> Ursula Sabel: Das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 in Duisburg

Ursula Sabel: Das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 in Duisburg

Dieser Eintrag stammt von Ursula Sabel (*1924) aus Kenn bei Trier, 31.05.2002:

Kurz nachdem die feindlichen Truppen den Rhein vom Westen aus überschritten hatten, versuchte die deutsche Wehrmacht viele wichtige Zufahrtsstraßen und Brücken zu zerstören, so auch die Brücke über "unseren See" ganz nahe bei den Häusern. Bei der gewaltigen Detonation wurde unser Haus teilweise abgedeckt, und viele Scheiben gingen zu Bruch. Da hieß es für mich schnell zu handeln. Bevor noch die anderen Mitbürger erschienen, hatte ich schon meine Zuteilung an Dachpfannen auf dem Karren. Vom Speicher her kletterte ich auf unser Dach, und nachdem ich das System durchschaut und meine Mutter mir die Dachpfannen angereicht hatte, war der Schaden schnell behoben. Schon bald waren die deutschen Truppen geschlagen und ganz Deutschland besetzt, bis am 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht verkündet wurde. Wir hofften alle, daß die Zeiten nun besser würden, aber das dauerte noch einige Wochen oder Monate.

Lange Zeit hörten wir nichts, weder von meinem Vater noch von meinem Bruder kam Post durch. Bis zum Kriegsende war mein Bruder ja an der Ostsee auf einem Schiff im Hafen von Schwerin. Seine Ausbildung hatte er noch nicht beendet. Wie wir später erfuhren, kam er in englische Gefangenschaft und wurde in ein Lager in Schleswig-Holstein gebracht. Weil Duisburg auch englische Besatzungszone war, hat man diese Soldaten relativ früh entlassen. Die ersten Transporte kamen schon Ende Mai - Anfang Juni 1945 zurück.

Am 16. Juni, ich wollte gerade mit meiner Mutter ein wenig meinen 21. Geburtstag feiern, da stand mein Bruder unerwartet vor der Türe. Mutter war ganz schockiert über diese Überraschung,trotzdem war es ein glückliches Wiedersehen. Diesen Tag haben wir nie mehr vergessen. Es gab natürlich viel zu erzählen, aber die Hauptsache war, mein Bruder war gesund wieder daheim.

Nun gab es plötzlich nach der ersten Freude ein großes Problem: Mein Bruder hatte nichts anzuziehen, weder Wäsche noch Oberbekleidung. Alles befand sich noch - durch die Zwangsverschickung der Kinder der Höheren Schulen - in Bad Mergentheim bei seiner Pflegefamilie. Da man nichts kaufen und auch nichts schicken konnte, gab es nur eine Lösung: hinfahren! Das war, wie sich in den nächsten Tagen herausstellen sollte, leichter gesagt als getan. Mutter hatte erstaunlicherweise keinen Einwand, jedenfalls ließ sie uns beide fahren. Nun wußten wir aber, daß noch keine Personenzüge fuhren, man mußte also nach einem entsprechenden Güterzug Ausschau halten. Wir fragten uns durch und erfuhren schon bald, daß wir erst nach Altenhunden müßten, dort begänne die Strecke in Richtung Würzburg. Es wurde Abend, als wir in Altenhunden ankamen. Später sahen wir auf der Landkarte nach, es lag nördöstlich von Olpe. Das zweite Stück wird mir immer in lebhafter Erinnerung bleiben. Unser "Sitzplatz" befand sich hoch oben auf einem vollbeladenen Kohlenwagen. Neben dem Kohlenberg befand sich noch eine kleine Vertiefung, so daß wir noch ein paar Zentimeter durch die Außenwand geschützt waren. In dieser Mulde duckten wir uns gegen den Fahrtwind, und als es auch noch anfing zu regnen, zogen wir mein altes Regencape vom Fahrrad über uns. So hoch "aufgetürmt" kamen wir mit unseren Köpfen den Brücken gefährlich nahe. So fuhren wir, wie auch viele andere, als stillschweigend geduldete "blinde Passagiere" gen Süden. Nur mit vielem Nachfragen fanden wir auf einem anderen Abstellgeleise einen Zug, der wahrscheinlich weiter nach Würzburg fahren sollte.

Unser nächster Komfort - Wagen wurde ein sicher zwanzig Meter langer offener Planwagen, es gab keine Seitenwände und keine Ladung, die man als Schutz und Halt hätte nutzen können. Lediglich in der Mitte lag ein einzelner Balken quer über dem Boden, er war zum Glück befestigt. Daneben ließen wir uns nieder, in der Hoffnung, nicht heruntergeblasen zu werden. Zur Not konnte man auch nach einer einsamen Kette greifen.

