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Ursula Fieback: Die kleine Usta und der Sternenhimmel über Berlin

Dieser Eintrag stammt von Ulrike Fieback aus Hannover, der Tochter der Zeitzeugin Ursula/Usta Fieback (*1930), 2017:

Gameboy, Playmobil, Wii-Spiele. USB-Sticks und Kopfhörer für Smartphones. Begriffe, die heute jedes Kind kennt und die unzertrennbar mit einem Kinderleben verbunden sind. Ebenso Kindergeburtstage. Eventagenturen kümmern sich mittlerweile darum, besondere Mottopartys zu veranstalten. Ob im Hochseilgarten oder im Bowlingcenter.
Stellt sich die Frage: Wie sah ein Kinderleben in Berlin vor rund 100 Jahren aus? Es gab kein Telefon, keine Smartphones, keinen Fernseher, keine Pizza und keine Burger. Es gab keine Waschmaschinen und nur wenige Menschen besaßen ein Auto. Unvorstellbar aus heutiger Sicht. Dennoch erfahren wir auf sehr emotionale Art und Weise, wie glücklich damals ein Kinderleben war.
Mit meiner Mutter Ursula Fieback, geborene Nitkowski, habe ich mich auf eine interessante Zeitreise ins Berlin der 1930ger Jahre begeben. Geboren am 4. August 1930, hat sie ihre Kindheit in der Fidicinstraße in Berlin-Kreuzberg verlebt. Lasst uns gemeinsam in die Welt von damals eintauchen!


„Noch heute spüre ich die warme Hand der Mutter, die meine kleinen Mädchenfinger fest umschließen. Ich fühle mich wunderbar geborgen und lege – wie  so oft auf abendlichen Spaziergängen -  den Kopf in den Nacken, um in den sternklaren Winterhimmel über Berlin – meiner Heimatstadt -  zu schauen. Niemals mehr im Leben habe ich einen schöneren Himmel gesehen“, erzählt die heute 86-jährige Ursula ergreifend und erinnert sich sichtlich gerührt an den winterlichen Spaziergang mit Eltern und Schwestern zum Berliner Weihnachtsmarkt. Dem Zuhörer ist, als laufe er als stiller Begleiter nebenher und erlebe die Szenerie nach mehr als acht Jahrzehnten noch einmal mit.

Nun ist wieder Winter und ich treffe die betagte Dame - weit entfernt von ihrer Heimat -  in Herdecke, einer westfälischen Kleinstadt an der Ruhr. Vor einem flackernden Kaminfeuer haben  wir es uns gemütlich gemacht. Für Hipburn hat Ursula ihre Lebensschatztruhe geöffnet, die gespickt ist mit schönen Kindheitserinnerungen. Das Berliner Mädchen von einst, mit blondem Pagenkopf und großer Haarschleife, nimmt mich mit auf die Reise ins Berlin der 30iger Jahre. In ihre Heimatstadt, die am 4. August 1930 um einen kleinen Erdenbürger reicher wurde. Sie nimmt mich mit nach Kreuzberg in die Fidicinstraße Nummer 6. Dort ist sie aufgewachsen in einem stuckverzierten weißen Gründerzeithaus, welches – wie die gesamte Straße – den Bombenhagel des zweiten Weltkrieges unbeschadet überstanden hat. Das wiederum hat unverkennbar Symbolcharakter, denn so können die Kindheitserinnerungen der kleinen Ursula wieder Einzug halten in dieses alte und ehrwürdige Haus.

Ursula hieß sie korrekterweise nicht immer. Als Kind nach ihrem Namen befragt, kam ein „ich heiße Usta“ als Antwort. Das ging einfacher über die Lippen als den schwierigen Vornamen auszusprechen. Was allerdings zur Folge hatte, dass Eltern, Schwestern als auch die Kinder der Nachbarschaft sie fortan nur noch „Usta“ riefen.

