> Werner Brähler: Im Kriegsgefangenenlager in Posen 1945

Werner Brähler: Im Kriegsgefangenenlager in Posen 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Brähler (*1925 ) aus Bendorf-Sayn, März 2010 (Homepage: www.ausmeinerzeit.de):

Nach einem langen Marsch in einer Kriegsgefangenenkolonne erreichten wir am 17. Februar 1945 das Lager Dembsen in Posen. Bei unserer Ankunft in Posen waren wir über die militärische Lage in der Stadt nicht informiert, hörten aber Granatwerfer-, Geschütz- und Maschinengewehrfeuer aus der Ferne und ahnten, dass unsere Kameraden noch nicht aufgegeben hatten. Erst am 23. Februar 1945 erfolgte die Kapitulation der Festung Posen. Die Sieger feierten die Kapitulation auf ihre Art. Wir hörten die Berichte unserer im Lager eintreffenden Kameraden, die zuvor drei Tage lang durch Posen marschieren mussten, und hierbei der Wut und dem Hass polnischer Zivilisten ausgesetzt waren.

Das Lager im Ortsteil Dembsen lag im Süden der Stadt Posen. Es bestand aus einer großen Anzahl von Baracken, die bei unserer Ankunft noch nicht alle belegt waren. In den Baracken waren wir zusammengepfercht. Zwei Mann teilten sich ein Holzbett, das aber keine Matratzen hatte. Wir lagen auf blanken Holzbrettern. Der eine lag normal an der Kopfseite, der andere musste aus Platzgründen sich mit dem Kopf zur Fußseite legen. Decken gab es nicht. Ich teilte das Bett mit einem älteren deutschen Volkssturmmann. Eines Abends erlag dieser sympathische, sehr gebildete Mann, der dem Alter nach mein Vater hätte sein können, einem Herzschlag. Er hatte Landsleute in einer anderen Baracke besucht und befand sich ein paar Meter vor unserem Barackeneingang, als ihn der Tod ereilte. Ich wurde darauf erst aufmerksam, als es ziemlich laut vor unserer Baracke wurde. Daraufhin schaute ich nach draußen und sah etliche Leute um einen Toten stehen, die heftig lamentierten. Ich erkannte den Toten als meinen Bettnachbarn.

Man hatte ihm bereits seine Uniformhose ausgezogen. Es war aber nicht auszumachen, wer das getan hatte. Alle Herumstehenden schimpften über diese Leichenfledderei. Ein "Begräbniskommando" aus dem Lager holte den Toten ab. Wir hatten schon mehrfach gesehen, dass die Toten gleich in unmittelbarer Nähe des Haupttores am Lagereingang begraben wurden. Ich hatte seine Papiere an mich genommen und gab sie einem seiner Mitkameraden aus Fürstenwalde, wo er und seine Familie herkam. Als "Erbstück" hinterließ mir dieser Kamerad seinen Uniformmantel, den er in der Barackenstube zurückgelassen hatte. Der Mantel war zwar um etliche Nummern zu groß, hat mich aber dann noch viele Jahre begleitet und gewärmt.

Ein paar Tage später wurden alle Offiziere von den Mannschaften getrennt und in einem separierten Teil des Lagers untergebracht. Wir wurden dann auch in Kompanien und Bataillone eingeteilt. Ein buntes Völkergemisch war hier im Lager vertreten. Es waren Soldaten und Offiziere der mit uns verbündeten Länder. Darunter neben Rumänen, Jugoslawen, Ungarn sogar Angehörige der "Legion France", Spanier der "Blauen Division" und einige Balten. Viele der österreichischen Kameraden wollten jetzt "Austrizier" sein, die Sudendeutschen "Tschechen". Damit wollte man sich wohl von den "Deutschen" unterscheiden und zum Ausdruck bringen, dass man ja auch ein "Opfer der Nazis" war. Viele dieser Leute verbanden damit ihre Hoffnung auf eine baldige Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Aber sie hatten wohl die Russen unterschätzt, die solche Manöver schnell durchschauten.

