> Werner Brähler: Gefangennahme durch die Sowjets 1945

Werner Brähler: Gefangennahme durch die Sowjets 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Brähler (*1925 ) aus Bendorf-Sayn, März 2010 (Homepage: www.ausmeinerzeit.de):

Anfang Februar 1945 geriet ich im Ort Seefeld, im Raume Drossen östlich von Frankfurt a. d. Oder in sowjetische Gefangenschaft. Bei der Gefangennahme musste ich meine Pelzjacke öffnen, und hier sah man, dass ich Offizier war. Sofort wurde ich einer eingehenden "Filzung" (Untersuchung auf Waffen und Wertgegenstände u.a.) unterzogen. Man nahm mir meine Kriegsauszeichnungen ab, ebenso mein Soldbuch. Es kam bei dieser Gefangennahme zu keinen Exzessen durch die Rotarmisten, sieht man einmal von den "Filzungen" ab. Niemand von uns wurde geschlagen, getreten oder brutal behandelt. Sicher, es war mir vorher schon völlig klar, dass man nicht alle in Gefangenschaft geratenen deutsche Soldaten umbringen kann, aber ich dachte dennoch auch an die vorher gezielt verbreitete Propaganda, nach denen die Russen nur aus "Untermenschen" bestanden. Es ging bei unserem ersten persönlichen Kontakten mit den Russen ganz friedlich zu.

Bei den einfachen russischen Soldaten handelte es sich durchweg um ganz junge Leute, ca. zwischen 17-20 Jahren. Einige trugen SA-, SS- oder HJ - Ehrendolche, und an ihrer Uniform neben russischen Auszeichnungen auch deutsche Orden. Fast alle hatten an ihren Armen aufgereiht erbeutete Armbanduhren. Eine solche Aufmachung hatten wir nicht erwartet. Man stelle sich einmal vor, dass deutsche Soldaten so ihre Uniform ausschmückten. Unmöglich! Wir wurden dann in das nah gelegene Dorf Seefeld geführt und sofort von einer immer größer werdenden Zahl Rotarmisten umringt. Sie waren ausgelassen, lachten, und fast alle trugen auch irgendwelche Parteiabzeichen oder andere Embleme der Nazi-Organisationen. Es war ein "wilder Haufen", der mich mehr an Landsknechte als an Soldaten erinnerte. Es dauerte eine Weile, dann wurden wir in der Hauptstraße des Ortes in ein Haus gebracht. Dort kochte uns eine deutsche Frau eine Milchsuppe, die sie mit sehr vielen Eiern versah. Das war die erste warme Mahlzeit seit einer Woche. Wir erfuhren, dass Seefeld schon eine Woche vorher von russischen Truppen eingenommen worden war.

Ein russischer Offizier erschien mit einem Dolmetscher und erkundigte sich nach unseren Dienstgraden. Als er erfuhr, dass ich Offizier sei, kam er auf mich zu, krempelte meine über die Stiefel gezogene Drillichhose hoch, um sich die Stiefel anzusehen. Er forderte mich barsch auf, sie auszuziehen und ihm zu übergeben. Ich weigerte mich erst und erklärte ihm, dass ich es sehr merkwürdig finde, wenn ein russischer Offizier die Stiefel eines deutschen Offiziers beansprucht. Hierauf bekam ich ein paar Ohrfeigen verpasst und die Androhung, dass er mich erschießen würde, wenn ich mich weiter weigerte. Die umstehenden deutschen Soldaten und einige Zivilisten rieten mir, seinem Wunsche zu entsprechen. So bekam er meine Stiefel, und ich erhielt dafür seine. Sie waren so eine Art Kosaken-Stiefel, wobei die Schäfte wie eine Ziehharmonika zusammengerafft waren. Leider waren sie auch noch zu klein. Das störte den russischen Offizier aber nicht. Er machte sich von dannen. Die Folgen dieses "Stiefelklaus" sollten mich noch viele Jahre begleiten.

