeschickt. Sie sollten nachsehen, ob zu Hause alles in Ordnung war. Ich, der damals meine Familie am Stadtrand in Pasing wusste, fuhr nicht heim, weil die Fahrt ziemlich weit war. Einige Stunden später kamen alle Klassenkameraden zufrieden zurück. Keine der Familien hatte Schaden erlitten - aber dann kam der Anruf, ich müsste sofort nach Pasing kommen, das Gebäude sei weitgehend abgebrannt.

Als ich vor der Hochschule stand, in der wir gewohnt hatten, sah ich, dass das gesamte Dach und das Obergeschoß abgebrannt war. Brandgeruch lag in der Luft Unsere Habe stand aufgetürmt auf dem Bürgersteig. Zum Glück regnete oder schneite es nicht mehr. Beim Brand der Hochschule war ein armer Student, der im Krankenzimmer gelegen hatte und nicht mehr herausgefunden hatte, ums Leben gekommen - wie auch ein Nachbar, den ich nicht gekannt hatte, der retten wollte, was zu retten war. Er war von einer zusammenstürzenden Treppe erschlagen worden. Die Familie saß vor der Ruine auf umherstehenden Möbeln. Man sprach nur das Nötigste, geklagt wurde nicht, wozu auch. Der Hausverwalter der Übungsschule versorgte uns mit Kaffee. Die Familie zog dann mit dem verbliebenen Teil der Habe noch am 10. März zum Ammersee, wo wir glücklicherweise ein kleines altes Haus hatten.

Die erste Idylle war vorbei. Wir blieben auch nicht mehr lange auf der Theresienwiese. Die Batterie wurde mit zwei anderen als Großbatterie nach Krailling, eigentlich Planegg verlegt, wo wir am Ortsrand neben der Straße nach Martinsried, schräg gegenüber der Kirche und des Friedhofs Stellung bezogen. Unsere Flakstellung lag im übrigen rund 10 Kilometer Luftlinie von der Flakstellung in Gulching entfernt, in der etwa gleichzeitig Josef Ratzinger - später Papst Bededikt der XVI. seinen Dienst als Flakhelfer tat - ähnlich wie ich später als Telefonist.

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