Als Lagerführer fungierte ein ehemaliger Gefreiter aus den deutschen Ostgebieten. Er hieß Adolf Preuschoff, sprach russisch und polnisch besser als deutsch. Mit einem schweren Holzknüppel bewaffnet, durchstreifte er das geräumige Lager. Blindlings schlug er auf Gefangene ein, die ihn nicht devot gegrüßt hatten. Wir Offiziere waren ihm besonders verhasst. Er ging nie allein, scharte eine Meute Lagerpolizisten, heute würde man dazu "Bodyguards" sagen, um sich, die ihm ergeben waren und dadurch auch materiellen Nutzen hatten. Alle Abhängigkeiten müssen im Leben immer auf die eine oder andere Weise bezahlt werden. Es fiel uns auf, dass die gesamte Lageradministration von sehr fragwürdigen Typen besetzt war, die sich besonders bei der Verteilung von Lebensmitteln und guter Uniformkleidung bediente. Allein der Brottransport von der Stadtbäckerei ins Lager, wo Anfangs ca. 25-30.000 Gefangene untergebracht waren, lag in der Hand von Rumänen.

Die Brote wurden auf offenen Pferdewagen oder auch LKWs in das Lager gebracht. Was sich dann bei ihrer Ankunft in der Zone der Lagerküche abspielte, glich einem Überfall. Beim Abladen der Brote drängten sich ganze Gruppen von Gefangenen um die Fahrzeuge und versuchten Brote zu stehlen. Oben auf den Ladeflächen standen die mit Stöcken ausgerüsteten Rumänen und schlugen auf die "Diebe" ein. Nur wenn es sich um rumänische Landsleute handelte, drückten die Bewacher beide Augen zu. Oft entwickelten sich anfangs regelrechte Schlägereien, bis endlich die russische Kommandantur eingriff, und der Küchenvorplatz abgesperrt wurde. An der Zuständigkeit der Rumänen für den Brottransport änderte sich aber nichts. Die Verpflegung hier im Lager war dennoch einigermaßen konstant. Es gab täglich zwei dünne Wassersuppen und zweimal einen runden Laib polnischen Brotes, das für 15 Leute aufgeteilt werden musste.

Es gab einzelne Ausbruchsversuche aus diesem Lager, die sich meistens in der Nacht vollzogen. Sie scheiterten im Maschinengewehrfeuer der russischen Wachposten. Dabei mussten zuerst zwei, dann später drei Zäune überwunden werden, die von Scheinwerfern angestrahlt waren. Die Erfolgsaussichten einer solchen Aktion waren nicht sehr groß, auch deshalb, weil zu dieser Zeit die polnische Miliz alle Personen ohne Ausweispapiere festnahmen, sie einsperrten, oder den Russen übergaben. Wir wussten das von einigen deutschen Zivilisten, die vorher Jahrzehnte in Posen lebten, eines Tages aber in unser Lager eingeliefert und wie normale Kriegsgefangene behandelt wurden.

Täglich neu eintreffende weitere deutsche Kriegsgefangene aus den Landkreisen westlich der Oder, machten es für uns deutlich, dass der Krieg seinem Ende zuging. Es bestand keine Chance mehr, dass noch eine überraschende Wende eintrat. Das berührte uns außerordentlich. Der Zusammenbruch unserer Ideale, und die nunmehr ungewisse Zukunft, beschäftigte uns sehr. Noch schlimmer waren die Nachrichten über die Verbrechen der Nazis, von der wir hier erstmalig in größerem Umfange erfuhren. Das hatte eine furchtbare Wirkung auf uns. Die täglich neuen Informationen, die wir von der russischen Lagerleitung erfuhren, die Plakatanschläge und Fotos der deutschen Emigranten, der Antifaschisten, die seit Jahren schon für ein anderes Deutschland arbeiteten, die Mund-zu-Mund-Erzählungen älterer Kriegsgefangener, die zu berichten wussten, dass wir Deutsche - in allen von uns eroberten Ostgebieten - grausame Verbrechen an Juden, Polen, Ukrainern und Russen begangen hatten, schien uns kaum vorstellbar. Die meisten von uns hatten immer noch Zweifel, ob es sich hier um einseitige Darstellungen, also Propaganda, oder um wenige Einzelfälle gehandelt hätte?

