> Theo Schänker: Tausend Jahre

Theo Schänker: Tausend Jahre

Dieser Eintrag stammt von Theo Schänker (* 1926) aus Frankfurt/Main. (MT.Schaenker@t-online.de), 30.01.2000:

Im Kaiserreich spielte die Jugend Räuber und Gendarm. Nach 1933 wurde daraus die Geländeübung der Hitlerjugend ( HJ ). Auch das Jungvolk, die Pimpfe, machte da schon mit und empfand keinen Unterschied zu früheren Zeiten, zumal Nachtmärsche und Campieren im Freien damit verbunden waren. Und etwas Disziplin tat der Jugend doch gut.....

Man war dem Elternhause entronnen und eine ganze Reihe nützlicher Dinge gab es von Staats wegen umsonst. So wurden schon früh noch formbare Menschen in den Dienst einer Sache gestellt, die damals fast von keinem durchschaut wurde. Wer heute klüger gewesen sein will, ist in meinen Augen unglaubhaft.

Es gab aber auch schon bemerkenswerte Auswüchse des Systems. Ein Junge in Uniform konnte seinen Eltern sagen: Ihr dürft mich nicht schlagen, ich habe die Uniform an. Uniform, auch ein Mittel, Loyalität zu schaffen. In meinem Berufsleben habe ich erfahren, wie einfach es ist, Abhängige an sich zu binden, wenn man Ihnen eine Uniform irgend einer Art gibt, was das Gefühl vermittelt, Angehöriger einer Gruppe zu sein, die ja immer stärker als ein Einzelner ist.

Mein Vater, dessen Einstellung zum System mir als Jungen vollkommen uninteressant war, machte hin und wider schon mal die Bemerkung, daß ihm die Unterscheidung zwischen Volks- und Parteigenossen doch etwas suspekt war. Daraus entnehme ich heute, daß er nicht so ganz linientreu war, was nicht ausschloß, daß die Hakenkreuzfahne pflichtgetreu zu Zeiten heraus gehängt wurde. Ich glaube auch, daß er mir bewußt zu ärztlichen Attesten verholfen hat, die meine Teilnahme am HJ-Dienst einschränkten.

Eine elegantere Art war es, sich um den Dienst zu drücken, wenn man in einer der Sondereinheiten war. Es gab da die Marine-HJ, Reiter-HJ usw. und auch die Flieger-HJ. Die Vorstufe zu letzteren war die Modellbau-Gruppe (beim Jungvolk).

Hier wurden unter Anleitung von Handwerkern Flugmodelle gebaut und man lernte eine Menge technischer und handwerklicher Dinge. Was lag da näher, als den Berufswunsch zu haben, einmal Flugzeugkonstrukteur zu werden, eine Entscheidung, die mein ganzes Leben beeinflußt hat.

Mit der Zugehörigkeit zur HJ, also "den Großen", wurde dann auch richtig geflogen. Die erste Maschine war der Schulgleiter SG 38, mit dem wir hier in der Nähe üben durften. Nötig war ja immer eine ganze Mannschaft, um das Gummiseil zum Start aus zu ziehen und dann die Maschine wieder zurück zu holen zum nächsten Start. Das Leichtgewicht der Anfänger wurde durch Gewichte unter dem Sitz ausgeglichen.

In geschlossenen Fluglagern erfolgte die weitere Ausbildung. Das Einfügen in die Gemeinschaft war u.a. eine Erfahrung für das ganze Leben.

Die handwerkliche und theoretische Ausbildung wurden natürlich weiter betrieben. Ich kam so zu Kenntnissen, die doch etwas ab vom alltäglichen liegen. Gelegentlich, bei einer Prüfung, begegnete ich erstmals einem Menschen, der mein Verhalten nachhaltig beeinflußt hat. Ich war sehr stolz auf das gute Prüfungsergebnis und ließ es offensichtlich jedermann fühlen. Durch eine kurze Bemerkung führte er mich zurück auf die Erde, und ich habe seitdem Erfolge doch etwas stiller genossen. Jedenfalls will ich damit zu erkennen geben, daß es auch noch sehr hilfreiche und schlichte Menschen in jener Zeit gab.