„Komm, ich nehme Dich mit in mein Berlin der Dreißiger Jahre. Ich zeige Dir meine Wohnung, meine Spielsachen und meine Kleidung. Auch meine Puppe zeige ich Dir. Ich gehe mit Dir in die Markthalle und in lauschige Gartenwirtschaften. Ich erzähle Dir von Laubenpiepern, von meiner Liebe zum Tanzen, vom Viktoriapark und ich erzähle Dir von meinen Eltern“, sagt Ursula und ihre blauen Augen leuchten. Genauso wie ihre Mutter nimmt auch sie mich an die Hand und wir begeben uns gemeinsam auf eine Zeitreise.

Wir starten in Kreuzberg und öffnen das große schwere Portal ihres Wohnhauses in der Fidicinstraße. Uns empfängt ein prunkvolles Foyer, welches das Haus in Vorder- und Gartenhaus aufteilt. Ursulas Wurzeln liegen im Haupthaus, im zweiten Stock auf der linken Seite.

„Die Wohnung ist so groß, dass meine Mutter im Flur Fahrradfahren gelernt hat“ verrät die alte Dame lachend. Und tatsächlich. Nach dem Öffnen der Haustür begrüßt uns eine imposante Diele, links ab geht es ins Schlafzimmer. Vom Fenster aus blicken wir in den gepflasterten Hinterhof, in dem eine Teppichklopfstange steht. Wir schlendern ins repräsentative Wohnzimmer, welches regelrecht einem Salon gleicht. Zwei weiße Flügeltüren unterteilen den herrschaftlichen Raum, in dem ein schwarzes Hochglanzklavier steht. „Auf dem Piano habe ich mit meiner Schwester sogar vierhändig gespielt“, berichtet Ursula stolz. Große Fenster geben den Blick auf die Fidicinstraße und den roten runden Wasserturm der Kopischstraße frei. Mir fällt auf, dass unzählig viele Menschen bei geöffnetem Fenster - mit einem Kissen auf dem Fensterbrett – das Treiben auf der Straße beobachten. „Das ist eine alltägliche Szene im Stadtbild“, erläutert Ursula. „Stell Dir vor, es gab kein noch kein Fernsehen – geschweige denn Internet. Gespannt haben die Menschen das Leben auf der Straße verfolgt. In fast allen Fenstern waren Köpfe zu sehen“.

Wir setzen unsere Zeitreise in der Wohnung fort. Im Schlafzimmer sehen wir die Ehebetten der Eltern und drei kleine Kinderbetten. „Meins ist das weiße Eisengitterbett da hinten“, erklärt Ursula und zeigt mit dem Finger auf ihr Schlafgemach. Neben dem großen Salon, der nur zu bestimmten Festtagen genutzt wird, gibt es für den Alltag noch ein weiteres, kleineres Wohnzimmer. Auf dem Fensterbrett steht eine Vogelvoliere mit zwei Kanarienvögeln. Früher hatte fast jeder Kanarienvögel, erfahre ich. Was heute die Hunde sind, waren früher – als Haustiere - die gefiederten kleinen Freunde. „Stell Dir vor, was das in den Straßen - insbesondere im Sommer - für ein Gezwitscher in der Stadt war“, erinnert sich Ursula. Wir schlendern weiter durch die Wohnung und finden uns in der riesigen Küche – dem Reich der Mutter – wieder. Direkt angrenzend – da es noch keine Kühlschränke gibt – die Speisekammer. Last not least gibt es auch eine Toilette, über die eine kleine Holzleiter zum Hängeboden führt. Unter allen Zimmerdecken befindet sich in den mehr als drei Meter hohen Räumen kunstvoller Stuck und in jedem Raum steht eigens ein Kachelofen. Die Küche ziert ein großer gekachelter Herd, der mit Holz und Kohlen befeuert wird.

