> Werner Brähler: Marsch in Gefangenenkolonne 1945

Werner Brähler: Marsch in Gefangenenkolonne 1945

Dieser Eintrag stammt von Werner Brähler (*1925 ) aus Bendorf-Sayn, März 2010 (Homepage: www.ausmeinerzeit.de):

Nach meiner Gefangennahme durch die Rote Armee Anfang Februar 1945 östlich von Frankfurt a.d. Oder mussten wir in Kolonne nach Posen marschieren. In Tagesmärschen von 15-20 km marschierten wir an den von uns erdachten Zielpunkten vorbei. Beim Anbruch der Dämmerung wurden wir in Gutshöfe oder einzeln stehende größere Bauerngehöfte untergebracht, die von den uns begleitenden russischen Wachsoldaten gut zu kontrollieren waren. Außer einem täglichen Stück Brot gab es keine Verpflegung, kein warmes Essen und nur ab und zu etwas Wasser, was wir uns auf einer Viehweide oder aus einem Brunnen entnehmen durften. Die Verrichtung der Notdurft war nur 1-2-mal am Tag gestattet und vollzog sich unter entwürdigenden Umständen. Die Marschkolonne musste anhalten, links oder rechts umdrehen, und bei einem Abstand von 1 1/2 m zum nächsten Mann konnte abgeprotzt werden. Als Toilettenpapier nahmen wir Gras oder Pflanzenblätter.

Schon nach 2 Tagen konnten einzelne Verwundete das Marschtempo nicht mehr mithalten und blieben am Ende der Kolonne ein paar wenige Meter zurück. Daraufhin wurden sie von russischen Soldaten, die den hinteren Abschluss kontrollierten, erschossen und in den Straßengraben geworfen. Alle Proteste von uns nützten nichts. Wir organisierten eine Selbsthilfe, indem wir die verwundeten Kameraden stützten oder zeitweilig sogar trugen. Aber viele von uns waren selber durch die Strapazen und der unzureichenden Verpflegung geschwächt und konnten auf die Dauer solche Belastungen nicht verkraften. Hinzu kam, dass wir beim Passieren von Ortschaften von anderen russischen oder polnischen Soldaten und polnischen Zivilisten belästigt, verhöhnt, geschlagen und auch von Polen mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen wurden. Einige von uns wurden dabei erheblich verletzt.

Die Bewacher wollten oder konnten diese Eingriffe nicht verhindern, weil wir manchmal regelrecht durch ein Spalier gehen mussten. Von allen Seiten kamen Schläge auf uns zu. Diese Ortschaften waren für uns ein Horror. An den Straßenrändern lagen vergewaltigte Frauen, die Röcke bis an die Brüste hochgezogen, erschossen, erschlagen oder erstochen im Dreck. Unsere Ohnmacht wurde uns nie deutlicher bewusst, als bei diesem langen Marsch. Vielleicht gerade darum wurde die Disziplin unter den Gefangenen wieder größer. Abscheu, Hass und Ekel über unsere "Sieger" gewannen vorübergehend wieder die Oberhand. Aber schon beim nächsten Lebensmittelfund, der von den Plünderern im Straßengraben geworfen war, änderte sich das wieder. Weck-Gläser mit Obstinhalt, die hier lagen, entwickelten wieder ein Chaos unter den Gefangenen. Es kam vor, dass die Wachposten blindlings schossen, und so mancher Unbeherrschte dabei verwundet wurde. Andere, die gierig sich den Inhalt eines solchen Glases während des Marsches einverleibten, bekamen einen Tag später Durchfall und mussten außerhalb der von den Wachposten tolerierten Notdurft-Pause aus der Kolonne ausscheren, blieben zurück, und wurden dann meistens erschossen.