Kurze Zeit darauf verließen wir das Haus, und etliche russische Soldaten begleiteten uns. Sie führten uns außerhalb des Dorfes in ein allein stehendes Haus. Hier mussten wir einzeln verschiedene Zimmer passieren, wo wir dann von den Rotarmisten intensiv nach Wertsachen, wie Uhren, Ringe, Brieftaschen, Toilettenartikel, Kamm, Spiegel, Nagelfeilen, Scheren, Orden u.a. Dingen gefilzt wurden. So "übernahm" ein Soldat mein silbernes Toiletten-Necessaire, welches mir meine Schwester geschenkt hatte. Andere Habseligkeiten hatte ich nicht mehr. Wir waren empört über solch eine Behandlung. Besonders die Verheirateten unter uns waren schockiert, dass man ihnen die Eheringe abnahm. Wie erbärmlich benahmen sich die Soldaten der Roten Armee! Wir wurden regelrecht ausgeplündert, wie es Straßenräuber in früheren Zeiten getan hatten. Besonders begehrt waren Uhren und Ringe, und man drohte uns mit Erschießen, wenn man solche Dinge nicht freiwillig hergab. Einige Leute verschluckten ihre Eheringe, um diese symbolträchtigen Andenken nicht hergeben zu müssen. Bei dieser Aktion wurden auch - je nach Laune der Soldaten - Fotos von Familienangehörigen zerrissen und auf die Erde geworfen. Füllhalter, Bleistifte, Kartentaschen, Handschuhe, Schals, ja sogar Koppelriemen wechselten ihre Besitzer.

Unter hämischem Gelächter wurden wir dann außerhalb des Hauses zusammengetrieben und mussten weiter marschieren. Nach einigen Kilometern kamen wir am Ortsrand eines Ortes in ein größeres Haus, wo die Russen eine Propaganda-Kompanie einquartiert hatten. Man trieb uns in den Keller des Hauses, wo schon andere deutsche Soldaten eingesperrt waren. Dieser Kellerraum war nicht sehr groß. Wir standen zusammengepfercht Mann an Mann und konnten uns kaum bewegen. Sitzen war hier unmöglich. Schon bei unserer Ankunft bemerkten wir ein ziemliches Gegröle, vermischt mit lauter Musik, die aus dem oberen Stockwerk des Hauses kam. Wir sahen auch Soldaten und Soldatinnen mit "glasigen" Blicken. Das Trinken bzw. das "Saufen" musste wohl bei dieser "Siegerarmee" gang und gäbe sein. Aber das hatten wir schon von vielen Zivilisten auf unserem Fluchtweg von Posen zur Oder hin gehört. Einige der hier schon länger anwesenden Gefangenen hatten seit zwei Tagen kaum etwas zu Essen erhalten. Sie erzählten uns, dass in diesem Haus für die russischen Soldaten Filme gezeigt würden, die uns deutsche Soldaten als Verbrecher, Frauen- und Kinderschänder zeigten. Ein paar neue Gefangene wurden unter Schlägen in den Keller gestoßen, und die Enge dadurch noch bedrückender. Der Alkoholspiegel der Soldaten, die vor der Kellertür standen, stieg immer höher, sie selbst wurden immer aggressiver. Viele glaubten, dass wir hier kaum heil herauskommen würden, da wir ständig von neuen russischen Soldaten im Keller belästigt und verhöhnt wurden.

Einmal öffnete sich wieder die Kellertür und ein Soldat trug eine Speiseplatte herein, auf der noch Essenreste lagen. Der Soldat, der die Platte sicherlich aus Mitleid und in guter Absicht herein reichte, war dann wohl über die Reaktion der Gefangenen überrascht. Gierig stürzten sich die an der Kellertür stehenden Gefangenen auf den Soldaten und bedrängten ihn. Rücksichtslos wurde er dabei gegen die Tür gedrückt und bekam wohl Angst vor den Aggressionen der teilweise ausgehungerten deutschen Kriegsgefangenen. Es war wie bei einer Meute von Hunden, die sich um eine Beute reißt. Jeder, der in der Nähe der Tür stand, versuchte für sich einen Happen dieser kümmerlichen Speisereste zu erhalten und dachte nur an sich. Jedenfalls war der russische Soldat über diesen Ansturm so entsetzt, dass er einen Dolch zog und auf die ihm am nächsten stehenden Gefangenen einstach und hierbei auch einen unbeteiligten Essener Mitgefangenen verletzte. Er erhielt einen Stich ins Gesicht, eine Verletzung, die unter normalen Umständen hätte genäht werden müssen. So blieb eine auffällige Narbe zurück, die ihn noch lange an diesen Keller erinnern wird.

