> Werner Brähler: Ausbruch aus Posen 1945

Werner Brähler: Ausbruch aus Posen 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Brähler (*1925 ) aus Bendorf-Sayn, Februar 2010 (Homepage: www.ausmeinerzeit.de):

Ende Januar 1945 zog ich mich mit meiner Einheit nach schweren Kämpfen mit der Roten Armee ins Fort Grolman in Posen zurück. Am 30. Januar 1945 kam der Ausbruchbefehl mit der Maßgabe, in kleineren Gruppen die deutsche HKL (Hauptkampflinie) in Richtung Westen zu erreichen. Der Termin für den Ausbruch war um ca. 23.00 Uhr. Auf Befragen, wo denn die HKL sei, erklärte uns Major Reichardt, der die Befehlsgewalt inne hatte, dass er das nicht genau sagen könne, schätze aber, dass wir in kürzester Zeit deutsche Truppenverbände antreffen würden. Wir deckten uns vor allem mit Munition und Handgranaten ein und nur mit einer kleinen Menge an Notverpflegung, um nicht zu viel Gewicht mitschleppen zu müssen.

Aus dem Festungs-Fort Grolmann erfolgte unter dem Kommando von Major Reichardt ein Ausbruch mit ca. 1200 Offizieren und Soldaten in Richtung Westen zur HKL (Hauptkampflinie), ohne Kartenmaterial, ohne Funkgeräte, ohne Verpflegung, nur Gewehre und Munition, ohne zu wissen, dass die Rote Armee bereits Frankfurt an der Oder erreicht hatte.

Es war eine sternenklare, sehr kalte Winternacht, als wir im "Gänsemarsch" das Fort Grolman verließen. Von den ca. 1200 Soldaten, die an dem Ausbruch beteiligt waren, kannten wir persönlich nur die, die mit uns die letzten Tage zusammen verbracht hatten. Zu unserer großen Überraschung gelang dieser Ausbruch, ohne dass der Feind reagierte. Einige der um uns postierten russischen Feldposten waren wahrscheinlich selbst überrascht, eine so große Anzahl deutscher Soldaten zu sehen. Es fiel kein Schuss! Das änderte sich erst nach einigen Kilometern Wegstrecke. Wir gingen in NW-Richtung auf den Oborniker Forst zu, als plötzlich ein paar russische Kosaken auf Pferden unsere Verfolgung aufnahm. Sobald wir aber den Wald erreicht hatten, blieben die Russen zurück, weil offenbar ihre Chancen zu einem erfolgreichen Kampf äußerst gering waren. Sie befanden sich auf einer schneebedeckten ebnen Fläche ohne Deckungsmöglichkeit. Wir hörten dann noch Panzergeräusche, aber sie näherten sich nicht dem Waldrand an.

Die Gruppe von Soldaten, die sich um uns geschart hatte, bestand aus ca. 30 Männern, von denen ich persönlich nur wenige kannte. Wir bewegten uns im Oborniker Forst in nordwestlicher Richtung und waren bestrebt, uns von dem Gros und anderen Gruppen zu trennen, getreu der Devise: je größer die Gruppe, umso mehr Aufmerksamkeit erzielt sie beim Feind. So legten wir anfangs ein großes Tempo vor, soweit es die Schneeverhältnisse und der Wald zuließen, immer in der Hoffnung, bald auf die deutsche HKL zu treffen. Das war ein großer Irrtum, denn zu dieser Zeit, am 01. Februar 1945, war es den Russen bereits gelungen, bis zum ostwärtigen Ufer der Oder durchzustoßen. Das war immerhin eine Entfernung von ca. 140 km von Posen aus gesehen. Was wir nicht ahnen konnten, war die Tatsache, dass der Russe in seinem strategischen Konzept Posen mit seinen Hauptkräften umgangen hatte, um die Eroberung dieser Festung vornehmlich nachfolgenden Truppen zu überlassen. Das Hauptziel war die Erreichung der Oder-Linie und dann die Stoßrichtung nach Berlin.