Ich vermisse das Badezimmer. „Das gab es damals noch nicht“, klärt Ursula auf.  „Badetag war nur einmal in der Woche. Dann wurde eine große Zinkwanne in die Küche gestellt, Wasser gekocht und in die Wanne geschüttet. Nach dem entspannenden Ritual war allerdings kein Ausruhen angesagt, denn das komplette Badewasser musste mittels Eimern wieder entsorgt werden“.

Plötzlich ertönt Musik aus dem Innenhof des Hauses. „Ach, das ist der Leierkastenmann“, ruft Ursula. „Der kommt oft vorbei. Hast Du einen Groschen? Dann wickeln wir ihn in Papier und werfen ihn runter zum Drehorgelspieler. Das machen alle Nachbarn“. Auch wir werfen einen eingewickelten Groschen nach unten. Höflich verneigt sich der Musiker, zieht seinen Hut und führt seinen Weg fort.

„Meine Mutter hatte immer viel Arbeit“, erinnert sich Ursula. Da es noch keine Waschmaschinen gab, wurde die Wäsche in einem großen Topf in der  Küche gekocht. Anschließend musste jedes Kleidungsstück auf dem Waschbrett einzeln gesäubert werden. Das erklärt auch, warum wir Kinder nicht so viel Garderobe hatten. Das Waschen war Schwerstarbeit, mühsam und langwierig. Kleidung und Leibwäsche wurde daher auch nur wöchentlich gewechselt.

„Damals gab es für Mädchen noch keine Hosen. Auch an flauschige Strumpfhosen war nicht zu denken“, klärt Ursula auf. „Meine Kleidung bestand aus einem Leibchen mit Gummibändern, an denen lange Strümpfe befestigt wurden, die immer furchtbar gekratzt haben. Da haben es die Kinder heute bedeutend besser“.

„Im Berlin der 30iger Jahre hatten die Mädchen alle geflochtene Zöpfe und – farblich  passend zum Kleid - eine große Schleife im Haar“, berichtet die Seniorin. „Ich aber hatte schon als Kind meinen eigenen Kopf und trug die Haare immer kurz“.

Ursula zeigt mir Katharina, ihre Lieblingspuppe. Überhaupt hat sie ihre Kindheit spielend mit Puppenstube und Kaufmannsladen verbracht. „Meine Kindheit in Berlin war eine wundervolle Zeit mit schönen Erinnerungen“, berichtet sie verträumt. Im Sommer ging es zum Spielen in den Viktoriapark mit seinen großen, grünen und gepflegten Rasenflächen. Dort wartete schon Onkel Arthur, um die Kreuzberger Kinderschar mit lustigen Spielen zu beschäftigen. Aber auch auf der Straße war es für uns Kinder unterhaltsam. Mit Reifen kullern, Murmeln oder dem tanzenden Kreisel konnten wir uns stundenlang beschäftigen“.

So klein und nachdenklich wie sie war, die Usta aus Kreuzberg, so groß war dennoch ihr Schalk im Nacken. „Ich habe Schabernack und Blödsinn geliebt“, verrät sie lachend. „Grimassen ziehen, Zunge zeigen, verrückt verkleiden -  ich mochte es, ein Clown zu sein“.

Auch dem Tanzen galt ihre große Leidenschaft. Die weitläufige Wohnung mit den gebohnerten Dielen bot dafür die perfekte Bühne. „Ich habe immer und überall getanzt , erzählt sie fröhlich. „Auch ohne Musik; die hatte ich im Herzen“.  Eine Bekannte, die damals am Berliner Theater beschäftigt war, wollte mich zum Ballett mitnehmen. Doch meine Bindung zur Mutter war eng und intensiv. Ich wollte nicht weg. Nur zu Hause fühlte ich mich glücklich“.  Das fröhliche und lebensbejahende Wesen hat sich Ursula bis heute bewahrt. Ich mag es, wenn sie bei ihren Erzählungen und ihrer Zeitreise herzhaft lacht. Es ist das Lachen der kleinen Usta.

