> Rudolf Herz: Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Annarode, Südharz bei Mansfeld

Rudolf Herz: Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Annarode / Südharz bei Mansfeld

Dieser Eintrag stammt von Rudolf Herz (*1935) aus Annarode, April 2011:

Im Frühjahr 1945 hatte der Krieg die Grenzen des Deutschen Reiches bereits überschritten. Die Fronten rückten unaufhaltsam in das Innere Deutschlands hinein. Von Osten her stieß die Rote Armee über die Oder auf Berlin vor. Vom Westen her näherten sich die Amerikaner dem mitteldeutschen Raum. Im Radio ertönten immer noch Durchhalteparolen und Prophezeiungen über Wunderwaffen und große Wenden zum Endsieg. Die Menschen waren desillusioniert, enttäuscht und hatten Angst vor dem Ungewissen, was ihnen nun bevorstand. Die meisten hofften, dass der Spuk bald vorbei sei. Zu viel Leid, Entbehrung und Ängste hatte der Krieg den Menschen gebracht.

In den letzten Tagen des März 1945 kam plötzlich Bewegung in unser Dorf. Schwere Zwillingsschlepper, die vorne Räder und hinten Ketten hatten, rollten an, im Schlepp hatten sie Flakgeschütze auf sogenannten Protzen. Die Geschütze kamen aus den Stellungen des inzwischen aufgelösten Luftabwehrsystems rund um die LEUNA-Werke. Aufgesessen waren junge Soldaten, die voller Begeisterung ihrer ersten Feuertaufe mit dem dem Feind, also den Amerikanern, entgegenfieberten. Nach einem ausgeklügelten Plan wurden die sogenannten 8 / 8 Flakgeschütze in Stellung gebracht.

Die ursprünglich für die Luftabwehr gebauten Geschütze sollten hier zur Abwehr der amerikanischen Panzerspitzen eingesetzt werden. Die Bedienungsmannschaften waren junge Männer vom RAD (Reichsarbeitsdienst) aus einem Lager östlich vom Schloß Mansfeld. Die meisten waren Burschen um die16 Jahre, die normalerweise nicht als Soldaten eingesetzt werden durften. In einer Kurzausbildung hatte man sie zu Luftwaffenhelfern gemacht und an den Flakgeschützen ausgebildet. Sie führten die Dienstgrade des RAD und trugen auch noch ihre braunen Arbeitsdienstuniformen. Mit dem Volkssturm gehörten sie zum letzten Aufgebot einer wahnwitzigen Militärclique, die sich einbildete, die übermächtigen Streitkräfte, die in Deutschland vordrangen, aufhalten zu können.

Der Volkssturm, alte und unerfahrene Männer und der Hitler-Jugend, hatten im Walde, am "Neuen Schloß", dort wo die Straße nach Pölsfeld abzweigt, über die B 86 eine Panzersperre errichtet. Sie wurde von den ersten amerikanischen Panzern einfach umfahren. Später mussten dieselben sie wieder wegräumen.

Gefährlicher waren die 6 Geschütze die rund um das Dorf postiert waren: Eines nördlich, am Waldrand neben der Kohlenstraße, das zweite, gut getarnt auf einer Anhöhe, in einem Strohdiemen des Bauern Böhme, das dritte direkt vor der Dorfmitte, im Garten des Bauern Schenk, das vierte hinter Röhrigs Scheune an der Taubentränke. Das fünfte war an der höchsten Stelle der Straße nach Blankenheim und das sechste kurz vor dem Waldrand. Sie erwarteten die feindlichen Panzer auf der B 86 aus dem Wald kommend, aber auch von der Kohlenstraße und der Blankenheimer Straße her.

Die alten Kriegsveteranen konnten sich vorstellen, was geschieht, wenn die ankommenden Amerikaner das Geschützfeuer erwiderten und das Dorf beschießen würden. Sie versuchten, die jungen Soldaten zu beeinflussen, ihre Nutzlosigkeit und ihren Irrsinn einzusehen, den Widerstand einzustellen und nicht zu schießen. Der Krieg sei doch so wie so verloren und vorbei: "Wenn der gewaltige Westwall die Amerikaner nicht aufhalten konnte, glaubt Ihr mit Euren 6 Kanonen könnt das?"

Die Antwort: "Jeder abgeschossene Panzer ist ein Feindpanzer weniger!"

Man stieß offenbar auf taube Ohren. Im Gegenteil, sie drohten mit Standgerichten und ähnlichem. Außer den jungen Arbeitsdienstlern an den Geschützen dachte niemand daran, irgendwelchen Widerstand zu leisten.

An den Tagen davor lag eine unheimliche Ruhe und Spannung über Annarode. Der Verkehr war verebbt, die Straßen waren wie leergefegt, die Gehöfte verschlossen. Alle Obliegenheiten wurden leise und möglichst unauffällig verrichtet. Alle Leute hielten sich in Kellern oder Luftschutzräumen auf. Nachts kläfften nicht einmal die Hunde. Die Geschützbedienungen waren in ständiger Alarmbereitschaft und sehr nervös. Neben dem Geschütz hatten sie sich Schützenlöcher gegraben, darin hockten sie mit modernen Sturmgewehren, Panzerfäusten und einem leichten Maschinengewehr.