Die russischen Wachposten hatten wohl einen Befehl, dass jeder Gefangene, der zurückbleibt, egal aus welchen Gründen, ob erschöpft, verwundet oder krank, erschossen wurde. Es gab Leute, die so apathisch waren, dass ihnen der Tod wie eine Erlösung erschien. Meistens waren ihre Kräfte bis zur totalen Erschöpfung aufgebraucht. Wenn die Beine ihren Dienst versagten, und die Helfer sie nicht mehr unterstützen konnten, weil sie selbst kraftlos wurden, dann war das baldige Ende abzusehen. Jeder versuchte sein eigenes Leben zu retten, sich mit äußerster Kraftanstrengung aufrecht zu erhalten und nicht zurück zu bleiben. Ich selber war Gott sei Dank gesund, abgehärtet und hatte bis dahin alle Strapazen ertragen können. Kein Durchfall plagte mich, weil ich außer der kargen Brotration nichts anderes zu mir genommen hatte, was meine Gesundheit gefährden konnte. Neben der physischen, hatte auch die psychische Belastung bei den Gefangenen ihre Wirkung. Der Mensch galt nichts mehr, und humanes Handeln der Russen war wohl nicht zu erwarten, jeder musste um sein Leben fürchten. Je weiter wir nach Osten kamen, umso mehr wurden wir von polnischen Soldaten und Zivilisten belästigt, die ihren Mut an uns kühlen wollten. Ich selbst bekam auch Schläge ab, konnte aber den meisten Hieben ausweichen.

Es blieb uns einfach unbegreiflich, warum Russen und Polen so hart und unmenschlich gegen uns vorgingen. Wir schrieben das einzig und allein ihrem "Rachebedürfnis" zu. Viele von uns, ich eingeschlossen, hatten keine Ahnung, dass sich dahinter viel mehr verbarg als nur unsere militärische Niederlage und Ohnmacht. Was wussten wir schon davon, was sich seit Anfang des Krieges in Polen und nachher seit 1941 in Russland alles an Scheußlichkeiten ereignet hatte? Welche Möglichkeiten hatten wir in der scharf bewachten Gefangenenkolonne gegenüber den Übergriffen überhaupt? Den Kopf hinhalten und Würde, Stolz oder Verachtung zeigen? Dabei wussten wir noch nicht, wie leicht diese unsere Haltung, die ja auch nicht alle Gefangenen zeigten, zerbrechlich war. Schon bald sollten wir hierfür ein Beispiel bekommen. Eines Morgens gab es keine Brotration für uns. Der Nachschub war ausgeblieben, dennoch wurden wir weiter zum Marschieren angetrieben. Wir hatten keine Möglichkeit zur Intervention. Wenn kein Brot angeliefert wird, konnte auch kein Brot ausgegeben werden. So gingen wir hungrig und innerlich voller Groll weiter nach Osten. Am Nachmittag kamen wir an einem großen Gutshof vorbei, wo wir in den Stallgebäuden untergebracht wurden. Wir Offiziere bekamen einen abgeteilten Schweinekoben als Schlafquartier zugewiesen.

Es stank hier fürchterlich nach Schweinemist, obwohl der Stall oberflächlich gereinigt und vom Mist befreit war. 10 Gefangene kamen in einen Koben, wo vorher vielleicht 4-5 Schweine Platz hatten. Hinlegen konnten wir uns nicht. Die ganze Nacht verbrachten wir im Stehen und an Schlaf war nicht zu denken. Am nächsten Morgen ging es wieder weiter, und noch immer bekamen wir kein Brot. Viele waren durch die Strapazen der letzten Tage gezeichnet. Sie schleppten sich nur mühsam in der Kolonne mit. Die Uniformen waren zum Teil zerrissen, viele hatten kein richtiges Schuhwerk, andere keinen Uniformmantel, etliche ohne Winterbekleidung. Oft hatte man ihnen die Fellmützen- und Jacken abgenommen. Es war ein trauriger Haufen. Einige Verwundete hatten blutdurchtränkte Verbände, die äußerlich auch schon stark verschmutzt waren. Die Gesichter waren aschgrau, und das nicht nur daher, dass wir uns seit Tagen nicht waschen konnten, sondern der Unsicherheit und Ungewissheit wegen, wie es mit uns jetzt weitergeht.