„Die Sommer in Berlin waren herrlich“, erinnert sie sich. „Obwohl, manchmal war es so heiß, dass spezielle Wassersprengwagen kamen, um die Straßenoberfläche zu befeuchten. Dann haben die Straßen regelrecht gedampft“. Ein Ausflug zu Freunden in den Schrebergarten - in Berlin Laubenpieper genannt – kam dann gerade recht. Den ganzen Tag an der frischen Luft, umgeben von blühenden und duftenden Pflanzen, war ein wunderbares Erlebnis, machte aber auch mächtig müde.

Zum Picknick im Garten gab es Mutters frisch gebackenen, unschlagbar leckeren Streuselkuchen.

„Am Sonntag war es Tradition, dass die Familien in die Gartenwirtschaften gingen“,erzählt Ursula.

Dort gab es lange Tische, an denen sich die Ausflügler niederlassen konnten. Kaffee wurde nicht bestellt, sondern konnte vor Ort selbst zubereitet bzw. gebrüht werden. Höhepunkt des Sommerausfluges war wiederum Mutters selbstgebackener Kuchen. Die heißen Sommertage boten sich an, in den Zoo zu fahren oder zum Schwimmen an den Wannsee. „Da in unserer Fidicinstraße kein Baum stand, sind wir mit den Eltern regelmäßig auf den Friedhof spazieren gegangen. Dort war es ruhig, still und grün. Dieser große Friedhof mit altem Baumbestand war ja eher wie ein weitläufiger herrlicher Park und für uns – neben dem Viktoriapark - ein Naherholungsgebiet“.

„Das schönste Sommererlebnis aber – und das liebe ich heute noch – war das wunderbare Eis“,  sagt Ursula und ihre Augen leuchten „Zwischen zwei rechteckigen Waffeln wurde das Eis gereicht. Die heute gängigen Hörnchen gab es nicht“.

Ich hänge an ihren Lippen. Sie schildert ihre Kindheitsgeschichte so detailgetreu. Bilder laufen an meinem inneren Auge vorbei und ich erlebe diese mir unbekannte Zeit hautnah noch einmal mit. Das schafft kein Geschichtsbuch, kein noch so gut gemachter Kinofilm. Ich bin erstaunt, an wie viele Einzelheiten sich diese kleine Frau mit dem burschikosen Kurzhaarschnitt und der modischen Kleidung erinnern kann.

Kannst Du Dich noch an Dein Lieblingsessen erinnern? frage ich sie.  „O ja“ kommt die spontane Antwort. „Eierpfannekuchen mit Zimt und Zucker; dazu warmer Kakao – herrlich! Auch Berliner Weiße habe ich sehr gemocht“.

„Hast Du vom Nazionalsozialismus als Kind etwas mitbekommen?“, möchte ich von ihr wissen. Sie schüttelt den Kopf. „Nein, gar nichts. Auch nicht in der Schule. Bei meinen Eltern schon gar nicht, da beide nicht in der Partei waren. Lebhaft erinnern kann ich mich allerdings an jeden von Hitlers Geburtstagen am 20. April. Es war Pflicht, das Haus mit der Hakenkreuzfahne zu flaggen. Zu jeder Wohnung gehörte an der Hausfassade eine gesonderte Fahnenhalterung. Das musst Du Dir mal vorstellen! Meine Mutter, eine mutige Frau, die ihre Meinung vertreten hat und keine Ja-Sagerin war, weigerte sich, die Flagge zu hissen. Nach kurzer Haus klingelte es an der Tür und ein Parteivertreter machte sie eindringlich darauf aufmerksam, die Hakenkreuzfahne nach draußen zu hängen. Der Druck war groß; ihr blieb also gar nichts anderes übrig. Die Stadt war - alljährlich am 20. April – das reinste Fahnenmeer.“

Wir machen einen Sprung in die kalte Jahreszeit, die Ursula ebenfalls sehr gemocht hat. Wie eigentlich alles, denn sie war ein zufriedenes und bescheidenes Mädchen.