Der Zug setzte sich tatsächlich nach langem Warten in Bewegung, keiner schaute nach uns. In gemächlichem Tempo und mit manchem Stop auf offener Strecke kamen wir allmählich an den Neckar. Die Landschaft war zwar wunderschön, die Bäume standen in Blüte, aber uns war gar nicht wohl: wir waren hungrig, müde, und uns war kalt. Mit ein paar Möhren ging es dann wieder besser. Inzwischen brach die Dunkelheit herein, es war uns nicht so ganz geheuer. Plötzlich sah ich eine schwankende Männergestalt über die Puffer der beiden Wagen zu uns herübersteigen. Ich bekam wirklich Angst, was könnte jetzt passieren? Aber sehr bald merkte ich, daß der Mann schreckliche Leibschmerzen haben mußte. Es war ein Ausländer, der sich nur durch Jammern und Zeichengeben verständigen konnte. Er ließ sich neben mir nieder, und ich sprach ihm Trost zu so gut ich konnte. Ich nahm seine Hand und hoffte, daß er meine Hilfsbereitschaft spüren würde. Beim nächsten Halt - zufällig war es ein normaler Bahnsteig - übergab ich ihm dem Bahnhofsvorsteher mit der Aufforderung, den Mann so schnell wie möglich in ein Krankhaus bringen zu lassen. Leider konnte ich nicht mehr für ihn tun, ich hoffte nur, daß man schnell geholfen hat. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fiel mir ein dicker Stein von der Seele.

Am anderen Morgen erreichten wir Würzburg, dort endete unsere Zugfahrt. Wie kam man nun unter diesen Verhältnissen nach Bad Mergentheim? Wir kannten uns gar nicht aus. Zum Glück hatten wir nicht viel Gepäck bei uns, mein selbst genähter, übergroßer Rucksack aus Teppichschoner-Läufern steckte in unseren leeren Koffern. Nach langem Warten und vielem Fragen machten wir dann auf offenem Kutschwagen eine herrliche Sommerfahrt bis Bad Mergentheim. Ludwig kannte sich ja hier bestens aus, und so wurden wir bald sehr freundlich von seinen Wirtsleuten empfangen und untergebracht. Die Schulfreundinnen aus alter Zeit traf er auch, und bald packten wir seine ganzen Sachen ein, die wir ja abholen wollten. Es kam eine Menge zusammen, einer alleine hätte das nicht holen können.

Aber ich ahnte zum Glück noch nicht, was mir noch bevorstand. Am Bahnhof in Würzburg fanden wir schnell einen geeigneten Güterzug Richtung Duisburg. Die Waggons waren leer, so daß schnell alles verstaut war von unserem vielen Gepäck. Mein Bruder stand noch gerade auf dem Bahnsteig, als ein aufgeregter Bahnbeamter erschien und uns verkündete, man müsse aber eine Fahrkarte haben, so ginge das nicht mehr. Nichts leichter als das, der Schalter war ja nicht weit, und ich hatte das Gepäck in Verwahr. Plötzlich, und viel schneller als erwartet, setzte sich der Zug ohne Signal zu geben in Bewegung, und ich konnte nichts mehr von meinem Unheil abwenden. Ich mußte sehen, wie ich alleine, ohne Ludwig, nach Wedau kam. Der Zug fuhr langsam und hielt oft auf freier Strecke an, jede Stunde schien eine Ewigkeit. Und was sollte ich nun tun, wenn ich menschliches Rühren verspürte? Da hatten es die Männer einfacher. Aber ich durfte ja nicht mal schnell den Zug verlassen, dann wäre mein Gepäck ohne mich davon gefahren. Also hörte ich auf den guten Rat einer Frau, die mich ermunterte, einfach die mir angebotene Blechdose zu benutzen, die Männer schauten derweil in die Landschaft hinaus. Erst hatte ich Angst mit diesen fremden Menschen in einem Waggon zusammenzusein, aber alle verhielten sich rücksichtsvoll, und man half, wo es möglich war. Auch ohne ein Dach über dem Kopf zu haben, kann man gut verreisen, - konnte man damals jedenfalls.

Am Duisburger Hauptbahnhof angelangt, hatte ich bis Wedau noch allerlei Schwierigkeiten zu bewältigen. Nachdem ich einer wenig bekannten Frau aus Wedau mein Mißgeschick erklärt und sie um die Benachrichtigung meiner Eltern gebeten hatte, machte ich mich - immer in Etappen von etwa zehn Metern - auf den Weg mit meinem Gepäck zur weit entfernt liegenden Straßenbahnhaltestelle. Einen Teil trug ich vor, stellte ihn ab, holte die andere Hälfte, ohne das erste Bündel aus den Augen zu lassen. So dauernd im Wechsel und in die Straßenbahn hinein; allerdings nur mit Protest des Schaffners. Bald stieg ich am Grunewald aus (etwa noch drei Kilometer bis Wedau), um dort meinen Vater zu erwarten. Es dauerte eine Ewigkeit. Inzwischen hatte die "Sperrstunde" begonnen (vom Abend bis zum Morgen war striktes Ausgehverbot), und ich drückte mich, um nicht entdeckt zu werden, in die Nische einer Hauswand. Wie glücklich winkte ich meinem Vater entgegen, als ich ihn mit Fahrrad und kleinem Anhänger kommen sah. Er hatte sich beeilt, mußte aber erst noch einen Anhänger in der Nachbarschaft ausleihen.

Dann erzählte ich meinem Vater unser Mißgeschick, doch zu meinem höchsten Erstaunen wußte er schon alles. Seine Antwort war für mich verblüffend: "Ludwig ist schon ein paar Stunden zu Hause, er kam mit dem ersten durchgehenden Personenzug an." Mit voll beladenem Anhänger und Fahrrad gingen wir zu Fuß heim. An diesem Abend gab es noch viel zu erzählen, ehe ich erschöpft ins Bett sank.

lo