Mittlerweile war Krieg. Bereits 1940 fielen in Frankfurt vereinzelt die ersten Bomben. Mein Vater als Leiter einer Werksfeuerwehr war natürlich in erster Linie gefordert. Im September war wieder einmal Fliegeralarm und Vater radelte zum Einsatz. Diesmal war es zuviel für sein Herz. Nun waren Mutter und ich allein. Um so mehr war ich für den Beistand hilfreicher Menschen dankbar.

Im Jahre 1943 kam es zum "totalen Krieg", was u.a. bedeutete, daß auch unsere Schulklasse zum Dienst an der Flakkanone (FLAK = FLieger Abwehr Kanone ) abkommandiert wurde, und zwar in die Nähe von Frankfurt, zum Schutz der Stadt. Es war eine 8,8 cm Flak-Batterie, zu deren Bedienung wir nun ran mußten. Nur das Laden des Geschützes mit den schweren Flak-Patronen übernahm ein aktiver Soldat, die Richtkanoniere waren wir, ebenso wie wir die Munition aus dem benachbarten Bunker heran schleppen mußten.

Die Tageszeit war aufgeteilt in Schulunterricht und militärischer Ausbildung. Der Schulunterricht fand in der Stellung statt. Dazu kamen die Lehrer dorthin. Der Schulunterricht war natürlich sehr bescheiden, denn die Lehrer hatten einmal die Wege zu bewältigen, und wir selbst waren oft von nächtlichen Einsätzen ermüdet.

Bei der militärischen Ausbildung versuchte man klassischen Militarismus in die Tat umzusetzen. Das gelang mit Oberschülern aber nicht. Die Aufforderung, wer ist zuerst am Ende der Straße, hatte zum Ergebnis, daß wir alle gleichzeitig dort ankamen. Auch die Kommandos Hinlegen und Aufstehen (dies besonders) stießen auf erhebliche Kommunikations-Schwierigkeiten. Alle diese Erfahrungen waren bei späteren Gelegenheiten sehr hilfreich.

Wir konnten die Luftangriffe auf Frankfurt natürlich nicht stoppen. Erfolgreicher waren wir bei den Schießübungen an der Nordsee, was eine interessante Variante zu unserem Leben in der Stellung bedeutete. Ein Zielflugzeug wurde optisch um 180 ° verdreht anvisiert und beschossen. Hier hatten wir Treffer, bei den Luftangriffen leider nicht in diesem Maße. Aber wer will da schon wissen, was der Feind erlitten hat.

Nach einem Intermezzo zur Ablegung der Klasse C des Segelflugscheines begann ein weiteres Zwischenspiel beim Arbeitsdienst, einer Organisation, die auf guten alten Vorbedingungen basiert, aber inzwischen zu einer Organisation der Drückeberger degradiert war und nur noch die Aufgabe hatte, den Kadavergehorsam zu vertiefen. Wer will schon darin einen Sinn sehen., den stets blank polierten Spaten in alle möglichen Richtungen zu bewegen, d.h. "Hab acht", "Rührt Euch", usw. Hier half natürlich die Vorbildung (-Erfahrung) aus der Luftwaffenhelferzeit, das Ungemach dieser Zeit zu überstehen.

Beim "Barras" (also der Wehrmacht) oder ähnlichen Organisationen gilt nur ein Prinzip: Sich treiben lassen oder Schwachstellen zu nutzen. Letztere habe ich ausfindig gemacht und mich beim Arbeitsdienst als Gärtner verdingt. Das Schneiden von Büschen und Bäumen habe ich so genau genommen, daß es über die gesamte Zeit des Einsatzes dauerte. Damit habe ich erreicht, nie am Stubendienst teilnehmen zu müssen.

Dem Arbeitsdienst folgte im üblichen Gang der Dinge die Einberufung zur Wehrmacht. Mit meiner "Vorbildung" als Segelflieger war es natürlich selbstverständlich, daß ich zur Luftwaffe eingezogen wurde. Der Aufenthalt beim Stammbatallion in Kaufbeuren dauerte nur die Zeit, die nötig war zur Einkleidung und sich als Rekrut einigermaßen benehmen zu können.