Wir begannen uns darüber Gedanken zu machen, die Vergangenheit und die Kriegsereignisse aus einer anderen Perspektive zu sehen, Zusammenhänge neu zu begreifen. Waren die KZs wirklich so grausam? Wurden dort die Menschen tatsächlich vergast? Wurden so auch Frauen und Kinder umgebracht? War unsere militärische Führung damit überhaupt einverstanden gewesen? Wie viele haben davon gewusst? Und war die gesamte politische Führung des Reiches darüber informiert? Hatten sie alle diesem Morden zugestimmt? Von Woche zu Woche verdichteten sich diese Anschuldigungen, und wir konnten uns davor nicht mehr verschließen. Dennoch blieben Zweifel, weil wir diese Nachrichten nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen konnten. Bisher hatten wir nur immer von den Gräueltaten der Roten Armee gehört, hatten auch selber solche Beispiele gesehen. Es begannen lebhafte Diskussionen. Deutsche ohne Moral und Ethik? Wir konnten es einfach nicht fassen. Im gleichen Atemzuge fragten wir, was wohl mit uns Kriegsgefangenen in naher Zukunft geschieht?

Die Eindrücke, die wir hier in diesem ersten großen Gefangenenlager sammeln konnten, waren bedrückend. Alle politischen, moralischen Begriffe und Wertvorstellungen wandelten sich. Der Egoismus feierte Triumphe. Jeder dachte nur an sich, an die nächste Essenration, an sein Überleben. Das ist in Notzeiten wohl immer so, besonders dann, wenn der Tod reiche Beute hält. Täglich starben besonders viele ältere Männer, die noch in der Endphase des Krieges zum "Volkssturm" eingezogen wurden. Im April 1945 existierte meines Wissens weder eine Totenliste noch ein Gräberverzeichnis für die im Lager Posen - Dembsen verstorbenen Kriegsgefangenen. Eigentlich hätte dergleichen von der russischen Lagerleitung erstellt werden müssen, aber es war ja noch Krieg, und die Russen zeigten dafür kein besonderes Interesse. Von einem "Lagerführer Adolf Preuschoff" konnte man schriftliche Aufzeichnungen nicht erwarten. Er war ein Knüppel schwingender Sadist, ein Werkzeug der Russen. In diesem Zusammenhang bleibt mir auch unerfindlich, warum sich keiner der von den Russen benutzten Emigranten oder Antifaschisten sich dieser humanen Verpflichtung annahm. Sie fühlten sich doch sonst in allen Bereichen für kompetent. Für sie wäre eine solche Registrierung unserer Toten doch sehr leicht möglich gewesen. Ich nehme an, die Russen hätten dagegen keine großen Einwände erhoben.

Am 18. April 1945 wurde ich 20 Jahre alt. Dieser Geburtstag war für mich ein bis dahin absoluter Tiefpunkt in meinem Leben. Alle geglaubten, hoffnungsvollen Zukunftserwartungen waren dahin, alles bisherige Tun war vergebens. Mir ging es wie vielen anderen Kameraden auch. Konkrete Pläne für die Zukunft waren illusionär, Träume, die nichts mit der Realität zu tun hatten. Was erwartete uns? Im Kameradenkreis machten wir uns darüber Gedanken, wie töricht wir gewesen waren, dem "Führer" zu glauben und zu folgen. Dabei hätte uns eigentlich das Studium seines Buches "Mein Kampf " schon beweisen können, was für politische Ziele er und seine "Alten Kämpfer" verfolgten. Aber, wer hatte dieses Buch denn schon gelesen? Es stand auch bei mir zu Hause im Bücherschrank, ungelesen versteht sich, bis es im Dezember 1944 - mit allem Mobiliar - durch englische Brand - und Sprengbomben vernichtet wurde. Ich hätte gern meinen Eltern gesagt, dass ich noch lebe, aber das war in jener Zeit nicht möglich.

Wir wurden einen Tag später vom Dembsen-Lager in das nord-ostwärts des Forts Grolman gelegene Polizei-Lager verlegt.

lo