Am 12. April hatten Kampftruppen der 104. US Infanteriedivision "Timberwölfe", unter Major General Terry de la Mesa Allen, Sangerhausen erreicht. In Riestedt zweigte eine Sturmspitze mit 2 SPW-Kompanien und Infanterie unter dem Kommando von Oberstleutnant Hogan zur B86 in Richtung Annarode ab. Von einem Überläufer aus Annarode (nach dem Kriegstagebuch des Hogan) erfuhr er über die Geschützstellungen des RAD. Offensichtlich ließ er die Lage durch einen Spähtruppe gründlich aufklären. Tagsüber überflog ein leichtes Aufklärungsflugzeug der Amerikaner das Dorf und die Umgebung. Die Nächte schienen dunkler als normal. So konnte man auch nicht sehen, was sich vom Wald her auf der Straße bewegte.

Am Abend des 12. April kam es zu einem tragischen Ereignis. Der junge Arbeitsmann Helmuth S. kam aus dem Dorf und ging den Kirchberg hinauf zu seinem Geschütz. An der Kirche traf er auf eine Patrouille der anderen Gruppe, die ihn anrief und nach der Parole fragte, da er sie nicht kannte, schossen sie auf ihn und trafen ihn tödlich. Man brachte ihn in das Haus des Bauern Geerke, dessen Tochter, als ausgebildete Rote-Kreuz-Helferin, versuchte ihm zu helfen, und in deren Armen starb er. Vielleicht hat dieses Ereignis dazu beigetragen, die jungen Männer davon abzuhalten, ihr Leben sinnlos zu opfern. Aufgeklärt wurde der Vorfall nie.

In der Nacht zum 13. April war ein Spähtrupp der Amerikaner mit einem Jeep, der sehr leise lief, unbemerkt in das Dorf eingedrungen. Sie trafen auf den Rote Kreuz Helfer Otto H., der sie zu dem Gutsbesitzer Beyse, er war Kommandeur des Volkssturms, und dem Bürgermeister Böttge führte. Sie sprachen perfektes Deutsch. Beide gaben die Versicherung ab, dass niemand bewaffneten Widerstand leisten werde. Sie verwiesen aber auf die jungen RAD-Männer mit ihren Geschützen. "Machen Sie sich keine Sorgen, mit denen werden wir schon fertig." Offensichtlich kamen oder blieben die ersten amerikanischen Soldaten schon in dieser Nacht im Ort und schlichen sich von hinten durch die Gärten und Gebäude an die Geschützstellungen ran.

Im Morgengrauen war der Geschützführer Obervormann Riester auf einem Patrouillengang. Am Kirchberg bemerkte er den ersten Amerikaner. Er ging in Deckung und ließ ihn an sich vorbei, als der in der Mitte des Kirchberg war, erschoss er ihn von hinten. Dort lag er noch den ganzen Vormittag. R. wollte nun schnell zurück zu seinem Geschütz im Garten von Schenk. Als er vor dem Hoftor angekommen war, wurde er aus dem Stall des Bauern Röhrig ebenfalls erschossen. So erfuhr die Geschützbedienung nicht, dass die Amerikaner schon im Dorf waren. Im weiteren drangen die amerikanischen Soldaten in das Gehöft und die Gebäude des Bauern Kühnemund vor. Sie waren jetzt genau hinter der Geschützstellung. Auf dem Hausboden hatten sie Ziegel hochgeschoben, dadurch hatten sie die jungen Deutschen vor sich genau im Visier. Weil die sich auf Anrufen nicht bereit zeigten, sich zu ergeben, ja sogar versuchten, das Geschütz zu laden, wurden vier von ihnen, die in ihren Schützenlöchern saßen, erschossen. Die anderen ergaben sich.

Der Kommandeur der Einheit, ein RAD- Feldmeister Krone, hatte seinen Befehlsstand in einem ehemaligen Steinbruch am Roßberg eingerichtet. Dorthin hatte er zu den Feldtelefonen der Flak-Stellungen eine Telefonleitung ziehen lassen. Die Leitung war an den Bäumen aufgehängt. Weshalb der Befehl "Feuer frei" bei den Geschützen nicht angekommen ist, soll daran gelegen haben, dass polnische Kriegsgefangene die Drähte mehrmals zerschnitten hatten. Als Krone sich am Morgen selbst auf den Weg nach Annarode machte, wurde er von den Amerikanern gefangen genommen.