Die nächste Station war dann eine Kaserne französischen Stils in Vesoul. Von fliegerischer Ausbildung konnte natürlich keine Rede sein und war es in der Zukunft auch nicht. Wir lernten bald den Alltag in einem Gebiet kennen, in dem die französische "Resistance" merklich vertreten war. So mußten wir nächtlich auf Streife gehen, zusammen mit einem Unteroffiziers-Dienstgrad. Kontrolliert wurde das Ausgehverbot auf den Straßen.

Da passierte es dann, daß wir eine Bewegung in der Nähe bemerkten. Augenblicklich, d.h. ohne weitere Überlegung, rissen mein Kamerad und ich den Karabiner hoch und schossen in Richtung der Geräusche. Ich erwähne diese Begebenheit, weil sie zeigt, daß der Mensch bei (auch vermeintlicher) Bedrohung sofort seine Verteidigung betreibt. Erst viel später wurde mir klar, daß ich hier u.U. auf einen Menschen geschossen und ihn getötet haben könnte.

Dieses Phänomen besteht auf Grund der menschlichen Evolution und wer von Moral und Pazifismus in einer solchen Situation redet, der geht an der Realität vorbei.

Auch eine Ausbildung geht mal zu Ende, besonders dann, wenn es in der Region zu einer kritischen Lage kommt, wie bei den damaligen Kämpfen in der "Burgundischen Pforte", wie es im Wehrmachtsbericht immer hieß. Unser unerfahrenes Häuflein war sehr schnell dezimiert und der Rest verstreut.

Ich erlebte, daß es auch hier noch menschliche Menschen gab, in Form einer Feldjäger-Streife, die hinter der Front kontrollierten. Man begegnete uns nur mit dem Hinweis, sucht Euch eine neue Einheit, d.h. lauft wieder in Richtung Front und laßt Euch hier nicht mehr sehen. Ein Standgericht wegen Fahnenflucht wäre auch möglich gewesen.

Wir fanden bald eine Einheit, die uns gerne aufnahm, war doch deren Mannschafts-Bestand auf ein Bruchteil der Sollstärke dezimiert. Es war die Aufklärungs-Abteilung der 11. Panzerdivision, der ehemaligen Stammdivision von Rommel. Die Zugehörigkeit zu dieser Einheit hat mich nach dem Kriege nochmals eingeholt, als man auf der Suche nach Leuten war, die gegen die Regeln der üblichen Kriegsführung verstoßen haben. Doch davon später.

Um es ganz salopp auszudrücken, neben dem Krieg spielen bestand meine Hauptbeschäftigung im Kochen für die 40 Mann. Fleisch fand einer der Unseren genug auf der Weide. Ob die ordentlich ausgestellten Requisitionsscheine den Bauern später genutzt haben, um ausbezahlt zu werden, entzieht sich natürlich meiner Kenntnis. Es gelang mir jedenfalls ganz gut, mit den Mitteln einer kleinen Küche, 40 Steaks zu braten, wozu zum warm halten eine Fußbadewanne auf dem Ofen diente.

Bei den Einsätzen und Übernachten im Gelände gruben wir unter unserem Panzerspähwagen (SPW) ein Kuhle, um geschützt zu sein gegen möglichen Beschuß. Darin schliefen wir dann.

In dieser Zeit war es auch, daß ich die ersten Toten sah, die unbestattet im Gelände lagen oder gar aufgedunsen im Kanal schwammen.

Am 15. September 1944 fuhren wir einen Angriff. Im Nachhinein ist es schon erstaunlich, wenn man selbstkritisch betrachtet, welche Genugtuung wir hatten, wenn unsere Geschosse den Feind zum Rückzug brachten, ohne zu bedenken, wieviel Menschen nun u.U. tot waren. Schließlich traf es uns selbst. Eine PAK-Granate (Panzer Abwehr Kanone ) explodierte im Fahrgestell und eine Stichflamme schoß in den Mannschaftsraum des SPW. Mit Verbrennungen an Händen und im Gesicht ließ ich mich über die Bordwand fallen und wurde kurz darauf von einem Sanitätspanzer auf genommen.