Wir blieben hier noch zwei Tage und Nächte und hatten außer ein paar Stückchen Brot keine weitere Nahrung erhalten. Meine Füße waren durch die engen Stiefel angeschwollen und schmerzten sehr. Beim Verlassen des Kellers zog ich sie daher aus, hielt sie in den Händen, und marschierte dann barfuß in der Kolonne mit, die inzwischen auf 70 Leute angewachsen war. Wir kamen durch mehrere Dörfer, die sehr zerstört waren. In einer kleinen Ortschaft war eine deutsche Nachschub-Einheit von russischen Panzern überrascht worden. Aufgebrochene Geldkassetten lagen neben toten Pferden, die noch im Gespann mit ihren umgestürzten Wagen lagen. Von Panzern überrollte tote deutsche Soldaten lagen zerfetzt neben ihren zerstörten Lastkraftwagen. Andere tote deutsche Soldaten sahen furchtbar entstellt aus, da sie unter die Panzerketten geraten waren. Ihre Köpfe sahen wir große Mondlaternen aus, plattgewalzt und die Gesichtszüge kaum noch erkennbar. Viele Leichen lagen auf und neben der Hauptstraße. Niemand kümmerte sich um sie.

Die Zivilbevölkerung war nicht zu sehen, offensichtlich war sie vorher noch evakuiert worden. Überall im Dorf russische Soldaten, die uns neugierig betrachteten. Dabei erregte ich die Aufmerksamkeit eines Soldaten, der auf meine Stiefel deutete, die ich ja in den Händen hielt. Er verständigte sich mit einem der uns eskortierenden Wachsoldaten, nahm meine Stiefel an sich, und gab mir seine Schnürschuhe, die für mich, sofort sichtbar, viel zu klein waren. So musste ich weiter ohne passendes Schuhwerk bleiben und mich wieder an der Kolonnenspitze in die Marschkolonne einreihen. Schon von Anfang an mussten Offiziere an der Spitze dieses Zuges gehen. Es war ein Nachteil, denn wir fielen sofort auf, und bekamen von polnischen Zivilisten oder russischen Soldaten Zurufe, Anpöbelungen und oft auch Schläge. Unsere Wachposten hatten manchmal Mühe, uns vor diesen Übergriffen zu schützen. Sie waren schließlich für die übernommene Anzahl und den Transport der Gefangenen bis zum nächsten Zielort verantwortlich. Da sie aber in der Minderheit waren, konnten sie nicht alle Übergriffe auf uns verhindern.

Wir passierten mehrere kleine Dörfer, an deren Namen ich mich nicht mehr genau erinnere, da ich ja barfuss lief und mehr auf die Beschaffenheit der Straßen und Wege achtete. Dennoch sah ich überall zerstörte, geplünderte und oft auch gebrandschatzte Häuser, viele Leichen gefallener deutscher Soldaten, die man - wahrscheinlich wegen des gefrorenen Bodens - noch nicht bestattet hatte. Neben einem gefallenen Hauptmann lag seine Feldmütze. Ich verständigte mich mit dem neben mir gehenden Wachsoldaten und zeigte auf die Mütze und auf meinen bloßen Kopf. Er verstand meine Geste, gab mir einen Wink, und ich holte die Mütze, die Gott sei Dank auch passte. Dabei sah ich auch ein paar Gebirgsjägerschuhe liegen. Ich schnappte mir die Schuhe und wollte sie gleich sofort anziehen, aber das ließ der russische Wachsoldat nicht zu, weil dadurch unter Umständen zuviel Zeit verloren ging und die Marschkolonne auseinander gerissen wäre. Er forderte mich auf, unverzüglich zur Kolonne zurückzukehren und unterstrich die Forderung, indem er seine Kalaschnikow auf mich richtete. Ich band die Schuhe zusammen und legte sie über meine linke Schulter, um sie bei nächster passender Gelegenheit anzuziehen. Dazu kam es aber nicht, denn wir erreichten ein etwas abgelegenes Bauernhaus, wo wir in den Hof geführt wurden. Die Scheune diente nun als Auffanglager für uns Kriegsgefangenen.

lo