„Der Berliner Himmel war das Schönste im Winter“, sagt sie begeistert. „Noch heute sehe ich vor mir den tiefdunklen Himmel mit den leuchtenden Sternen. Meine Eltern haben mir damals den Sternenhimmel mit dem kleinen und großen Wagen gezeigt, die Milchstraße und natürlich Orion, das markanteste Sternbild am Winterhimmel. Schon als kleines Kind hat mich das unglaublich fasziniert“. Auch im Winter war der Viktoriapark ein begehrtes Ziel. Dort ist Ursula mit den Nachbarskindern Schlitten gefahren und auf einem Teich hat sie das Schlittschuhlaufen erlernt. Berührend und ergreifend aber war für sie die Weihnachtszeit. „Ach, es war eine Wonne und eine unbeschreiblich schöne Zeit“, so ihr entzückter Ausruf. Heilig Abend gab es als Weihnachtsgeschenk immer Spielzeug. In den Tagen vor dem Fest war – alle Jahre wieder – die Puppe Katharina spurlos verschwunden, um sich Heilig Abend mit neu genähter und gestrickter Kleidung wieder einzufinden. „Manchmal gab es auch neue Schachteln für den Kaufmannsladen oder eine Registrierkasse“, erinnert sie sich.

„An den Schaufensterscheiben, hinter denen die Tiere und Puppen wieder lebendig wurden, haben wir uns in der Vorweihnachtszeit die Nasen plattgedrückt. Auf dem Weihnachtsmarkt waren wir bereits mit einem roten Apfel zufrieden. Ich erinnere mich, wie glücklich ich war, wenn ich nach diesem Weihnachtsmarktausflug gemeinsam mit den Eltern den Heimweg angetreten habe. Fest an Mutters warmer Hand, den Kopf im Nacken, den Blick gen Himmel gerichtet. Und wieder habe ich die vielen Sternenbilder beobachtet. So klar über einer so großen Stadt habe ich nie mehr einen Himmel betrachten können“, erklärt sie sichtlich traurig. „1939 verdunkelte sich dann mein geliebter Himmel völlig, denn wir mussten aus Berlin wegziehen“.  Der düstere Teil deutscher Geschichte – der dann folgte -  ist ja weitreichend bekannt.

Doch wieder zurück zu schönen, lebendigen und leuchtenden Erlebnissen. Ich möchte wissen, wie das Stadtleben in Berlin damals war? Wo kauften die Menschen ein und wie? Es gab keine Online-Shops, keine Shopping-Malls und keine Öffnungszeiten rund um die Uhr.

„Einkaufen in Berlin war ein tolles Erlebnis“, berichtet Ursula. Es gab viele kleine Krämerläden.„Lass uns eintauchen in das geschäftige Treiben meiner Stadt!“ Wir setzen unsere Zeitreise fort und finden uns in der Marheinekemarkthalle im Bergmann-Kiez wieder.  Hier treffen sich Jung und Alt und es herrscht ein pulsierendes Leben. Ich staune nur noch: Butter gibt es aus einem großen Fass, Heringe ebenfalls. Überall sehe ich jede Menge Papierspitztüten, da Zucker und Mehl abgewogen werden. Marmelade gibt es aus einem großen Eimer, Gurken aus dem Fass. Quark wird in eine Schüssel gefüllt, die der Kunde selber mitbringen muss. Auch gibt es keine Putzmittel in Plastikflaschen, sondern Schmierseife, die in großen Eimern lagert. Plötzlich stupst mich Ursula an: „Siehst Du den Wiener-Würstchen-Stand mit den hohen Barhockern davor?“ Ich nicke. „“Hier gab es für uns Kinder am Rande des Einkaufes immer ein Bockwürstchen“, erzählt Ursula. „Allerdings wurde eine Wurst in kleine Stückchen aufgeteilt, denn meine Eltern mussten sparsam mit dem Geld umgehen“. Und sie berichtet weiter, dass ihr Vater als Wachtmeister bei der Polizei zwar gutes Geld verdient hat, da sie aber eine fünfköpfige Familie waren, musste der Groschen schon ein paar mal umgedreht werden.