Auf dem Feldverbandsplatz mußte ich das ganze Grauen des Krieges, trotz meiner eigenen Schmerzen, wahrnehmen. Gliedmaßen wurden pietätlos auf einen Misthaufen geworfen.

Die nächste Station war ein Feldlazarett in Hagenau. Von hier aus hat eine liebe Krankenschwester ein paar Zeilen an meine Mutter geschrieben, die schon eine Vermißtenanzeige für mich hatte. Der Brief begann mit: "Ihr Mann".Ich war damals gerade 18 Jahre alt, was unter den Verbänden aber nicht zu sehen war.

Die endgültige Station war ein Kriegslazarett in Ulm, wohin wir per Eisenbahn gebracht wurden. Da ich sitzen konnte, kam ich in ein ganz normales Abteil eines Personenwagens, zusammen mit einem englischen Flieger, der abgeschossen und gefangen genommen war. Er hatte nur eine leichte Verwundung und bemühte sich, eine Konversation zu beginnen, wohl um mich von meinen Schmerzen abzulenken. Da er mit meinem Schul-Englisch wenig Erfolg hatte, versuchte er es mit Gebärden. Sein lautes Kikerikie machte mir dann klar, daß ich wohl wie ein gerupftes und gebrühtes Huhn aussehen mußte.

Nach wenigen Wochen Aufenthalt wurde dieses Lazarett durch Bomben getroffen (obwohl es gut sichtbar als Lazarett gekennzeichnet war). Daraufhin wurde ich in einem Heimatlazarett ausgeheilt. Im Januar 1945 trat ich wieder beim Stamm-Batallion in Kaufbeuren an.

Es folgte ein Einsatz im Osten, im Gebiet der damaligen Tschechoslowakei. Wir wurden oft per Eisenbahn hinter der Front hin und her geschoben, hatten mal wenig, mal zuviel zum Essen und zum Trinken. Vor allen Dingen Wein, den die Bauern lieber versoffen, als ihn den Russen in die Hände fallen zu lassen.

In diese Zeit fällt die Begegnung mit einem Menschen, der mal wieder Schicksal gespielt hat, in Form meines Kompanie-Chefs. Zunächst mußte er als Vorgesetzter bekannt geben, was ihm selbst vorgegeben war, nämlich der Aufruf, sich zum Wehrwolf, der Partisanen-Organisation der Wehrmacht, zu melden, wobei insbesondere auch an Segelflug-Piloten gedacht war. Es sollten per Segler Komando-Trupps hinter den feindlichen Linien abgesetzt werden.

Auch ich wollte den Krieg noch gewinnen helfen und meldete mich. Ich habe nie wieder etwas in dieser Sache gehört und nehme an, daß hier Schicksal gespielt wurde. Die Person des Hauptmanns, wie er mir noch heute vor Augen steht, läßt mich ziemlich sicher sein.

Bei einem Angriff unsererseits gegen die Russen gerieten wir in deren Abwehrfeuer, vor allen Dingen Granatwerfer. Um mich herum waren viele gefallen oder schwer verletzt. Ich habe lange und auch heute noch zeitweise darunter zu leiden, daß ich Stimmen höre, die sagen : "Kamerad nimm mich mit oder erschieße mich, ich will nicht den Russen in die Hände fallen."

Ich fühle mich heute noch schuldig, ohne damals helfen zu können, angesichts russischer Scharfschützen und überhaupt , nach Lage der Dinge.

Wenig später bezogen wir Stellung in einem vom Landsturm, also dem letzten Aufgebot aus ganz alten und ganz jungen Menschen, hergestellten tiefen Graben mit Erd-Bunkern. Hier geschah wieder eines jener seltsamen Dinge, da ich im Bunker wohl Schutz gehabt hätte, im offenen Graben aber von einem Granatsplitter getroffen wurde. Aber diese Verwundung hat mich davor bewahrt, später in russische Gefangenschaft zu geraten und nach Rußland verschleppt zu werden. Hinzu kommt, daß wir mittlerweile zur SA-Division "Feldherrnhalle" gehörten und diese wiederum zur 8. Armee des berüchtigten General Schörner.