Am späten Nachmittag erreichten wir wiederum einen größeren Gutshof. Tauwetter hatte eingesetzt, und auf den schlammigen Wiesen liefen Kühe herum, die man wohl unseretwegen aus den Stallgebäuden herausgetrieben hatte. Das Gras auf den Wiesen war sicherlich als Nahrung für die Kühe kaum geeignet, war es doch erst die zweite Woche im Februar 1945. Wir hatten beim Eintreffen immer noch kein Essen bekommen und machten daher den russischen Wachposten den Vorschlag, eine oder zwei Kühe zu schlachten und das Fleisch in der Waschküche zu kochen. Überraschend stimmte man zu und verlangte von uns Offizieren, dass wir das Ganze organisieren sollten.

Es fanden sich schnell gelernte Fachkräfte, Metzger und Köche, die wir hier einwiesen. Wir gaben ihnen die Kopfzahl unserer Kolonne bekannt, damit sichergestellt wurde, dass auch jeder nachher eine Portion Brühe und etwas Fleisch erhielt. Es wurden eine oder zwei dementsprechend große Kühe ausgesucht, die dann von einem Wachposten erschossen wurden. Nach ein paar Stunden, kurz vor der Dämmerung, konnte mit der Essenausgabe, d.h. mit einer Fleischbrühe und einem kleinen Stück Fleisch begonnen werden. Da unsere gesamte Marschkolonne in der großen Scheune untergebracht war, wollten wir die Leute Gruppenweise zum Essenempfang herausrufen. Um kein großes Gedränge entstehen zu lassen, schlossen wir das große Scheunentor, um nur diejenige Gruppe herauszulassen, die wir eingeteilt hatten, danach sollte die nächste Gruppe folgen. Das ging total daneben. Als die erste Gruppe versorgt war und in die Scheune zurückkehrte, kam es zum Aufruhr. Die hungernden Gefangenen stürmten das Scheunentor, liefen direkt zu den Ausgabestellen und rissen einige Brocken Fleisch von den Tischen und brachten damit die ganze Organisation in Gefahr. Jeder dachte nur an sich und glaubte, dass er zu kurz käme oder nicht berücksichtigt würde. Die bei der Essen-Ausgabestelle stehenden zwei russischen Wachposten waren entsetzt, drohten mit ihren Kalaschnikows, und als das auch keine Wirkung zeigte schossen sie in die Menge und es gab dann einige Verletzte. Erst danach beruhigte sich die Situation.

Viele waren erschreckt und fassungslos. Einen solchen Aufstand einer Masse von hungrigen Gefangenen hatte ich noch nicht erlebt. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich den Druck der Gewalt, die eine hemmungslose, Amok laufende Menschenmasse ausüben kann. Es war ein Schock zu sehen, wie sich Menschen in Ausnahmesituationen verhalten, wenn der Hunger sie antreibt. Ich hatte so etwas nicht für möglich gehalten, da ich doch selber auch zwei Tage nichts zu essen hatte. War ich der richtige Maßstab? Sicher, auch viele andere benahmen sich diszipliniert, bewahrten Haltung und ließen sich nicht gehen. Hier erhielt ich einen praktischen Anschauungsunterricht über menschliches Verhalten, den man im zivilen Leben sicher nie bekommt. Eine Lehre war: Krawalle und Aufstände werden durch eine Minderheit initiiert, die sich dann wie ein Schneeball zur Lawine entwickeln kann.

Am 17. Februar 1945 erreichte unsere Marschkolonne die Stadt Posen. Wir wurden in ein großes Barackenlager im Ortsteil Dembsen gebracht.

lo