Stolz und wertschätzend erzählt Ursula über ihren Vater, zu dem sie eine besonders innige Beziehung hatte. „Rückwirkend betrachtet, glaube ich, dass wir uns vom Wesen her sehr ähnlich waren“. Als Kind war ich auf jeden Fall stolz, wenn ich neben Papa - wie ich ihn nannte – herlief und er meine Hand hielt. Er sah so beeindruckend aus in seiner dunklen Uniform und der Tschako-Polizei-Kappe. Respektvoll wurde er von den Bürgern auf der Straße  mit „Tach auch, Herr Wachtmeester“ angesprochen.

"Weißt Du", sagt Ursula und ihre azurblauen Augen strahlen erfreut wie die eines kleinen Kindes. "Mit besonderem Ehrgefühl erinnere ich mich an meinen Vater, da er sogar ein Stück weit Geschichte schrieb, denn er war 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin offizieller polnischer Dolmetscher".

Mit der „Elektrischen“, wie die Straßenbahn in den Dreißiger-Jahren in Berlin genannt wurde, setzen wir unsere Reise fort. Ziel ist „Kaisers Kaffee“. Beim Betreten des edlen Kaffeehauses begrüßt uns wunderbarer Duft. Die Verkäuferinnen tragen weiße gestärkte Schürzen und Häubchen. Kaffee ist in der 1930iger Jahren Luxus und extrem teuer. „Mit einer goldenen Kaffeeschütte hat meine Mutter 1/8 Bohnenkaffee gekauft“, erzählt Ursula. „Abgewogen werden die Bohnen in einer Papiertüte, die sich wiederum – auf der Waage - in einem gesonderten Drahtgestell befindet. Um sparsam zu haushalten, hat ihre Mutter den Kaffeesatz zweimal aufgesetzt. Insbesondere in den Abendstunden musste der Wachmacher herhalten, da sie für die drei Mädchen bis tief in die Nacht genäht und gestrickt hat.

Mit dem duftenden Kaffee in der Handtasche ziehen wir weiter zu Schuh Leiser in die Tauentzienstraße, da Usta neue Schuhe benötigt. Dort muss sie ihre Füße in einen eigentümlichen Fußmess-Apparat – ein sogenanntes Pedoskop - halten, der die Füße röngt und somit die richtige Schuhgröße ermittelt.

Gute und passende Schuhe waren wichtig. Um das Geld für Straßenbahn und Bus zu sparen, wurden viele Wege zu Fuß zurückgelegt. „So lernten wir das Laufen und die Ausdauer“, merkt Ursula an. „Die Kindheit in Berlin war eine wunderschöne Zeit und keine erlebte Stunde werde ich vergessen. Auch wenn seit dem Wegzug so viele Jahrzehnte vergangen sind, bin ich im Tiefsten meines Herzens noch mit meiner Geburtsstadt verbunden. Jeder Berliner Dialekt ruft Erinnerungen wach“.

Wir sitzen noch immer vor dem Kamin, in dem das Feuer zusehends kleiner wird. Unser Gespräch neigt sich dem Ende entgegen. Zum Abschied möchte ich von Ursula wissen, welche Lebensweisheit sie 86 Jahre durchs Leben getragen hat.

„Das kann ick Dir nur uff Balinerisch sagen“ meint sie und lacht verschmitzt.

 "Gibt Dir das Leben eenen Knuff, dann weene keene Träne. Lach Dir nen Ast und setz Dir druff und wackle mit die Beene".

Da ist er wieder! Auch noch nach 86 Jahren: Der Schalk im Nacken.

© Ulrike Fieback/Hipburn.de

 

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