Aber damit nicht genug. Widersinniger Weise schleppte ich seit der letzten Einquartierung in einer Schule ein Exemplar des Urfaust mit mir herum. Dieses Buch war bis zum letzten Einbanddeckel von Granatsplittern durchlöchert, und das im Bereich der Wirbelsäule. Andere Splitter trafen "nur" Weichteile.

Im Lazarett-Zug erfuhren wir vom Ende des Krieges. Was das bedeutete, hat unsere Sorge um das Überleben verdrängt. Waffen und Papiere, die wir noch bei uns hatten, wurden zerlegt und stückweise aus dem Zug geworfen. Später habe ich meine Ausbildungseinheit als harmlose Adresse angegeben.

Der ganze Zug und noch ein weiterer landeten im Machtbereich tschechischer Milizen, die sich schnell gebildet hatten. Wir standen auf einem Abstellgleis einer kleinen Bahnstation in der Nähe von Budweis, neben einer Hauptstraße und in der Nähe einer Mühle. Beides hat eine traurige Bedeutung.

Mein Vater hat mir während meiner Kindheit manchmal gedroht "Du wirst das Essen noch suchen", wenn ich mal meinen Teller nicht leer gegessen hatte. Hier habe ich mich an seine Worte erinnert, wenn wir die einzelnen Getreidekörner aus dem Dreck auf gelesen haben, die vom Wagen der Bauern fielen, die ihr Getreide zur Mühle brachten. Kaum gewaschen, ohne Salz haben wir diese Körner gekocht, zusammen mit dreckigen Brennesseln, die im Mund noch brannten.

Hauptstraße, Straße des Leidens und der Kriegsverbrechen, von denen ich später nie mehr etwas gehört habe. Neben den lokalen Milizen waren auch russische Einheiten vor Ort. Für sie waren die Mädchen und Frauen, die auf der Straße nach Osten getrieben wurden, Freiwild. Vergewaltigung und Erschießen waren die täglichen Eindrücke, die wir vom Lazarett-Zug aus erleben mußten. Viele Frauen kamen zu uns in den Lazarett-Wagen (einem Vieh-Waggon mit Etagenbettgestellen) und flehten uns an, sie doch als Krankenschwestern aufzunehmen. Wir mußten ablehnen, also wieder eines der Schuldgefühle, nichts tun zu können.

Die Flüchtlingstrecks waren Frauen und Mädchen, die aus dem Ruhrgebiet ins Allgäu evakuiert waren und von den Amerikanern an die Russen ausgeliefert worden sind, im Zuge der Zoneneinteilung. Es ist viel Unrecht geschehen in dieser Welt, über das nicht oder nicht mehr gesprochen wird.

Ich selbst habe bei den periodischen Appellen meine Wunde schön angekratzt, so daß sie eiterte und ich der Auslese zum Dienst in Rußland entkam.

Da ich recht beweglich war, hatte ich immer als Ausweg die Flucht nach Westen im Hinterkopf und mir dazu eine Landkarte im Futter meiner Stiefel versteckt. Bei einem Gang zur Toilette (Donnerbalken, auf dem am Morgen zig Leute ihre Notdurft verrichteten) hielt mich ein russischer Soldat an und verlangte meine Stiefel. "Karosch" war sein Kommentar und ich meine Landkarten los, aber im Besitz schweißgetränkter ..., ich weiß nicht, wie ich diese Ausgabe von Fußbekleidung noch nennen soll (sie haben mich noch bis in die Heimat begleitet).

Schließlich gelang es unseren Ärzten, mit den amerikanischen Besatzungstruppen in Kontakt zu kommen, die dann zwei Lokomotiven schickten und unsere Lazarett-Züge nach Karlsbad brachten. Nach einigen Nächten in Erdlöchern, dem Nachtlager von Kriegsgefangenen, erhielten wir unsere Entlassungspapiere. Wir wurden auf LKWs verfrachtet, umfallen konnten wir nicht, die uns an einem Spätnachmittag in Fürth mehr oder weniger abkippten.