Unser vorhandenes Kartenmaterial reichte nur bis zu einem Radius von ca. 10 km von der Stadtmitte Posen aus gesehen. Da wir über kein Funkgerät verfügten, keine Nachrichten im Radio verfolgen konnten, blieb uns nur eine Orientierung in westlicher Richtung, wo wir deutsche Truppen vermuteten. In dem großen Oborniker Forst versteckten wir uns tagsüber und nur in der Nacht marschierten wir weiter. Dieses Verhalten war eine zwingende Notwendigkeit, denn tagsüber durchkämmten russische Truppen, vornehmlich Kosaken zu Pferde, die Waldgebiete. Öfter hörten wir deutsche Rufe, aber auch russische Laute, in unseren im dichten Unterholz getarnten Ruheplätzen. Dabei war an Schlaf kaum zu denken. Bei Eis und Schnee und in der kalten Winterlandschaft musste man die Gliedmaßen häufig bewegen, damit sie nicht erfrieren. Feuer machen war lebensgefährlich, denn der aufsteigende Rauch hätte unser Versteck verraten, und uns die Russen auf den Hals geschickt. Nachts legten wir 10-15 km hinter uns, und ein paar Mal hatten wir dann Schusswechsel mit russischen Vorposten, die sich vor den von ihnen eroberten Dörfern in Erdlöchern eingegraben hatten. In den stockdunklen Nächten gingen wir immer hintereinander im Abstand von 3-5 m, damit der Kontakt und die Befehlsübermittlung innerhalb der Gruppe nicht abriss. Aber die Uneinigkeit der Gruppe über die Richtung in der wir uns nach Westen bewegten, wurde immer größer. Es bildeten sich Gruppen von 3-4 Soldaten, die in eine andere Richtung gehen wollten, weil sie glaubten, unser Weg sei der falsche.

Ein besonderes Problem stellte sich auch dadurch, dass wir in völliger Unkenntnis der tatsächlichen Frontverhältnisse uns vornehmlich nur mit Waffen und Munition versorgt hatten, aber außer der obligaten Notverpflegung keine Lebensmittelbestände mit uns führten. So mussten wir uns die notwendige Verpflegung nachts aus einzelnstehenden Häusern von der Zivilbevölkerung abverlangen oder mit Androhung von Gewalt bei polnischen Bauern nehmen. Das ging zwar ohne Blutvergießen vor sich, stellte uns aber vor weitere Probleme, die darin lagen, dass wir sicher sein konnten, nach dem Verlassen des Hauses von den Polen bei den Russen verraten zu werden, was dann häufig wieder eine Verfolgung auslöste. Immer wieder wurde uns erklärt, dass Hilfestellungen an uns von den Russen mit dem Tod durch Erschießen geahndet würden. Letztlich registrierten wir danach häufiger Schießereien mit kleinen Gruppen russischer Soldaten, die zeitlich gesehen für uns unpassend waren, und zur Folge hatte, dass wir sehr schnell unseren Aufenthalt in der betreffenden Gegend wechseln mussten. Da wir am Tage auf gute Versteckmöglichkeiten in den Waldgebieten angewiesen waren, mussten wir bei unserem weiteren Vorgehen im Gelände diesen wichtigen Gesichtspunkt nicht aus den Augen verlieren. Sobald der Morgen dämmerte, suchten wir uns in den Wäldern einen guten Platz, der auch rundum unsere Sicherheit berücksichtigte. Einen Aufenthalt in Häusern oder Scheunen mieden wir, da diese tagsüber oftmals von russischen Soldaten frequentiert wurden. Nur nachts umstellten wir einzelne Gebäude, um uns Lebensmittel zu beschaffen. Dabei konnten wir sehen, wie sich die russischen Truppen bei der Eroberung der Häuser verhalten hatten. Besonders in den Herrenhäusern und Gutshöfen die wir aufsuchten, fanden wir tote vergewaltigte Frauen, Mädchen, alte Männer und alte Frauen, die man willkürlich erschossen hatte. Der Wohnbereich war in unvorstellbarer Weise verschmutzt, mit brachialer Gewalt waren Schränke und Truhen aufgebrochen und der Inhalt lag oft verstreut auf dem Boden, Essenreste und Fäkalien ebenso, Betten und Polstermöbel waren teilweise aufgeschlitzt, Bilder abgehangen und verschwunden. Leere Wein- und Schnapsflaschen lagen verstreut im ganzen Haus. Die Häuser waren im wahrsten Sinne des Wortes "geplündert". Essenreste befanden sich auf Tellern, in Schüsseln, auf Tischen, Öfen oder waren einfach auf dem Boden ausgegossen. Es war ein Chaos sondergleichen.