Die Mannschaften der beiden Geschütze am Blankenheimer Weg haben sich offensichtlich früh genug aus dem Staube gemacht. Von dem Geschütz, welches am Waldrand der Kohlenstraße verschanzt war, gab einer der Kanoniere in seinem verhetzten Feuereifer einen Schuss ab. Er zielte und traf einen der ersten leichten Panzer, die in den Ort einfuhren. Als Gegenreaktion stoppte die Kolonne und alles was Rohre hatte, schoss auf die Geschützstellung. Der dahinter stehende alte Buchenbestand wurde regelrecht zu Kleinholz zerschossen. Vier der verwegensten jungen Soldaten starben, als das Geschütz einen Treffer bekam. Das andere im Strohdiemen von Böhmes, einige hundert Meter entfernt, haben die Amerikaner offensichtlich nicht entdeckt. Die Mannschaft hatte sich jedenfalls schon abgesetzt.

Es war ein glücklicher Umstand für das Dorf, dass es nicht unter Beschuss genommen wurde. Zu verdanken ist das sicherlich auch dem Kommandeur der amerikanischen Stosstruppe, Oberstleutnant Hogan, der wusste, dass von den Einwohnern kein Widerstand zu erwarten war, und dessen Vorposten die gefährlichste Stellung unmittelbar vor dem Dorf, in Schenks Garten, schon überwältigt hatten.

Man sollte noch heute auch die Vernunft der jungen RAD- Männer gedenken, die, aus welchen Motiven auch immer, damals jeder für sich, eine schwere Entscheidung treffen mussten; denn der Krieg war ja noch nicht zu Ende. Vielleicht trug auch die Tatsache dazu bei, dass sie wussten, dass in ihrer Heimat in Schwaben und dem Schwarzwald, der Krieg schon längst aus war. Sie gaben auf und versteckten sich in den Wäldern. Einige wurden später von Dorfbewohnern aufgenommen und verborgen, bis die Umstände erlaubten, dass sie versuchen konnten, sich in ihre Heimat, Schwaben, durchzuschlagen.

Trotzdem fanden durch die unbedeutenden Kampfhandlungen am 13.April 1945 in Annarode 10 junge Deutsche, der Jüngste knapp 16, der Älteste (Obervormann Riester) 21 Jahre alt, den Tod. Auf dem Friedhof erinnert heute eine Tafel mit ihren Namen daran. Die angekommenen Amerikaner hatten den von Riester erschossenen Soldaten und die Besatzung des abgeschossenen Panzer zu beklagen.

Im Dorf, im Keller der alten Schule und in Geerkes Scheune, blieben die Sachen und die beiden Maskottchen, zwei Hunde, ein weißer und ein dunkler, "Bastel" und "Schuftel", die den jungen RAD-Männern nicht gefolgt sind, zurück. Die Geschütze standen lange Zeit in ihren Stellungen, manchmal spielten Kinder daran. Nach einem Unfall, bei dem Fredy M., ein junger Bursche aus Halle, der mit seiner Familie nach Annarode evakuiert war, eine Granate zur Explosion gebracht hatte und dabei umkam, wurden die Geschützstellungen gemieden. Irgendwann wurden sie von irgend jemanden abgebaut und weg gebracht. Es wurde angeordnet, alle Waffen an der Außenmauer der Kegelbahn von Schmelzers Gasthof, wo damals 2 große Kastanienbäume standen, abzuliefern. Natürlich bedienten sich die Amis erst einmal selbst. Es war ein ganz beachtliches Arsenal was da zusammen kam.

Nach dem späteren Einmarsch der amerikanischen 9. Armee bekamen viele Häuser Einquartierung, die einige Tage andauerte. Es kam zu ersten näheren Kontakten mit dem "Feind", und das Leben normalisierte sich schnell. Anfang Mai wurden einige Männer des Dorfes zusammengerufen. Sie mussten die im Jahr davor bei Luftkämpfen abgeschossenen 4 Amerikaner einer Bomberbesatzung, die auf dem Friedhof bestattet worden waren, ausgraben. Sie wurden in ihre Heimat überführt.

Eines Tages waren die Amerikaner auffallend still und bedrückt. Sie hatten den Befehl zum Einsatz an der Front gegen Japan bekommen. Das bedeutete, dass für sie der Krieg noch nicht zu Ende war, und der ganze Ernst ihnen noch bevor stand.

Auf Grund der Abkommen der vier Siegermächte waren von den Amerikanern eroberte Gebiete Mitteldeutschlands zur Besetzung durch die Sowjetunion vorgesehen. Anfang Juli 1945 zogen sich die Amerikaner aus Annarode zurück. Mit Panjewagen und Marschkolonnen zog die Roten Armee durch Annarode westwärts. Im Hause des Bauern Spengler in der Dorfmitte richteten sie ihre Kommandantur ein. Eine Kompanie hatte im Walde, westlich, am Knüppeldamm, ein Feldlager errichtet. Jeden Tag marschierten sie ins Dorf mit Ihrem typischen Gesang, in dem ein Vorsänger ein Lied sang und alle in einen Refrain einfielen, der klang wie: "Leberwurscht, Leberwurscht !"

So begann in Annarode die schwere Nachkriegszeit.

lo