Da waren wir nun, in Freiheit, aber ohne Beziehung zum Neuanfang. Den verschafften uns liebe Mitmenschen, die uns erst einmal Wasser zum Trinken brachten. Ihr Kommentar war, das machen die Amerikaner immer so. Abladen, aus. Die Nacht verbrachten wir auf Parkbänken, es war noch immer Ausgehverbot.

Am nächsten Morgen war die Suche nach einem Eisenbahnzug in Richtung Heimat doch schon erfolgreich. Mit einem Güterzug erreichte ich Aschaffenburg, von wo aus ein schon regulärer Personen-Zug mich nach Frankfurt brachte. Wie es so kommen mußte, Mutter war unterwegs, aber liebe Nachbarn haben mich gewissermaßen in den Arm genommen, bis Muttern da war.

Meine Reaktion zu jener Stunde war, der Krieg ist noch nicht zu Ende, wobei ich nicht den Krieg als heiße Auseinandersetzung meinte, sondern den Krieg der Gesellschaftsordnungen. Ich habe den Eindruck, daß wir heute noch immer tief darin verstrickt sind.

Was war geschehen? Die Befreiung vom täglichen Überlebenskampf gab endlich die Gedanken frei, die Situation einmal zu überdenken. Die Weltanschauung, geformt durch eine bürgerlich, christliche Kinderstube, war ersetzt worden durch die Weltanschauung des Nationalsozialismus. Aus tausend Jahren waren nur zwölf geworden und die lagen nun auch in Trümmern. Was blieb, war ein Vacuum der Gefühle über den Standort in der Welt jener Tage.

Ich habe mich aus der Verwirrung der Zeit selbst befreit, frage mich aber immer wieder, wo denn die Kirchen und Parteien in der damaligen Zeit geblieben sind. Besonders die Kirchen hatten und haben einen hohen moralischen Anspruch, den Menschen Wegweiser zu sein im täglichen Leben.

Was folgte waren die Jahre, in denen ein gesunder und auch recht trickreicher Überlebenswille gefragt waren. Davon wurde schon viel berichtet, aber nicht von den Ungereimtheiten des Alltags. Es wurden Hausdurchsuchungen von den amerikanischen Streitkräften gemacht. Jeder Zinnsoldat einer ganz harmlosen Sammlung wurde beschlagnahmt und der Besitzer des Militarismus bezichtigt. Wenig später wurde die Bundeswehr ins Leben gerufen.

Meine Schwiegermutter wurde als Agentin verhaftet, weil sie einen einfachen Detektor-Radioapparat besaß. Wo bleibt da der Sinn? Mich selbst hat die Vergangenheit im Jahre 1998 eingeholt, als ich zur Zeugenvernehmung vernommen wurde in der Angelegenheit "Kriegsverbrechen innerhalb der 11.Panzer-Division". Erst zu dieser Zeit wurden Dokumente von den Amerikanern frei gegeben, um nach Schuldigen zu suchen.

Erstens habe ich in der wenigen Zeit meiner Zugehörigkeit keine Unregelmäßigkeiten erlebt, zweitens erhebt sich die Frage, was nach so einer langen Zeit, diese Untersuchung noch soll.

Das, was heute als Kriegsverbrechen der Wehrmacht verbreitet wird, ordne ich als sehr tendenziös ein. Meine Kriegserfahrung ist zwar auf ein Jahr beschränkt, aber was ich erlebt habe, sieht ganz anders aus, als es einige Zeitgenossen, die nie Teilnehmer des Krieges waren, als der Wahrheit letzte Erkenntnis glauben machen wollen.

Daß es andere Organisationen als die der Wehrmacht gab, die sich schuldig gemacht haben, ist ein ganz anderes Kapitel.

Es gäbe noch viel zu erzählen, aber ein Mehr muß nicht immer ein Besser sein. Außerdem haben "die Jahre danach" die meisten der heute Lebenden ja noch selbst mit gemacht.

lo