Wir waren erschüttert, wie viele Menschen aus den deutschen Ostgebieten Opfer dieser grausamen Soldateska waren. Oft waren diese Häuser zum Schluss auch noch willkürlich durch Feuer zerstört. Eine unvorstellbare Angst herrschte bei der zurückgebliebenen deutschen Zivilbevölkerung. Selbst in Kinderheimen wurden die Erzieherinnen vergewaltigt. Meistens handelte es sich hier um deutsche oder polnische Ordensschwestern. Bei den Kindern handelte es sich um Waisen und um deutsche Kinder, die bei der Flucht ihre Eltern verloren hatten.

Das brutale, menschenverachtende Vorgehen der Roten Armee war sicher auch eine Quittung für das deutsche Verhalten beim Rückzug aus der Sowjetunion, die nach der Losung der "verbrannten Erde" vonstatten ging. Auch die ideologische Aufhetzung hatte ja auf beiden Seiten der Front stattgefunden, und jetzt, nach dem Überschreiten der deutschen Grenze durch die Sowjetarmee, gab es für sie keine menschliche Rücksichtnahme mehr.

In den großen Waldgebieten ostwärts der Oder begegneten uns Frauen und Mädchen, die aus den besetzten Orten sich hier nachts versteckten. Zum großen Teil wollten sie ihre Familien nicht verlassen, und hofften auf eine größere Disziplin der nachfolgenden russischen Armee-Einheiten. Wir konnten ihnen nur vorübergehend Schutz geben, weil wir weiter nach Westen zogen. Je näher wir in Richtung der Oder kamen, je dichter wurde die Anwesenheit der Russen. Sie waren schon so siegessicher, dass in den von ihnen besetzten Ortschaften die Straßenbeleuchtung nachts eingeschaltet blieb. Außerdem war die Lautstärke, die zu uns herüber schallte, ein Zeichen für exzessiven Alkoholkonsum der Eroberer.

Die Spannungen in unserer Gruppe vergrößerten sich von Tag zu Tag. Einige glaubten, dass eine andere Richtung als die gerade eingeschlagene, besser wäre. Die einen glaubten mehr nach Norden zu gehen, die anderen nach Süden. So spaltete sich unsere 30-köpfige Gruppe in mehrere Kleingruppen, die nun selbst ihr Glück versuchten, die deutsche HKL nach ihren eigenen Vorstellungen zu erreichen. Wir trennten uns also und waren dann nur noch 8 Mann. Die Witterungsverhältnisse waren überaus schlecht. Lag in den ersten Tag noch Schnee, der Boden gefroren, stellte sich nunmehr Tauwetter ein. Der Schnee verschwand, der Boden wurde schlammig, und unsere weiße Tarnkleidung verkehrte sich in der Dunkelheit ins Gegenteil. Wir wurden so zu Zielscheiben. Also drehten wir die Kleidung um, dass das weiße Fell nach Innen zeigte, und die gegerbte grau-braune Innenseite nach Außen kam, was uns größeren Sichtschutz versprach. Je näher wir in den Bereich der Oder kamen, je häufiger waren nachts Begegnungen mit anderen deutschen Soldaten, die ebenfalls versuchten, deutsche Linien zu erreichen. Jedes Mal waren unsere Nerven angespannt, und die Spannung löste sich erst auf, wenn wir sicher waren, dass wir es mit deutschen Soldaten zu tun hatten. Dabei wurden dann auch gelegentlich Informationen ausgetauscht über Wege und Ziele. In der Morgenfrühe eines Tages hatten russische Soldaten eine Waldhütte kontrolliert und dabei drei deutsche Volkssturmmänner gefangen genommen. Sie führten sie aus der Hütte und schlugen auf sie ein. Wir wurden durch ihr Geschrei aufmerksam und sahen drei russische Soldaten, die sich anschickten, die Gefangenen zu erschießen. Durch schnelles, gezieltes Feuer, erledigten wir zwei dieser Soldaten, der dritte flüchtete und entkam. Die Volkssturmmänner kamen auf uns zu und bedankten sich für die Hilfe. Einer dieser Männer, ein ca. 60 - Jähriger, ein väterlicher Typ, blieb danach eine Weile in meiner Nähe.

Seit unserem Ausbruch von Posen bewegten wir uns auf der Linie: Oborniker Forst, Obersitzkoer Forst, Wronker Forst, Crutscher Forst, dann in Richtung Schwerin-Meseritz, Forst Zielenzig, zum Drossener Stadt-Forst. Schon mehrmals sind wir nachts auf kleinere und größere Seen aufgelaufen. So auch in der Nacht vom 07. auf den 08. Februar 1945. Das Gelände war hier sumpfig und es dauerte einige Zeit, bis wir am südlichen Ende des Sees eine Umgehung fanden. Der Tag brach an, es wurde immer heller, aber es war kein dichter Wald mehr vorhanden, wo wir uns den ganzen Tag über verstecken konnten. Eine größere Scheune befand sich ostwärts des Ortes Seefeld. Wir mussten dort unterkommen, denn der Rückweg in einen geschützten Wald war wegen des Tagesanbruchs einfach nicht mehr gegeben. Als wir die Scheune erreichten, fanden wir weitere deutsche Soldaten, die hier auch Unterschlupf gefunden hatten. Die Scheune war mit Stroh und Heu gefüllt. Wir zogen zwei Wachen auf, um vor Überraschungen gefeit zu sein, und fielen sofort in einen tiefen Schlaf. Seit unserem Ausbruch aus Posen in der Nacht vom 30. zum 31. Januar hatten wir kaum 1-2 Stunden zusammenhängend geschlafen.

So gegen 7.00 Uhr morgens wurden wir durch lautes Rufen geweckt: "Alarm, die Russen kommen"! In einer breiten Schützenkette kamen bewaffnete russische Infanteristen auf die Scheune zu. In der Mitte befanden sich ein paar Zivilisten, von denen einer eine große weiße Fahne trug. Sie riefen: "Kameraden, der Krieg ist verloren, gebt auf, schießt nicht, die Russen töten euch nicht"! Wir hatten die Wahl uns zu verteidigen oder in Gefangenschaft zu gehen. Mein Abteilungskamerad Siegfried Ross schoss sich - ohne jede weitere Vorandeutung - eine Kugel in den Kopf. Er, ein Ostpreuße, war schon Mitte Oktober bestürzt, als die Rote Armee in Ostpreußen einfiel, und dort ein unvorstellbares Massaker an der Zivilbevölkerung vornahm. Seit dieser Zeit hatte er auch keine Nachricht mehr von seiner Familie. Die Frage war, sollte ich mich als Neunzehnjähriger auch erschießen? Ich nahm meine Maschinenpistole, zerlegte das Schloss und warf die Einzelteile in verschiedene Richtungen im Stroh der Scheune. Vorausgegangen war bei mir schon längere Zeit die Überlegung, dass der Fahneneid und der soldatische Gehorsam für mich persönlich dort seine Grenze hatte, wo Gewissen und Verantwortung jeden Widerstand sinnlos machen. Das traf für alle in der Scheune befindlichen Soldaten auch zu, denn bei einem Widerstand unsererseits brauchten die Russen nur ein paar Leuchtspur - Patronen auf die Scheune abzufeuern, und in minutenschnelle hätte sie lichterloh gebrannt. Ebenso wäre ein Ausbruch aus der Scheune Selbstmord gewesen, da es hier keine Deckungsmöglichkeiten im Umfeld gab.

Meine silberne Taschenuhr, ein altes Familienstück mit buntem Zifferblatt, zertrat ich, damit sie nicht in die Hände der Russen fiel. Im Nachhinein gesehen, eigentlich eine Dummheit, die keinen Wert darstellte. Wir wurden aufgefordert, mit erhobenen Händen die Scheune zu verlassen, und auf die russischen Soldaten zuzugehen. In der Scheune befanden sich ca. 20 deutsche Soldaten. Die Russen waren erstaunlich jung, lachten und riefen: "Woina kaputt"! (Der Krieg ist kaputt bzw. aus). So kam ich in die russische Gefangenschaft.

lo